Hamburg. Svetlana Hansen aus Bergedorf bangt um ihre Familie in der Ukraine. Ihre Schwester, die in Moskau lebt, schweigt.
Sorgenvoll schaut Svetlana Hansen auf den Kalender, nur zwölf Striche bleiben noch: „Meine Mutter sagt, sie habe noch Lebensmittel für zwei Wochen. Wenn die Nachbarn weiterhin für sie Brot backen.“ Trotz eigenem Auto sei es am ersten Kriegstag schon zu spät gewesen für die moldawische Grenze, plötzlich waren sie eingekesselt, hatten keine Chance zu fliehen: Die 72-jährige Tamara schaffte es nicht mehr raus aus der Seehafenstadt Cherson: Überall stehen Panzer und Soldaten. Und so ist sie mit ihrem Sohn (36) gefangen in der Drei-Zimmer-Wohnung, deren Fenster sie mit Klebeband gesichert hat, damit die Scheiben nicht platzen, wenn mal wieder Fliegeralarm ist. Dann rennen die beiden in die nah gelegene Schule, da gibt es einen Schutzbunker.
Ukraine-Krieg: Regale in den Läden in Cherson sind komplett leer
„Wir telefonieren zwar jeden Tag über Whatsapp, aber ich kann meiner Familie nicht helfen. Selbst wenn ich Geld über die Bank schicken würde, lässt sich nichts damit anfangen, denn die Regale in den Läden sind komplett leer“, sagt Svetlana Hansen. Entsprechende Fotos schickte ihr Bruder Maxim: „Er ist leider krank, deshalb wurde er damals vom Militär befreit.“
Sie selbst kam vor 22 Jahren als Au-pair-Mädchen nach Norddeutschland, heiratete einen Deutschen und lebt inzwischen alleinerziehend mit Sohn Max. Der 17-Jährige telefoniert täglich mit seinen Großeltern und geht auf Hamburger Demonstrationen – ansonsten bleiben nur Hilflosigkeit und dieser psychische Druck.
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Svetlana Hansen leidet mit ihrem Vater, der vor Schmerzen schreit
„Ich war auch eine Woche lang krankgeschrieben“, erzählt Svetlana Hansen, die noch in ihrer Heimat Wirtschaft und Recht studierte, seit zehn Jahren bei der Geesthachter Sensient GmbH arbeitet: „Wir haben etwa 140 Mitarbeiter und vertreiben Farbstoffe für Lebensmittel und Pharma, aber auch Flavours. In die Ukraine wird jetzt nichts mehr geliefert. Aber ich bin noch im Service für die baltischen Länder und für Russland, wo globale Kunden wie Mars und Nestlé sitzen“, berichtet die 45-Jährige.
Als erstes hätten die russischen Soldaten in ihrer Heimatstadt den Flughafen, das Wasserwerk und den Fernsehturm eingenommen, zudem die Brücke gesprengt: „In einem Dorf auf der anderen Seite des Flusses, nun von der Außenwelt abgeriegelt, wohnt mein 74-jähriger Vater Pavel mit seiner neuen Frau. Die hat Magenkrebs, schreit nächtelang vor Schmerzen und bekommt jetzt keine Medikamente mehr, weil die Apotheken leer sind“, sorgt sich die Familie vor einem baldigen Tod.
Ehemalige Mitschüler demonstrieren fast jeden Tag, bilden Hilfsketten
„Papa, du musst nicht alleine bleiben. Wenn es schlimm wird, hole ich dich irgendwie raus“, verspricht Svetlana, die doch weiß, dass es nicht allein die gut 2000 Kilometer sind, die sie trennen: „Die Ukraine braucht mehr Kampflugzeuge und Waffen. Das hat die Nato doch versprochen. Immerhin verteidigen die da ganz Europa, damit es nicht zu einem Dritten Weltkrieg kommt. Aber in Cherson hat die ukrainische Regierung keine Waffen ausgegeben, meine ehemaligen Mitschüler vom Gymnasium können nicht mal kämpfen“, meint die Frau und erfuhr über Facebook, dass die Schulkameraden Hilfsketten bilden, um alte Leute mit Lebensmitteln zu versorgen. „Und sie demonstrieren fast jeden Tag. Mehr können sie nicht tun.“
Die ältere Schwester lebt in Moskau, glaubt dem russischen Staatsfernsehen
Das Schlimmste aber für Svetlana Hansen ist, dass ihre ältere Schwester sie seit Kriegsbeginn in den sozialen Medien geblockt hat: „Oxana hat in Moskau studiert und unterrichtet jetzt Mathe und Physik an einer staatlichen Schule. Sie spricht nicht von Krieg, sondern steht zu Putin und denkt, dass seine Truppen in zwei Wochen schon in Berlin stehen könnten. Das fühlt sich schrecklich an, wie eine Verräterin in der eigenen Familie“, sagt Svetlana Hansen und versucht, die Tränen in ihren Augen zurückzuhalten: „Oxana guckt nur das russische Staatsfernsehen und will mir nicht glauben, dass die russischen Soldaten in unserer alten Heimat prügeln, plündern, vergewaltigen und die Haustüren kaputtmachen. Sie sind unglaublich brutal und lassen nicht die 20 Lastwagen mit den Hilfsgütern in die Stadt. Sie weigern sich, mit dem Bürgermeister zu verhandeln – es sei denn, er unterschreibt, dass die Stadt jetzt zur Republik Russland gehöre.“
Das Gästebett bleibt frei, bis die Eltern flüchten können
Die 45-Jährige kann kaum schlafen, betet jeden Tag: „Es kann doch nicht sein, dass keine Hilfe reinkommt, es keine Lösung gibt“, meint Svetlana Hansen, die sich längst der Stadt Geesthacht als Dolmetscherin angeboten hat – und ein Bett frei hält, falls ihre Eltern flüchten könnten.
Ihr zur Seite steht der Spätaussiedler Alexander Schubert, der in Kasachstan aufgewachsen ist, in dessen E-Bike-Laden sie gearbeitet hat, der jetzt am Lehfeld in Bergedorf drei Prozent für jedes verkaufte Fahrrad an die Ukraine-Hilfe spendet: „Zu Hause in Curslack haben wir ein Zimmer gestrichen und ein Bett gekauft. Wir erwarten die Cousine eines Bekannten, die an der polnischen Grenze ist“, sagt der 51-Jährige – und ärgert sich: „Hier in Bergedorf gibt es viele Russen, die nur das Staatsfernsehen gucken und alle Propaganda glauben. In Deutschland wurde nur ein winziger russischer Sender gesperrt.“ Er will nicht Partei ergreifen, aber „kein Land darf im 21. Jahrhundert ein anderes attackieren, wir sind doch eine zivilisierte Menschheit“, meint der Mann, der als 18-Jähriger beim Militär in der UdSSR war: „Wir haben uns damals gefühlt wie kleine, russische Marionetten.“
Die hilflose Lage ist schwer zu ertragen, ebenso die Fernseh-Bilder
Svetlana Hansen hat Angst davor, dass es keine Kontrolle mehr gibt: „Jetzt ist angeblich sogar eine Drohne in Zagreb gelandet, weil sie im Navi falsch programmiert wurde, eine ukrainische Stadt so ähnlich heißt.“ Sie sorgt sich auch um die polnische Grenze: „Die Polen helfen ganz toll, ohne Ende. Aber auch die Schießereien an der polnischen Grenze könnten eskalieren.“
Vor allem aber sei die hilflose Lage schwer zu ertragen, die wenigen Striche im Kalender: „Es ist psychisch schwer für mich. Denn es gibt keine Entwicklung. Wie lange dauert das noch?“ Die Fernseh-Bilder kann sie kaum noch ertragen: „Die Russen lassen sogar die Leichen ihrer jungen Soldaten, die die Ukrainer in Plastikbeuteln an die Grenze transportieren, liegen. Die werden einfach nicht abgeholt. Und die Eltern wissen nicht, wo ihre Kinder sind“, sagt die Mutter – und ist so unendlich froh, dass ihr Sohn Max lebt, hier in Deutschland.