Bergedorf. Fundamentalistische Mutter, Gewalt, Jugendheim: Samer und Wesam El Badawi haben viel erlebt. Umso erstaunlicher ist nun ihr Werdegang.
Sie wurden von ihren Eltern vernachlässigt, tingelten von Heim zu Heim, schliefen nächtelang auf der Straße. Wie es dazu kam, dass die Zwillinge, die mit 14 Jahren getrennt wurden, in der Bergedorfer SPD landeten, ist eine erstaunliche Geschichte. Für zwei Jahre sind die 25-Jährigen nun in den Distriktvorstand von Bergedorf-Kern gewählt worden – und wollen sich kräftig engagieren: für Obdachlose und Jugendliche.
Dass Samer und Wesam El Badawi mal so ehrgeizige und freundliche junge Männer werden, war nicht unbedingt abzusehen, als sie ihre Kindheit am Osdorfer Born verbrachten. Der ägyptische Vater hatte bald die Familie verlassen. Die Mutter, deren Eltern deutsch-türkische sowie libanesische Wurzeln haben, war überfordert – und sehr mit sich selbst beschäftigt: „Sie hatte eine fundamentalistische Weltanschauung, wir durften keinem Ungläubigen die Hand geben“, erinnern sich die Zwillinge. Und: „Sie war gewalttätig bis psychopathisch.“ Grund genug also für das Jugendamt, die Kinder schützen zu wollen – allerdings gab es angeblich keinen Platz für beide zusammen.
Brüder verklagen ihre Mutter wegen Körperverletzung
Mit 14 Jahren zog Wesam zunächst zu einer Tante, wechselte dann bald in eine Jugendeinrichtung des DRK in Bramfeld. Holpriger ging es bei Samer zu, der „von Träger zu Träger tingelte“ und seine wenigen Habseligkeiten immer wieder in einem neuen Zimmer auspackte. Schließlich landete er beim Kinder- und Jugendnotdienst an der Feuerbergstraße, mal im Jesus-Center in der Schanze oder schlief eben auf der Straße. „Aber wir haben immer Kontakt gehabt und häufig telefoniert“, betonen die Brüder.
Kaum dass sie volljährig waren, verklagten sie ihre Mutter: „Wir haben sie wegen Körperverletzung, Nötigung und Freiheitsberaubung vor Gericht gezogen. Vor allem, um unseren jüngeren Bruder zu schützen, damit er eine bessere Erziehung bekommt.“ Heute sei sie zwar immer noch streng muslimisch, aber freundlicher: „Wir beobachten das sehr konsequent.“
Wegen Verwechslung: Messerstiche am Kopf erhalten
Inzwischen hatte Wesam eine Ein-Zimmer-Wohnung in Billstedt, wo er sich an eine Messerstecherei im Winter 2017 erinnert: „Ich lief gerade nach Hause und hörte über Kopfhörer das Lied ,Beautiful Day’, als mir von hinten jemand vier Messerstiche am Kopf versetzte. Der hatte mich mit meinem Bruder verwechselt, der ihn vorher wohl verprügelt hatte“, erzählt der Zwilling und zeigt seine Narben. Noch im Krankenhaus habe er fürs Abitur gelernt – und an der Stadtteilschule bestanden.
Es folgten ein sechsmonatiges Praktikum in der Klinik St. Georg und zwei Semester Deutsch und Philosophie auf Lehramt in Kiel. Schließlich aber entschied er sich für eine Ausbildung zum Kaufmann für Außenhandelsmanagement bei einem Hamburger Schiffsausrüster. „Aber damals habe ich mich schon für rechtliche Bereiche interessiert. Und dann sah ich, dass die Stadt Leute sucht“, sagt Wesam, der seit einem halben Jahr im Bergedorfer Bezirksamt arbeitet, in der Abteilung für Ausländerangelegenheiten.
Wesam El Badawi studiert neben dem Beruf noch Jura
Dokumente sortieren und Fotos einscannen: Kleine, erste Hilfen darf er nach einigen Schulungen schon machen, wenn es etwa darum geht, Aufenthaltstitel zu erstellen: „Das ist ein komplexes Thema, aber ich darf noch zweieinhalb Jahre lernen und habe sehr tolle und geduldige Kollegen“, freut sich der 25-Jährige, der gern ordentlich gekleidet ist („damit man nicht sofort meine vielen Tattoos sieht“). Dann ergänzt er noch: „Nebenberuflich studiere ich übrigens im ersten Semester Jura.“
Seit vier Jahren sind die Brüder unzertrennlich und leben in einer WG an der Kurt-A.-Körber-Chaussee. Auch Samer El Badawi hat inzwischen Fuß gefasst: Zunächst ging er freiwillig zwei Jahre zur Bundeswehr, trägt sogar das Veteranenkreuz am Revers. Danach machte er sich selbstständig als Rechtlicher Betreuer: „Ich bekomme Aufträge vom Amtsgericht, betreue gerade drei Bergedorfer und einen Geesthachter. Die sind zwischen 20 und 80 Jahre alt, psychisch oder physisch instabil“, berichtet er – und will sich vorwiegend um Obdachlose kümmern: „Die sind oft psychisch vorbelastet und nicht in der Lage, einen Kontakt zur Wohnungsnotstelle herzustellen oder beim Sozialamt einen Leistungsbezug zu beantragen.“
Zweites Semester Psychologie und ein Bubble-Tea-Café
Auch seinen Ehrgeiz kann nichts bremsen: „Ich studiere im zweiten Semester Psychologie für Rechtsberufe“, sagt Samer, der zudem sein privates Glück fand: „Über Tinder habe ich eine Architekturstudentin aus Berlin kennengelernt. Vor sieben Monaten haben wir geheiratet und betreiben zusammen ein Bubble-Tea-Café am Strand von Warnemünde.“
Und wie kommt jetzt der Kontakt zur Bergedorfer SPD zustande? „Über einen Freund lernte ich den Bürgerschaftsabgeordneten Iftikar Malik kennen, mit dem ich über den Eingabe-Ausschuss diskutiert habe. Er sagte mir, man müsse es selbst in die Hand nehmen, wenn man was ändern wolle“, erinnert sich Samer, der im Oktober 2021 in die Partei eintrat. Damals suchte der Abgeordnete zudem eine Bürokraft – und ließ sich den Zwillingsbruder empfehlen.
Sie wollen „Bergedorf zu einem schöneren Ort machen“
„Ich habe die Paragrafen erklärt und sollte etwa die Tagesordnung der Hamburgischen Bürgerschaft verständlich auf Social Media zusammenfassen“, erzählt Wesam El Badawi, der ebenfalls von der Mitgliederwerbung begeistert war: „Die war nicht aufdringlich, ich wurde mit offenen Armen empfangen.“ Inzwischen unterstützt er ein Projekt der Jusos, um die offene Kinder- und Jugendarbeit in Bergedorf zu verbessern: „Die Jugendclubs sind ein gutes Auffangbecken und helfen bei der Kriminalitätsprävention. Aber die Belange der Träger müssen in der Politik mehr Beachtung finden“, meint der 25-Jährige. Sein Blick geht nach vorn: „Ich möchte dabei helfen, Bergedorf zu einem schöneren Ort zu machen. Dafür muss man direkt vor der Tür anfangen, also in der hiesigen Sozial- und Sportpolitik.“
Einsatz für eine Tagesaufenthaltsstätte für Obdachlose
Gern mal in der Bergedorfer Bezirksversammlung würde sich auch Samer engagieren, „aber ich habe keine Ego-Ambitionen bis zum Himmel, will nicht nur diesen Status erreichen, sondern gemeinsam auch Ziele erreichen“, betont der Rechtliche Betreuer, dem eine bessere Versorgung der Obdachlosen vorschwebt, also „eine gute medizinische Versorgung und unbedingt eine Tagesaufenthaltsstätte für die Menschen“.
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Kurz nachgefragt: Warum sind es eigentlich die Sozialdemokraten geworden? Samer El Badawi findet eine schnelle Antwort: „Die FDP ist mir zu kapitalistisch, die Grünen sind surreal, die Linken zu extrem, und die CDU ist als Partei einfach zu korrupt. Da fand ich die SPD am besten, wo die Ziele klar definiert sind.“
So werden sich die beiden also sicherlich noch in viele Wortgefechte verwickeln lassen und um gute Argumente streiten. Da hilft es wohl auch, dass sich die Zwillinge dem Kampfsport verschrieben haben: Samer trainiert im Boxring, Wesam ist eine Art Ringer. „Das nennt sich Grappling, ist eine Mischung aus Wrestling, Jujutsu und Judo.“ Auf jeden Fall gibt es – wie im wahren Leben – auch hier Tritte, Würfe und gute Haltegriffe.