Tangstedt. Svitlana Viala ist mit ihren beiden Kindern nach Tangstedt gekommen. Im Abendblatt berichtet sie von ihrer Flucht.

Kopfschütteln, immer wieder Kopfschütteln. Wenn Svitlana Viala (42) ihre Geschichte erzählt, kann sie selbst manchmal nicht glauben, was sie sagt. Dass das alles wirklich passiert ist. Ihr passiert ist, und ihren Kindern. Dass sie es nicht in den Nachrichten gesehen, sondern erlebt hat. Nicht irgendwo auf der Welt, sondern in ihrer Heimat. Oder dort, wo bis vor zehn Tagen ihre Heimat war. In der Ukraine, in Kiew. Bis zum 4. März, als Svitlana Viala mit ihren Kindern Diana und Volodymyr vor der russischen Armee fliehen mussten. „Als wir morgens Schüsse gehört haben, hat mein Mann gesagt, dass wir Kiew verlassen müssen“, sagt Svitlana.

Ukraine-Krieg: Geflüchtete kommen in Tanstedter Mühle unter

Sie steht vor der Tangstedter Mühle. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint. Es sei bizarr, jetzt hier in der heilen Welt zu sein, während nur ein paar Hundert Kilometer entfernt ihre einst heile Welt zerstört werde, auseinanderbreche. In Schutt und Asche liege.

Hier und dort. Tangstedt und Kiew. Hier das kleine Dorf, die heile Welt. Dort die Hauptstadt, der Krieg. Es ist schwer für die Flüchtlinge, die beiden Extreme in Einklang zu bringen. Hier zu leben – aber mit dem Herzen dort zu sein. Hier mit Lebensmitteln, Anziehsachen und Hygieneartikel versorgt zu werden – während Angehörige dort Schnee schmelzen müssen, um etwas zu Trinken zu haben. Hier und Dort. Zwei Welten.

Die Helfer haben sich darauf geeinigt, nicht mehr von den Flüchtlingen zu sprechen, sondern von den Bewohnern. Sie möchten nicht, dass die Ukrainer sich wie Flüchtlinge fühlen, sondern wie Menschen. Die akzeptiert und willkommen sind.

Ukraine-Krieg: Zwölf Stunden Zugfahrt von Kiew nach Lviv

In der Ukraine hat Svitlana Viala (42) als Zahnärztin gearbeitet. Dann wurde Kiew angegriffen und sie musste mit ihren Kindern Diana (8, l.) und Volodymyr (12) fliehen.
In der Ukraine hat Svitlana Viala (42) als Zahnärztin gearbeitet. Dann wurde Kiew angegriffen und sie musste mit ihren Kindern Diana (8, l.) und Volodymyr (12) fliehen. © Miriam Opresnik | Miriam Opresnik

Wenn Svitlana Viala von der Flucht erzählt, spricht sie in Bruchstücken. Klamotten, die sie eilig eingepackt haben. Schüsse auf dem Weg zum Bahnhof. Die Bahn, die sie von Kiew nach Lviv genommen haben. Kein richtiger Zug, nur eine Bahn. So voll, dass sie fast nicht hineingepasst hätten. Ihr Mann musste sie von hinten reinpressen, sonst wäre sie wieder rausgefallen. Als sich die Türen schließen, sieht sie ihren Mann zum letzten Mal. Er muss in Kiew bleiben, Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen.

Die Zugfahrt dauert zwölf Stunden. Zwölf Stunden ohne Essen, ohne Trinken, ohne eine Toilette. Nicht alle können das so aushalten, es gibt Menschen, die in den Zug urinieren. Im Zug ist es so eng, dass Svitlana Angst hat, dass ihre Kinder erdrückt werden. Sie stellt sich vor sie und stützt sich mit den Armen an der Zugwand ab, um sie zu beschützen. „Am schlimmsten war es nachts, in der Dunkelheit“, sagt Svitlana. Im Zug ist es stockdunkel, es gibt kein Licht, Handys müssen ausbleiben. So soll verhindert werden, dass der Zug zu sehen ist – und beschossen wird.

Die Bilder haben sich in die Erinnerung gebrannt. Die Bilder von ihren zitternden Kindern, am Bahnhof von Lviv, als sie nicht wissen, wo sie hinsollen. Bilder von einem weißen Bus, der plötzlich vor ihnen anhält und sie mitnimmt. Bilder von einer Sporthalle voller Feldbetten in Krakau – und von einem Bus nach Tangstedt. Nie zuvor hat sie von diesem Ort gehört, irgendwo in Deutschland, bei Hamburg. Als sie in Krakau von einem privaten Hilfsprojekt erfährt, das Flüchtlinge in ein Hotel nach Tangstedt bringt, glaubt sie nicht, dass es dort noch freie Plätze gibt. Dann sagt jemand in letzter Sekunde ab, und sie und ihre Kinder können mitfahren. „Das war wie ein Wunder“, sagt Svitlana.

Ukraine-Krieg: Freiwillige kümmern sich um die Neuankömmlinge

Sie ist Zahnärztin. Früher hat sie in einer staatlichen Klinik gearbeitet, am 1. Juni sollte sie ihren Doktortitel verliehen bekommen. Wenn sie darüber spricht, klingt das wie aus einer fernen Zeit, längst vergangen. Unvorstellbar, dass es jemals wieder so sein wird. „Mein Mann sagt jeden Tag, dass es im Moment unmöglich ist, jetzt zurückzugehen“, sagt Svitlana. Natürlich möchte sie zurück, irgendwann, wenn es sicherer ist. „Die Ukraine ist meine Heimat.“

Julia übersetzt die Worte von Svitlana. Die 32-Jährige ist eine von vielen Freiwilligen, die sich nach einem Aufruf in den sozialen Medien gemeldet hat, um beim Übersetzen zu helfen. „Ich wollte einfach etwas tun“, sagt Julia. Sie lebt seit 2014 in Deutschland, doch sie kommt aus Russland. Sie geht offen damit um. „Ich könnte verstehen, wenn die Bewohner wegen meiner Herkunft nichts mit mir zu tun haben möchten“, sagt Julia. Doch bisher gab es noch niemanden, der sie deswegen abgelehnt hat. Im Gegenteil: „Die Dankbarkeit der Menschen ist unfassbar“, sagt Julia. Sie spricht russisch mit den Flüchtlingen, Ukrainisch und Russisch ähneln sich. „Viele sprechen untereinander auch russisch miteinander“, sagt Julia.

Ukraine-Krieg: Kinder und Eltern auf andere Gedanken bringen

Sie hat noch Familie und Freund in Russland und erlebt, wie der Krieg die Menschen entzweit. Wie unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen, Freundschaften daran zu zerbrechen drohen. Auch in ihrem direkten Umfeld. „Wenn ich höre, dass jemand den Krieg befürwortet, muss ich einfach meine Meinung sagen. Auch wenn das dann zu Streit führt“, sagt Julia.

Die Schule kann beginnen: Helfer haben Ranzen für die Kinder gepackt.
Die Schule kann beginnen: Helfer haben Ranzen für die Kinder gepackt. © Miriam Opresnik | Miriam Opresnik

Sie hat einige Freunde, die das Vorgehen von Putin unterstützen, gutheißen. Nicht nur in Russland, auch hier in Deutschland. Das sei besonders schwer zu verstehen, findet Julia. Sie möchte, dass nur ihr Vornahme geschrieben wird – aus Angst um ihre Familie in Russland. Sie hat gehört, wie Freunde dort bedroht werden, weil sie ihre Meinung gesagt haben. Wie groß die Angst bei den Menschen ist, verhaftet zu werden und „weiß Gott wie bestraft zu werden“. Sie hat ein paar Semester Jura studiert, musste das Studium aus privaten Gründen dann aber abbrechen. Heute ist sie Krankenschwester.

Sie war am ersten Tag als Übersetzerin eingeteilt, als die Frauen und Kinder in der Ukraine eingetroffen sind. Gerade mal eine Woche ist das jetzt her, doch Julia meint, dass sich die Menschen schon jetzt verändert haben, vor allem die Kinder. „Am ersten Abend saßen die meisten von ihnen total verschüchtert und teilnahmenslos im Speisesaal – und heute?“, sagt Julia und deutet auf den Parkplatz vor der Tangstedter Mühle. Helfer haben für die Kinder Bobby Cars, Dreiräder, Roller und Fahrräder organisiert. Lachend kurven die Kinder umeinander herum. Als ein paar Jungs aus dem Dorf vorbeifahren, winken sie. Kommt her, soll es heißen, spielt mit.

Julia ist glücklich. Am Mittwoch will sie mit ein paar Frauen zusammen kochen. Typische Borschtsch-Suppe. Das Motto: Make Borschtsch, not War.