Hamburg. RAF, Drogen, ein besonderer Urlaubsflirt: Bei “Meine Symphonie“ wird ein prägendes Erlebnis zu einem Bühnenspektakel.
Plötzlich weht ein Hauch von Berlin durch Bergedorf. Eine zierliche Dame, ganz in Schwarz – Smoking, Boa, Federschmuck auf dem Kopf – verströmt das Flair der 1920er-Jahre. Sie wartet auf ihren Einsatz, bei der Probe im Haus im Park. Als das Orchester hinter ihr einsetzt, mit Trompete und Schlagzeug, und einen Charleston groovt, fängt sie an zu tanzen, ein mondänes Lächeln im Gesicht. „Diese Rolle, in die ich da schlüpfe – das ist eine Frau, die die große Geste liebt“, sagt Isabel Kaestner-Bollweg. „Das steckt latent in mir, und das will ab und zu einfach raus!“
Kaestner-Bollweg, im richtigen Leben Diplom-Designerin aus Rahlstedt, findet hier eine Bühne für ihre theatrale Ader. Die Musik, zu der sie tanzt, hat der Komponist Mark Scheibe geschrieben – inspiriert von ihrer eigenen Geschichte. „Das beruht darauf, dass ich im Keller einen alten Koffer wiederentdeckt habe, 20 Jahre lag der da. Als ich ihn geöffnet habe, habe ich Briefe aus meiner Jugendzeit gefunden, von Schulkameradinnen oder auch von einem Urlaubsflirt. Von diesen Briefen, in denen es viel um Gefühle geht, zehre ich jetzt auch noch!“
Hamburger erzählen ihre Geschichte
Hamburgerinnen und Hamburger erzählen eine Geschichte, die sie besonders geprägt hat – und dafür sucht Scheibe zusammen mit ihnen einen passenden musikalischen und textlichen Ton: Das ist das Konzept des Projekts „Meine Symphonie“, das Menschen aus verschiedenen Altersgruppen in einer künstlerischen Gemeinschaftsproduktion zusammenbringt.
Die Idee stammt von Bahar Roshanai, Programmmanagerin der Körber-Stiftung, und wird heute Abend mit der Uraufführung realisiert – am dritten Tag der Eröffnungswoche für das neue KörberHaus in Bergedorf. „Das Motto des neuen Hauses heißt: Mitten im Herzen Bergedorfs treffen sich Kulturen und Generationen. Und das setzen wir mit dem Projekt um.“
Der Tag an dem die RAF Hanns Martin Schleyer entführte
Zwölf Teilnehmende hat Roshanai aus den Bewerbungen ausgewählt, sie sind zwischen 24 und 86 Jahren alt und haben sich bei einem Treffen im Vorfeld von besonderen Begegnungen aus ihrem Leben erzählt. Ein berührender Moment, betont der 66-jährige Diplompädagoge Albert Borde aus Eimsbüttel: „Jeder, der in diesem Kreis saß, hat etwas Persönliches von sich preisgegeben. Da sind auch Tränen geflossen. Und es war trotzdem nicht schwierig.“
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Bordes Beitrag zu „Meine Symphonie“ schildert eine krasse Situation aus seiner Studienzeit. „Als ich nachts zu einem Praktikum in der Psychiatrie gefahren bin, werde ich von einem Sondereinsatzkommando mit Maschinenpistolen umstellt. Erst nachher erfahre ich, dass das die Nacht war, in der Hanns Martin Schleyer von der RAF entführt wurde.“
Ein LSD-Trip aus der Jugend
Borde spricht den Text seines Stücks „Life is a movie“ zu einer Musik, in der seine Vorliebe für Swing anklingt. Für Bordes Frau, die Psychotherapeutin Claudia Singer, hat Mark Scheibe dagegen einen Song im Stil der „Dreigroschenoper“ geschrieben. „Da geht es um einen LSD-Trip aus meiner Jugend“, erklärt Singer. „Der hat mich in einer Zeit, in der es mir sehr schlecht ging, mit etwas verbunden, mit Farben, mit Formen, mit der ganzen Welt. Und das hat mir damals viel Hoffnung gegeben.“
„Meine Symphonie“ vertont kleine, aber wichtige Ausschnitte aus den Biografien der Teilnehmenden. Manche hatten vorher noch gar keine praktischen Erfahrungen mit Musik, wie der pensionierte Logistiker Richard Neff, dessen Stück „Mannheim brennt“ von Bombenangriffen am Ende des Zweiten Weltkriegs berichtet.
Musikalische Laien und Profis arbeiten zusammen
Es sind aber auch musikalische Profis dabei. Darunter Anastasiia Shevchuk, eine ukrainische Mezzosopranistin, die seit 2017 in Hamburg lebt. Ihr Beitrag heißt „Tschaikowsky tötet nicht“ und nimmt Bezug auf den aktuellen Umgang mit der russischen Musik: „Für mich gehören Werke von Künstlern wie Tschaikowsky, Schostakowitsch oder Strawinsky zur Weltkultur. Sie gehören nicht nur einem Land. Ein Mensch – ich werde seinen Namen nicht sagen – kann diese Kultur nicht kaputt machen. Er hat damit nichts zu tun.“
Die Begegnung von verschiedenen Ansichten, Nationalitäten und Generationen spiegelt sich auch im Orchester. Das Ensemble „musici emeriti“ – besetzt mit ehemaligen Mitgliedern aus dem Philharmonischen Staatsorchester, dem NDR Elbphilharmonie Orchester und den Symphonikern Hamburg – wird von jungen, schutzsuchenden Musikerinnen und Musikern aus der Ukraine verstärkt.
Ein besonderer Zusammenhalt
Unter der straffen Leitung von Klaus-Peter Modest und in ständigem Austausch mit dem Komponisten Mark Scheibe am Klavier, findet die bunt gemischte Gruppe allmählich zueinander. Eine gewisse Nervosität und ein paar Spannungen sind bei den Proben schon zu spüren. Aber das gehört dazu. Erst recht, wenn gestandene Profis auf Menschen treffen, die vor ihrem ersten Auftritt stehen.
Unabhängig davon und vom Gelingen der Uraufführung, habe sich der Aufwand – es gab sieben Workshop-Wochenenden im Vorfeld – auf jeden Fall gelohnt, sagt die Initiatorin Bahar Roshanai. „Wir sind in dieser Zeit sehr zusammengewachsen. Und der Umgang zwischen allen Beteiligten war von Anfang an sehr liebe- und respektvoll. Diese menschliche Wärme zu erleben, ist eine kostbare Erfahrung. Das hat mir viel Mut gegeben, gerade in diesen schwierigen Zeiten.“
Die Uraufführung von „Meine Symphonie“ am 7.12. im KörberHaus ist ausverkauft. Die zweite Aufführung ist am 30.3. im neuen LichtwarkTheater im Bergedorfer KörberHaus