Hamburg. Viele der Patienten wurden durch russische Angriffe verletzt, doch auch andere brauchen medizinische Hilfe: “Die Not ist riesengroß.“
Manchmal gibt es auch nach 30 Jahren Berufserfahrung noch Momente, in denen eine Erfahrung alles bisher Gesehene übertrifft. Dr. Roland Thietje, Chefarzt des Querschnittgelähmten-Zentrums im BG Klinikum Hamburg-Boberg, muss das aktuell öfter erleben. Denn der erfahrene Mediziner und sein Team versorgen inzwischen eine zunehmende Zahl an querschnittgelähmten Patienten, die aus der Ukraine gerettet wurden.
Es sind Menschen, die dort durch den Krieg verletzt wurden – aber auch andere, die in ihrer Heimat nicht mehr adäquat versorgt werden konnten, weil beispielsweise Medikamente, Betten oder Matratzen fehlten. Vor allem das Fehlen geeigneter Matratzen hat oft verheerende Folgen: Er habe bei einem Patienten jüngst Druckgeschwüre in Anzahl und Ausdehnung operiert, die er „so in 30 Jahren noch nie gesehen hat“, sagt der Chefarzt bedrückt. „Da weiß man kaum, wie man das noch heilen soll.“
Klinikum in Boberg will den verletzten Geflüchteten helfen
Es ist nur eine Herausforderung unter vielen. Doch das Boberger Team will sich dem stellen, denn der Bedarf ist riesig: Viele ukrainische Familien sind selbst auf der Flucht – oder können ihre querschnittgelähmten Angehörigen in der aktuellen Situation daheim nicht ausreichend pflegen. Es fehlt an Materialien oder Medikamenten.
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An der polnisch-ukrainischen Grenze haben spezialisierte Organisationen deshalb für Querschnittgelähmte eine Art Auffangzentrum gegründet. Das sogenannte „safe house“ wird ehrenamtlich von der ESCiF (Europäische Spinal Injury Federation), der FGQ (Fördergemeinschaft Querschnittgelähmter) und der Schweizer Paraplegikerstiftung betrieben. Von dort werden die Patienten auf deutsche Kliniken verteilt. Unterstützt wird die Verteilung durch die Deutschsprachige Medizinische Gesellschaft (DMGP), deren Past-President Dr. Roland Thietje aktuell ist.
Die Patienten werden nach Medizinischen Gesichtspunkten auf deutsche Querschnittgelähmten-Zentren verteilt. Und da das Boberger Klinikum Deutschlands mit 128 Betten größtes und namhaftestes Querschnittgelähmten-Zentrum betreibt, werden zu den derzeit vier Patienten wohl noch einige hinzukommen.
Es gibt viele Probleme – resistente Keime, Mangel an Betten, Sprachbarrieren
Doch hier wie andernorts ist die Versorgung ein Kraftakt. Das fängt schon mit der Aufnahme der Patienten an: „Nahezu alle sind mit resistenten Keimen behaftet“, sagt der Chefarzt. Ganz erklären kann er sich die Häufigkeit nicht, doch in deutschen Krankenhäusern sind die Regeln klar: Menschen, die Keime in sich tragen, gegen die keine Medikamente mehr wirken, müssen isoliert werden. Und das nicht nur vorübergehend. Das hat zur Folge, „dass aus einem Zweitbettzimmer schnell ein Einbettzimmer wird, dessen anderes Bett nicht belegt werden kann“, erklärt Thietje. Das ist ein Auslastungsproblem, denn „der Bedarf an Betten ist einfach enorm“.
Hinzu kommen Verständigungsprobleme. Wie soll den Patienten und ihren Familien erklärt werden, was genau mit ihnen geschieht, wenn kaum ein Krankenhausmitarbeiter Ukrainisch spricht und der Markt an Dolmetschern leer gefegt ist? Viele der Ukrainer kommen zudem nicht allein, sondern mit größeren Familien, die in der Nähe untergebracht werden müssen. „Das alles ist ein riesengroßes organisatorisches Problem“, fasst Thietje zusammen. Gleichzeitig lobt er sein Boberger Team. „Viele hier fahren in ihrem Sommerurlaub an die Grenze, um zu helfen“, sagt er. Andere nehmen Familien zu Hause auf. Jeder tut, was er kann.
"Die Not ist riesengroß": Ukraine-Geflüchtete haben Dramatisches erlebt
Denn: „Die Not ist riesengroß“, fasst Thietje zusammen. Er sieht junge Männer, die eigentlich am Anfang ihres Lebens stehen, und nun mit schwersten Verletzungen kämpfen. Auch eine junge Frau liegt in Boberg. Ihre Wohnung in der Ukraine wurde von einer Rakete getroffen. Zwar traf die Rakete nicht die junge Frau selbst. „Aber sie wurde durch die Druckwelle aus dem Fenster geschleudert“, erzählt Thietje. Dabei erlitt sie schwere Verletzungen an der Wirbelsäule.
Spenden für das Projekt an der polnisch-ukrainischen Grenze sind hier möglich: https://www.protectthevulnerable.org/