Hamburg. Die zuletzt gemeldeten, deutlich niedrigeren Zahlen schwerer Erkrankungen sind nur auf den ersten Blick eine gute Nachricht.
„Gehen Sie nicht ins Krankenhaus. Bleiben Sie zu Hause! Retten Sie Leben!“ Gut gemeint war das Gegenteil von gut in dieser Kampagne, die der Nationale Gesundheitsdienst (National Health Service/NHS) in Großbritannien während der ersten Welle der Corona-Pandemie landesweit inserierte. Aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus im Krankenhaus oder dem Einschleppen dorthin sollten die Patienten die Kliniken meiden. Im Vereinigten Königreich wurde schnell klar, was das bedeutet: Diese Arztvermeidungsstrategie führte erst recht zu einer Vielzahl von Toten. Denn akute, schwere Erkrankungen haben keine Corona-Pause eingelegt.
So sind die kürzlich von der AOK für Hamburg veröffentlichten Zahlen zu Herzinfarkten und Schlaganfällen mindestens „irreführend“, wie Ärzte dem Abendblatt bestätigten. Um 13 Prozent sollen diese akuten Fälle zurückgegangen sein. Dabei ist davon auszugehen, dass betroffene Patientinnen und Patienten nicht erfasst wurden – und möglicherweise sogar noch schlimmer erkrankten oder starben.
Corona Hamburg: Schlaganfälle – schwere Schäden vermeiden
Der Neurologe Prof. Götz Thomalla (UKE) sagte dem Abendblatt: „Weltweit wurde beobachtet, dass in der ersten Welle der Corona-Pandemie die Zahl leichter Schlaganfälle um 15 Prozent zurückgegangen ist. Menschen sind mit leichten Symptomen nicht ins Krankenhaus gegangen. Das führt aber in der Regel dazu, dass sich die Erkrankung verschlimmert, dass ein Schlaganfall viel schwerwiegendere Folgen für einen Patienten haben kann, wenn er nicht sofort richtig behandelt wird.“
Das ist das Tückische bei einem Schlaganfall: Im Umfeld eines Patienten kommt man nicht sofort auf diesen Verdacht, wenn sich ein Mensch plötzlich seltsam benimmt oder wirr spricht. Dabei zählt jede Minute, um bei einem „Schlag“ sofort medizinisch einzugreifen und Hirnschädigungen, Beeinträchtigungen der Sprache und der Motorik zu verhindern. Tritt ein Blutgerinnsel oder eine Hirnblutung auf, wird das Gehirn nicht richtig mit Sauerstoff versorgt. Dadurch sterben Nervenzellen ab, was zu schweren, auch langfristigen Schäden wie Lähmungen führen kann.
Die „Stroke Units“ in Hamburger Krankenhäusern gelten bundesweit als vorbildlich in der Behandlung, die Wege für die Rettungswagen sind kurz. Doch ein Verdacht sollte ernst genommen werden.
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Herz-Papst Prof. Kuck warnte früh im Abendblatt
UKE-Experte Thomalla sagt: „Aus Großbritannien gibt es aus Daten, die man aus der Analyse von Totenscheinen erhoben hat, Hinweise auf eine erhöhte Sterblichkeit an Schlaganfall und Herz-Kreislauferkrankungen bei den Menschen, die während der Pandemie zu Hause gestorben sind.“ Der Arzt sagt, man müsse zum Beispiel bei einem Verdacht auf Schlaganfall schnell untersuchen, ob die Halsschlagader Auffälligkeiten aufweise, ob es Vorhofflimmern am Herzen gebe, ob der Blutdruck „entgleist“. Auch müssten Patienten eng überwacht werden. „Das passiert alles nicht, wenn man nicht ins Krankenhaus geht.“
Das UKE hat ermittelt, dass zwischen den Jahren 2007 und 2016 in Hamburg 83.395 Menschen mit dem Krankheitsbild Schlaganfall behandelt wurden. Weltweit sei die Anzahl von Schlaganfällen in den vergangenen 30 Jahren um 70 Prozent gestiegen und stelle die zweithäufigste Todesursache in Deutschland dar.
Menschen mit Herzinfarkten sterben zu Hause – aus Angst vor Klinik
Schon in der ersten, frühen Phase der Pandemie hat Hamburgs Herz-Papst Prof. Karl-Heinz Kuck im Abendblatt darauf hingewiesen, dass Menschen mit Herzinfarkten zu Hause sterben – aus Angst vor dem Krankenhaus. Das könne man bereits an der Zahl der häuslichen Wiederbelebungen sehen.
Es gibt für Risikopatienten eine weitere Hamburger Erfindung, Vorboten des Schlaganfalls zu erkennen. Experten des Cardiologicums haben in einem Start-up ein Mini-EKG entwickelt, das große Datenmengen über einen längeren Zeitraum als bisher mittels künstlicher Intelligenz ausliest. Die Prävention schwerwiegender Erkrankungen, die während Corona ebenfalls gelitten hat, kann hier zumindest weitergehen.