Bergedorf. Zur Eröffnung des Körberhauses präsentiert Starkomponist Mark Scheibe eine Uraufführung. Wie seine vertonten Biografien ankommen.

Aus dem Halbdunkel schreitet sie, tänzelt sie fast nach vorn. Die ersten Takte von „Sprudelndes Licht“, dem Song von Claudia Singer, sind schon angestimmt, und die Chanteuse genießt sichtlich den Gang in eben dieses. Und dann legt die 65-Jährige am Mikrofon los: „Ein Licht, ein Licht, ein Licht.“ Fürwahr: Es ist einer dieser vielen beeindruckenden Auftritte bei „Meine Symphonie“, dem Musikprojekt der Körber-Stiftung gemeinsam mit Top-Komponist Mark Scheibe. Der hat mit elf Freiwilligen deren Lebensgeschichte vertont – und nun auf der Bühne des neuen Körbersaals im soeben eröffneten Körberhaus uraufgeführt.

Eine Symphonie so lebhaft und abwechslungsreich wie das Leben selbst: Mal dramatisch, mal aufbrausend, mal spielerisch, mal freundlich. In einer voll ausgelasteten Spielstätte, die das atmosphärisch aber aushält – vor fast 120 geladenen Gästen (und 170 weiteren im Livestream). Mit dem 25-köpfigen Orchester „musici eremiti hamburg“ unter Dirigent Klaus-Peter Modest, der Unterstützung eines ukrainisch-koranischen Gesangsensembles und natürlich Scheibe am Klavier. Er ist es, der die Erzählungen der Teilnehmer seit Mitte September vertont hat.

Symphonisches von pensionierten Lehrern, Seelenklempnerinnen und Eisläuferinnen

Wie Claudia Singer, die ihre Momente im Körbersaal einfach nur genießt: „Ich habe mich dabei so kraftvoll gefühlt, getragen vom Orchester, und mich noch mal an einzelne Momente meines Lebens erinnert.“ Die Psychotherapeutin aus Eimsbüttel hat zwar Band-Erfahrung als Teil einer Afro-Jazz-Band, aber noch nie zuvor solo vor Publikum gesungen. Schon gar nicht über ihren einst so befreienden LSD-Trip in Asien.

Wie die meisten anderen „Meine Symphonie“-Teilnehmer auch Gesangsnovizen sind. Wer hingegen bei Rudolf Schuster, Lehrer ehemals an der Stadtteilschule Lohbrügge, zuhört, gewinnt den Eindruck, hier sei ein echtes Showtalent verloren gegangen. „Auch als Lehrer muss man sich verkaufen können“, sagt der 73-Jährige im Hosenträger-Style – und fragt swingend-charmant: „Darf ich dir die Tür aufhalten?“ Oh ja, Herr Schuster, bitte! Der Pensionär ist wie alle so begeistert vom schmucken Saal, „dass ich mir vorstellen kann, hier selbst noch mal irgendetwas aufzuführen“.

Zahlreiche Gäste sind in den Körber-Saal zur Uraufführung von „Meine Symphonie“ gekommen.
Zahlreiche Gäste sind in den Körber-Saal zur Uraufführung von „Meine Symphonie“ gekommen. © BGDZ | Jan Schubert

Viele Auftritts-Interpretation im neuen Körbersaal zu sehen

Schuster und Co stellen das „Wir-Gefühl“ in ihrer einstigen Wildfremden-Truppe heraus, das Mark Scheibe innerhalb kürzester Zeit mit ihnen entwickeln konnte. Der Komponist selbst, am Premierenabend Moderator und Musiker, benennt die Klammer für all das, was das Werk ausmacht: „Es ist eine Meisterleistung, zu leben und nicht zu scheitern.“ Und dass das nicht immer gleichförmig ablaufen könne, sei selbstverständlich und drücke sich „in unserer Symphonie“ aus, so Scheibe.

Jeder interpretiert das auf der Bühne auf seine Art. Maestro Scheibe findet, dass der „talking blues“ von Albert Borde „angemessen“ für sein Lebensthema ist. „Soll das eine Komödie sein?“, fragt der 66-Jährige immer wieder ins Auditorium hinein. Ein anderer „hätte auch locker Rundfunksprecher werden können“, lobt Rudolf Schuster einen Mitstreiter. Richard Neff (86) schafft es mit Sprechgesang und instrumentaler Begleitung, die Kriegsbilder seiner Kindheit („Mannheim brennt“) eindringlich nachzuzeichnen – bis zu jenem Tag in Salzburg, als der Klang freundlicher wird: „Mannheim brennt nicht mehr. Aber ein Mann steht in Flammen.“

Zweite Chance am 30. März 2023 im Theatersaal

Mancher, der von sich erzählt, bevorzugt lieber den Platz im Verborgenen – zumindest zunächst: Isabel Kaestner-Bollweg (58), Designerin aus Rahlstedt, lässt ihre sehr sinnlichen „Briefe sind wie Esspapier“ von Profisänger Yohan Kim singen und beglückt später in ihrem 1920er-Jahre-Outfit mit vergnügten Tanzschritten. Julia Novik (24) verzückt bei ihrer Nummer „Eins mit dem Eis“ ebenfalls mit einem Tänzchen – als ob die Eiskunstläuferin auf Schlittschuhen durch den Körbersaal gleiten würde: „Die Kälte ist meine Freundin“, titelt sie – und begleicht alte Rechnungen symphonisch-klug: „Wo ich gleite, rutscht ihr aus.“

Die Stücke der Symphonie sind mindestens viereinhalb, manchmal aber auch zwölf Minuten lang. Genau nach dem Geschmack des Komponisten: „Ich hab’ keine Lust auf Smalltalk-Musik, das ist eben eine Symphonie. Wer hierher kommt, der hat die Hosen runtergelassen.“ Oder auch die Sau rausgelassen. Mark Scheibe ist voll des Lobes für den Abend. Für seine Interpreten, für den Spielort, für das gemeinsame Werk. Gern mehr davon am 30. März 2023 bei der zweiten Vorstellung im Lichtwarktheater, die vermutlich mit vier bis fünf weiteren Symphonieteilen aufwarten wird.