Hamburg. Die neue Entwicklung hat nicht nur mit Nähe zu Dänemark zu tun. Auch der Hamburger Senat machte Fehler. Eine Bestandsaufnahme.
Das Corona-Musterländle liegt an der Elbe – zumindest schien es lange so. Ganz Deutschland stemmt sich seit beinahe zwei Jahren gegen die Pandemie, seit zwölf Monaten mit einer Impfkampagne, die ihresgleichen sucht. Hamburg mit Laborarzt Peter Tschentscher (SPD) an der politischen Spitze gilt dabei mit seinem „Team Vorsicht“ als Speerspitze der Covid-Bekämpfer. Soweit das Klischee. In den vergangenen Wochen hat dieses Bild Risse bekommen – tiefe, breite Risse.
Das Boostern in Hamburg begann spät. Bei den Impfdaten mussten peinliche Fehler eingestanden werden. Den Schulen wurden Schnelltests bestellt, die tausendfach falschen Alarm auslösten. Die Kontaktnachverfolgung wurde faktisch aufgegeben – selbst bei der neuen Omikron-Variante, deren Ausbreitung man doch bremsen wollte, um mehr Zeit zum Boostern zu bekommen. Am Hauptbahnhof wurde ein Impfzentrum genehmigt und dann geschlossen, das von einer Briefkastenfirma und einem bekanntermaßen dubiosen Arzt betrieben wurde. Die Zahl der Neuinfektionen und Inzidenzen steigen rasant.
Corona: Hamburg hat Probleme mit Omikron-Welle
Mit Omikron wird Hamburg kaum fertig. Tschentscher rechtfertigt sich: Das liege an der Nähe zu Dänemark. Aber die Zweifel wachsen, dass dies die einzige Ursache ist. Währenddessen sorgen die ab dem heutigen Montag geltenden 2G-plus-Regeln teilweise für Verwirrung. Das Abendblatt hat sich auf eine Spurensuche nach möglichen Gründen für den Kontrollverlust begeben.
Kaum war das Impfzentrum in den Messehallen am 31. August geschlossen, stand die Booster-Kampagne auf der politischen Agenda. Bis diese aber in Hamburg Fahrt aufnahm, dauerte es Monate. Das lag vor allem daran, dass sich der Senat sehr streng an den zurückhaltenden Kurs der Ständigen Impfkommission (Stiko) hielt, bevor diese vor Jahresende ihre Empfehlungen schließlich in schneller Folge ausweitete. Dann wurde allerdings der begehrte Impfstoff von Biontech schon wieder zur Mangelware.
Hamburg: Corona-Impfzentrum und Booster-Kampagne
Besonders bitter: Bei städtischen Impfangeboten wurden in Hamburg sogar ehemalige Krebspatienten abgewiesen, die wenige Tage vor Ablauf der Sechsmonatsfrist kamen. Andere Bundesländer hatten nach Expertenrat schon unbürokratischer zu boostern begonnen. Die Sechsmonatsfrist wurde dort aufgeweicht, Motto: besser boostern als brav den Regeln gehorchen, die ohnehin geändert werden. Was dann ja auch geschah. Folge: Hamburg ist in der Impftabelle oben, im Booster-Ranking weit unten. Das rächt sich bei Omikron. Denn gegen die Ansteckung mit dieser Variante hilft nur Boostern. Und dafür braucht es eine intakte Infrastruktur.
Hat der Senat unterschätzt, dass Ärzte und Krankenhäuser die Booster-impfung ohne Impfzentrum nicht auf Knopfdruck organisieren können? Haben sich die Ärzte zu viel zugetraut? Fest steht, dass sich der Senat auch mit seiner Prinzipientreue wie bei der ersten Impfkampagne in eine schwierige Lage manövriert hat. Hinzukamen handwerkliche Fehler bei der Einrichtung des Kinderimpfzentrums. Dort gibt es anders als zuletzt im Impfzentrum in den Messehallen teilweise ein Terminchaos, mal lange Schlangen, mal Leerlauf.
Corona: Zahlen-Pannen in Hamburg
Der Senat sagte erst in der vergangenen Woche klar, dass die Omikron-Variante nun in Hamburg vorherrscht. Irritierend spät, nachdem die Laborergebnisse der Sequenzierungen schon länger eindeutig ausfielen. Schwerwiegender in der öffentlichen Wirkung: Bürgermeister Tschentscher musste vor Weihnachten einräumen, dass die Inzidenz von Geimpften und Ungeimpften wochenlang von Melanie Leonhards Sozialbehörde falsch angegeben worden war. Die, bei denen nicht klar war, ob sie geimpft waren, wurden als „ungeimpft“ gezählt. Mithin: Die Inzidenz der Geimpften fiel zu niedrig aus, die Zahl der Impfdurchbrüche wurde im Ergebnis kleingerechnet. Es wurde eine Bereinigung der Zahlen versprochen. Der Fehler allein war aber Munition für Querdenker und deren politische Nutznießer.
Corona: Kontaktverfolgung in Hamburg? Fehlanzeige
Bereits seit den Weihnachtstagen ist eine Kontaktverfolgung bei Infizierten in Hamburg weitgehend nur noch schöne Theorie. Natürlich liegt dies an der rasant steigenden Zahl an Infektionen, nur eben auch an der Aufstellung der Gesundheitsämter. Der Senat hat zwar irgendwann erkannt, wie hoch die Omikron-Welle zu schwappen droht. Ebenso schnell waren aber die Behörden bei der Bewältigung derselben überfordert.
Plastisch macht das etwa der Fall des „Waagenbau“. Im Zusammenhang mit einer Veranstaltung Mitte Dezember hatte es in dem beliebten Club mindestens sechs Omikron-Fälle gegeben. Und was tat das zuständige (grün geführte) Bezirksamt Altona? Wenig. Weder wurden Quarantänen ausgesprochen, wie es die Regeln vorsehen, noch alle Kontakte verfolgt. Man hielt es nicht einmal für nötig, den Clubbetreiber in Kenntnis zu setzen, der von dem Ausbruch erst durch das Abendblatt erfuhr. Lakonische Antwort des Bezirksamtes auf Nachfragen: Man habe den Betreiber nicht erreicht. Und die Betroffenen würden ja von der Luca-App informiert. Außerdem sei ein Club ja „keine vulnerable Einrichtung“.
Das Nachbarland Schleswig-Holstein hat es im Gegensatz zu Hamburg zwar erst nach Weihnachten für nötig gehalten, Clubs und Diskotheken zu schließen. Und man hat sich dort durch mangelnde Kontakterfassung das Leben selbst schwer gemacht. Dort griffen die Gesundheitsämter dann trotzdem effizienter durch, um die neue Variante einzudämmen. Nach einem Omikron-Verdachtsfall in einer Diskothek in Henstedt-Ulzburg wurden 800 Gäste in Quarantäne geschickt. Ähnlich wurde in anderen Fällen verfahren. Ein deutlicher Unterschied zum Hamburger Vorgehen.
Unerhört: Informationen für Menschen in weniger wohlhabenden Stadtteilen
Senatsinformationen zum Virus und zum Impfen bleiben oft bei denen unerhört, die in Stadtteilen mit niedrigerem Sozialprestige und mit höherem Anteil von Migranten leben. Das änderte sich nur langsam. Bereits im Impfzentrum in den Messehallen hätte man anhand der (behördlichen) Anmeldung nach Postleitzahlen filtern können, woher die meisten Impfkandidaten eigentlich kommen – und woher nicht. Dass sich ausgerechnet die rot-grünen Kümmerer darum nicht kümmerten, kritisierte die Opposition genüsslich.
Es bleibt ein bundesweites Problem der Politik, auch wirklich alle Menschen effektiv zu erreichen. Der Senat, der die ganze Stadt im Blick haben will, scheitert daran ebenfalls. Auch waren PR-Kampagnen und einzelne Impfaktionen wohl oft nicht zielgenau genug.
Skandal um Impfzentrum am Hauptbahnhof Hamburg
Die Hygiene hatte Mängel, Aufklärungsgespräche gab es wenige, bei der überwachten Ruhepause wurde geschludert, der Impfstoff womöglich falsch gelagert: Das privatärztlich betriebene Impfzentrum im Hauptbahnhof wurde nach einer Woche Betrieb amtlich geschlossen und versiegelt – nachdem das Abendblatt zu den dubiosen Hintergründen angefragt hatte. Doch warum durfte es mit Genehmigung des Gesundheitsamtes Hamburg-Mitte jemals öffnen?
Der Betreiber Hammonia Hospital Virtuelle Klinik Betriebsgesellschaft mbH ist eine Briefkastenfirma, deren Post in einem Bürotower im 14. Stock in der HafenCity mit prominenter Adresse ankommt. Der verantwortliche, schillernde, in Hamburg bestens bekannte Impfarzt Dr. B. war vor Jahren wegen hundertfachen Abrechnungsbetruges verurteilt worden. Die Sozialbehörde hat nicht verraten, ob er überhaupt eine Zulassung hat. Ein anderer der Protagonisten war laut Medienberichten einst bei der NPD aktiv.
Bei Anfragen, wer überhaupt zuständig für das Impfzentrum sei, verwies die Sozialbehörde zunächst fälschlich an die Kassenärztliche Vereinigung (KV), die weiter an den Bezirk und der wieder an die Behörde. Das nennt man „Diffusion von Verantwortung“: Mitten in einem der größten deutschen Bahnhöfe verabreichen dubiose Figuren Dutzenden Bürgern Spritzen – und in der Tschentscher-Stadt ist niemand zuständig. Noch immer ist unklar, ob die Staatsanwaltschaft eine Impfkandidaten-Liste beschlagnahmt hat.
Die Sozialbehörde hat den Fall an sich gezogen, weil das Bezirksamt völlig überfordert war. Die Behörde ermittelt, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Es ist aber überhaupt nicht ermittelt, wer dort geimpft wurde. Einige Betroffene haben bis heute keine Informationen der Behörde erhalten. Positiv: Die, von denen die Behörden Adressen haben, sollen nun mit städtischer Hilfe nachgeimpft werden.
Corona-Pandemie: Zu wenig Testmöglichkeiten in Hamburg
Die Idee ist klar: Nur noch, wer geimpft oder genesen ist, soll in Restaurants oder Fitnessstudios gehen können. Die Ungeimpften können dabei die kalte Schulter der Solidargemeinschaft spüren. Das „plus“ hinter 2G jedoch bedeutet: Auch Geimpfte brauchen einen Test. Ausreichend Kapazitäten waren zuletzt aber nicht immer vorhanden, kritisierten vor allem die Linken in der Bürgerschaft.
Auch Starkoch Tim Mälzer begründete die einstweilige Schließung seiner „Bullerei“ damit, dass es zu wenig Schnelltestkapazitäten gebe, was die Situation für die Gastronomie erschwere. „Unsere Klientel entscheidet sich oft erst um 18 Uhr, und da ist das Angebot für die Schnelltests noch nicht ausreichend“, so Melzer.
Bürgermeister Tschentscher erklärte außerdem, es gebe ausreichend von den deutlich genaueren PCR-Tests. Diese werden ja immer wichtiger, weil die Infektionszahlen steigen und manch Schnelltest bei Geimpften und Geboosterten nicht anschlägt. Fakt ist: Es gibt lange Warteschlangen und Wartezeiten auf PCR-Tests. Der Arztruf arbeitet auf Kante. Die Labore ächzen. Die Einführung von 2G plus bedeutet nun auch bei den Schnelltests eine extreme Belastungsprobe für die Kapazitäten.
Minderwertige Schüler-Schnelltests an Hamburgs Schulen
Schneller als viele Erwachsene lernten Kinder mit Antigen-Schnelltests umzugehen, die sie an Schulen erhalten. Doch ohne erkennbare Not wurde der Anbieter gewechselt. Die neuen Tests zeigten viele falsch positive Ergebnisse. In manchen Familien mit zwei Kindern war jede Woche mindestens eines laut Test mit Corona infiziert. Die anfängliche Verunsicherung wich der Verärgerung: PCR-Tests waren nicht immer sofort als Gegencheck zu bekommen oder als Privatvergnügen recht teuer.
Die Schulbehörde machte zunächst falsche Handhabung für die fehlerhaften Ergebnisse verantwortlich, ruderte aber später zurück. Warum die Schulen nicht wie bei der Port Authority, der Polizei oder der Feuerwehr auch mobile PCR-Tests mit Ergebnissen in weniger als 30 Minuten einsetzen durften, bleibt ein Rätsel. Diese Technologie haben auch der HSV und der FC St. Pauli im Einsatz.
Hamburger Sozialbehörde: Irritationen in der Koalition
Auch in der rot-grünen Koalition gab es zuletzt Irritationen über manche Versäumnisse. Möglicherweise sei die Sozialbehörde nach zwei Jahren Pandemie am Ende ihrer Kraft und mittlerweile schlicht überfordert, heißt es von grüner Seite. Zudem bremse die SPD zu oft, sodass die Stadt zuletzt oft zu spät reagiert habe. Aus der SPD dagegen wird moniert, dass die Grünen zwar in den sozialen Netzwerken alles Mögliche forderten, um ihre Klientel zu bedienen – aber dann in Sitzungen ganz anders aufträten.
„Zur ehrlichen Bestandsaufnahme gehört, dass wir die vergleichsweise ruhige Phase der Pandemie nicht ausreichend zur Vorbereitung einer möglichen neuen Welle genutzt haben“, sagt Grünen-Fraktionschefin Jennifer Jasberg. „Durch die hohe Ansteckungsgefahr grassiert Omikron besonders auch unter Jüngeren, was aktuell zu sehr hohen Fallzahlen vor allem in Großstädten führt. Darauf waren leider weder Impfkampagne noch Testangebote unmittelbar ausgerichtet.“ Ein großes Problem bleibe „das Chaos aufseiten des Bundes bei den Impfstoffliefermengen“.
Sport in Hamburg: Ungleich und spät
Obwohl es kein nachgewiesenes Ausbruchgeschehen gibt, dürfen HSV und FC St. Pauli nur Geisterspiele austragen. Auch die Towers-Basketballer sind gekniffen. Die Chefs aller drei Vereine protestieren. Denn sie hatten ausgefeilte Hygienekonzepte, waren wie die Towers sogar deutschlandweites Modellprojekt in einem Corona-Versuch. Die Topathleten sehen sich benachteiligt gegenüber Theatern und Konzerthäusern. Es blieb der Eindruck: Einmal mehr passen die Auflagen in der Corona-Pandemie nicht richtig zusammen. Beim Breitensport dagegen wurde die 2G-plus-Regel mit Verspätung eingeführt. Wer in Niedersachsen in der Halle kicken will, muss schon seit Längerem geimpft oder genesen sein – und außerdem frisch getestet.
Corona: Klagen über fehlende Transparenz
Für die Schulen ist die Lage besonders schwierig: Einerseits ist der Präsenzunterricht für Kinder und Jugendliche extrem wichtig. Andererseits fürchten Eltern um die Gesundheit ihrer Kinder und Familien. Öfter wurde moniert, dass die Schulbehörde nicht offen genug über Infektionen und Ausbrüche berichte. Auf manche Eltern wirkte es hin und wieder, als halte man beunruhigende Nachrichten zurück, um keine Diskussion über den Präsenzunterricht zu befeuern.
Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick
- Corona in Hamburg – die aktuelle Lage
- Die Corona-Lage für ganz Deutschland im Newsblog
- Interaktive Corona-Karte – von China bis Hamburg
- Überblick zum Fortschritt der Impfungen in Deutschland
- Interaktiver Klinik-Monitor: Wo noch Intensivbetten frei sind
- Abonnieren Sie hier kostenlos den täglichen Corona-Newsletter
- So wird in Deutschland gegen Corona geimpft
Einige Familien wünschen sich, in der Omikron-Welle die Präsenzpflicht auszusetzen – und Kindern eine digitale Teilnahme am Hybridunterricht zu ermöglichen. Auch über Ausbrüche an Kliniken wurde die Öffentlichkeit nicht immer zeitnah informiert. Das passt nicht zum eigenen Anspruch Hamburgs, transparent mit Informationen umzugehen, wie er im Transparenzgesetz festgelegt ist. „Die größte Katastrophe“, sagt ein hochrangiger Arzt, „ist die Kommunikation.“
Impfaktion im Rathaus: Schöne Bilder – und Ärger bei Ärzten
Bürgermeister Tschentscher lud am 1. Januar zur Boosterimpfung ins Rathaus. Die Aktion war ein Erfolg. Einige Ärzte jedoch wunderten sich. Orthopäde Dr. Torsten Hemker, ärztlicher Geschäftsführer der Facharztklinik, schrieb dem Abendblatt: „Die Impfaktion im Rathaus hat einen hohen symbolischen Wert, aber dass mir in der Praxis nur ein Drittel der bestellten Dosen in der ersten Januarwoche geliefert wird, macht mich wütend. Die Verlegung von geplanten Terminen frustriert meine Mitarbeiterinnen und Patienten! Woher bekommt das Rathaus die Impfdosen? Auf Kosten der Arztpraxen?“
Der Nachschub an Impfstoff ist zwar in erster Linie die Aufgabe des Bundes. Streit mit den Ärzten, die einen großen Teil der Last schultern, kann sich der Senat aber nicht leisten – in diesen schwierigen Tagen schon gar nicht.