Hamburg. Seit Jahrzehnten gilt Hamburg als Freie und Abrissstadt. Gerade nach dem Krieg wurde besinnungslos Historisches beseitigt.
Vielleicht ist Hamburg einfach zu reich. Städte, die über einen besonderen Wohlstand verfügen, sind eher bereit und vor allem finanziell in der Lage, die Abrissbirne zu schwingen. Was zu klein, zu alt oder zu wenig zeitgeistig daherkommt, wird abgeräumt. In finanziell weniger gesegneten Metropolen hingegen muss improvisiert, umgebaut oder erhalten werden.
Nach der Wiedervereinigung mussten die Westdeutschen erkennen, welche städtebauliches Glück die Armut im Osten war – die Badeorte an der Ostsee atmen den Geist der Belle Epoque, die Großstädte verzaubern mit ganzen Gründerzeitvierteln. Im Westen hingegen: Zu viel Neues.
Die zweite Zerstörung: Ökonomische Interessen waren wichtiger als der Erhalt
„In der Kaufmannsstadt Hamburg wurde wirtschaftlichen Interessen allzu oft der Vorrang gegenüber dem Erhalt der wertvollen Baukultur eingeräumt“, sagt Kristina Sassenscheidt, Geschäftsführerin des Denkmalvereins. „Heute wissen wir, dass es sich lohnt, historische Gebäude zu bewahren und weiter zu nutzen – kulturell, ökonomisch und ökologisch.“
Auch Stararchitekt Volkwin Marg kritisierte kürzlich an dieser Stelle den „städtebaulichen Furor“ in der Hansestadt: So Bezeichnet er die Zerstörung der Hamburger Esplanade, einer geschlossene Allee von Carl Ludwig Wimmel. Obwohl diese Prachtstraße, die der Berliner Meile „Unter den Linden“ nachempfunden war, den Krieg ohne größere Schäden überstanden hatte, wurde die Nordseite ab 1958 abgeräumt.
Zwar standen die Gebäude unter Denkmalschutz, aber das half ihnen nicht: Oberbaudirektor Werner Hebebrand wünschte sich nach dem Geschmack der Zeit drei Punkthochhäuser – auch um die Esplanade an eine einst geplante Hochstraße anzubinden. Zwischen 1959 und 1963 fielen sechs Denkmäler. Heute stehen dort drei Hochhäuser.
Das Zitat der „Freien und Abrissstadt“ bleibt noch immer aktuell
Es sind Untaten wie diese, die der Hansestadt den Schmähnamen „Freie- und Abrissstadt“ eingetragen haben. Das Zitat geht zurück auf den früheren Chef der Hamburger Kunsthalle, Alfred Lichtwark. Allerdings gibt es Zweifel, ob dieser der Urheber ist. Hermann Hipp, langjähriger Professor für Kunstgeschichte an der Universität Hamburg glaubt, das Satz sei frei erfunden.
Ob gut erfunden oder tatsächlich gesagt – die Liste der Denkmäler, die in der Hansestadt zu Staub zerbröselten, ist lang. Erst vor wenigen Jahren stritt die Stadt lange und intensiv, ob der City-Hof – die vier weißen Hochhausscheiben am Klosterwall – wirklich fallen sollen und dürfen. Am Ende gab es viele Argument für den Erhalt der als Denkmal erkannten Häuser, aber die Liebe der Hamburger zu den Türmen fehlte. Der Bau des Hamburger Architekten Rudolf Klophaus, 1958 fertiggestellt, hatte sich vom bewunderten „weißen Schwan“ zum verabscheuten „hässlichen Entlein“ entwickelt, verwahrlost und zugrunde saniert. 2019 wurde er schließlich abgerissen, an seine Stelle tritt ein Backsteinriegel.
Zahl der abgerissenen Gebäude war zuletzt deutlich rückläufig
Hamburg reißt gern und viel ab – doch die Zahlen sind stark rückläufig (siehe Grafik). Fielen um die Jahrtausendwende noch bis zu 543 Gebäude in der Hansestadt der Abrissbirne zum Opfer, waren es in den vergangenen beiden Jahren jeweils nur noch 145 Gebäude.
Das ist kein Vergleich zu einer Zeit, als man geradezu mit Genugtuung auf jeden Abriss blickte. Bar jeder Sentimentalität hieß es beispielsweise im Abendblatt vom 2. August 1957: „Zu Füßen des Michels haben seit einigen Wochen Spitzhacke, Preßluftbohrer und Bagger das Wort. Zwischen Zeughausmarkt und Neanderstraße muß ein ganzer Häuserblock der neuen Ost-West-Straße weichen. Ein Stück Hamburg, das den Krieg überlebte, sinkt jetzt in Trümmer, weil es dem Weltstadtverkehr im Wege ist.“
Bis heute darf man um den Dovenhof trauern
Es traf nicht nur Häuserblöcke, sondern auch beeindruckende Baudenkmäler: Schon in den Sechzigerjahren, als der Dovenhof abgerissen wurde, wunderten sich viele Hamburger über den Kahlschlag. „Möge die Vorsehung dieses Haus in ihren Schutz nehmen“, stand seit der Vollendung 1886 über der Eingangstür. Und lange schien der Spruch zu helfen: Der Bürokomplex, entworfen vom Rathaus-Architekten Martin Haller, war seinerseits das erste moderne Kontorhaus der Stadt – und prägte später jede Bauten, die die Unesco als Weltkulturerbe adelte.
Obwohl das Gebäude an der Brandstwiete den Krieg relativ unbeschadet überstanden hatte, wollte der Zeitgeist etwas Neues schaffen. Das Schloss, wo sogar der Hausmeister „Castellan“ hieß, wurde rücksichts- und emotionslos geschleift. Damit verschwanden die Treppenhäuser mit ihren schmiedeeisernen Gittern, die breiten Flure, die großzügigen Lichthöfe, die einst hochmoderne Haustechnik nach US-Vorbild mit Dampfheizung, elektrischer Beleuchtung und dem erste Paternoster Europas Kontinentaleuropas. Der kolossale Sandsteinbau musste dem Autoverkehr und dem neuen Spiegelhochhaus weichen.
Wie schrieb das Abendblatt im Mai 1966: „Ein denkmalschutzwürdiges Gebäude fällt... Schade, daß sich sein Abbruch nicht vermeiden ließ.“ Am 28. März 1967 vermeldete diese Zeitung: „Ein Stück hanseatischer Vergangenheit fällt. An der Ost-West-Straße brechen Wände, bersten Balken, stürzen eiserne Träger in die Tiefe: Der Dovenhof, eines der markantesten Bürohäuser der Innenstadt, hat seine Schuldigkeit getan und muß einem modernen Zweckbau weichen.“
Einstürzende Altbauten: In den Aufbaujahren fehlte Gespür fürs architektonische Erbe
Es blieb nicht der einzige Abriss. Bis in die späten Siebzigerjahre regierte in der Hansestadt die Abrissbirne. Der Zeitgeist verschwendete keinen Gedanken an Denkmäler: Die geschichtsträchtige Wasch- und Badeanstalt am Schweinemarkt, die so genannte Schweinebadeanstalt, war die erste ihrer Art auf dem Kontinent.
Der Bau, eine Idee des legendären Ingenieurs William Lindley, stammte aus dem Jahr 1855, hatte eine reich verzierte Fassade und einem 40 Meter hohen Schornstein. Den Krieg überstand das Gebäude, aber nicht die autogerechte Stadt: 1963 fiel die Badeanstalt an den Langen Mühren – an gleicher Stelle wuchs ein Parkhaus, das heute Saturn nutzt.
Eine ähnliche Lebensdauer war Häusern auf der Nordwestseite der Binnenalster beschieden, im Volksmund die „umgestürzte Kommode“ genannt. Die drei prächtigen Wohnhäusern mit Stuck, geschnitzten Decken und Marmorkaminen fielen 1960 der Esplanade zum Opfer.
Der Abriss des Bahnhofs Altona gilt als besonderer Sündenfall
Als besonderer Sündenfall gilt bis heute der Abriss des alten Bahnhofs Altona. Der gründerzeitliche Prachtbau, städtebaulich in einer engen Beziehung zum Rathaus und zur Grünfläche mit dem Stuhlmannbrunnen, prägte über Jahrzehnte die Stadt Altona. Der Deutschen Bundesbahn war Tradition schon damals ein Dorn im Auge.
Sie ließ den neoromantischen Backsteinbau mit den imposanten fünf Hallenschiffen aus Kostengründen und wegen angeblicher statischer Bedenken abbrechen und durch ein „Kaufhaus mit Eisenbahnabteilung“ ersetzen, wie der damalige Denkmalpfleger Manfred Fischer sarkastisch kommentierte. Die Öffentlichkeit kam mit der Zerstörung der „Bahnhofs-Festung“ deutlich besser zurecht. „Der Bahnhof wird künftig nicht mehr wie ein Bahnhof aussehen“, versprach 1971 ein Sprecher der Bundesbahndirektion Hamburg.
Viel Beifall für die Abrissbirne
Das Abendblatt frohlockte zur gleichen Zeit: „Den größten Teil der Kosten für den Umbau - mindestens 60 Millionen Mark - übernimmt die Kaufhof AG. Die für Hamburg neuartige Kombination von Kaufhaus und Bahnhof kommt letztlich allen Hamburgern und nicht nur den Fahrgästen zugute.“
Und fast bedauernd heißt es: „Solche Pläne wurden vor Jahren auch für die Gleise beiderseits der Hauptbahnhofshalle erörtert. Leider sind alle Projekte, die auf eine zweckmäßige Verwertung des Raumes zielten, wieder in den Schubladen verschwunden.“ Im Sommer 1973 – inmitten der Abbrucharbeiten - hieß es in dieser Zeitung: „Dieser in gotisierendem Kasernenstil aus rotem Backstein gebaute Bahnhof erscheint manchem von uns jetzt, da er abgerissen wird, auch in seiner Häßlichkeit wieder liebenswert.“
Nur wenige Stimmen wehrten sich öffentlich gegen die Zerstörung, wie die Schriftstellerin Heike Doutiné in einem Gastbeitrag in dieser Zeitung: „Während in Paris und London Häuser seit 200, 300 Jahren stehen, in Rom seit 400, 500 Jahren, reißen wir das 19. Jahrhundert ab und zerstören systematisch ein ganzes Viertel“, beklagte sie 1976. „Eines Tages wird man über Altona schreiben: Zerstört nicht im - sondern nach dem Zweiten Weltkrieg.“
Kein Stadtteil wurde von der Abrisswelle verschont
Altona ist kein Einzelfall, die Abrisswelle erfasst alle Stadtteile: Vom Harburger Schloss, das 1950 den Denkmalschutz verlor, blieb nur ein Flügel über – jener, der seit 1900 ein Arbeiterwohnheim war. Der Ostflügel fiel im Jahre 1972.
Im Hafen auf dem Kaiserhöft wurde der Turm mit Zeitball gesprengt, um dort den Kaispeicher A zu errichten, der heute der Sockel der Elbphilharmonie ist. 1979 fiel das Winterhuder Fährhaus, lange ein Wahrzeichen der Alstergegend, quasi über Nacht und gegen den Widerstand vieler Bürger. Die städtische Sprinkenhof ließ das Gebäude am Winterhuder Kai/Ecke Hudtwalkerstraße erst verrotten, um es dann abzureißen.
Vom Hotel Prem an der Alster blieb nur die Fassade, als es 2006 abgerissen wurde. Die Europapassage fräste ein gewaltiges Loch in Hamburgs Binnenalsterbebauung: Ohne Rücksicht auf Verluste fiel dort ein Quartier in Schutt und Asche, darunter das Europahaus mit seinem prächtigen Treppenhaus. Obwohl viele Hamburger sich gegen den Abriss stemmten und Denkmalschützer Sturm liefen, entstand an der Stelle das Einkaufszentrum Europapassage – und manche feierten in der Nacht vor dem Abriss im September 2003 eine „Abrissparty mit Erdbebenfeeling“.
Es hätte alles noch schlimmer kommen können
Zur selben Zeit fiel auch ein Haller-Bau an der Brandstwiete, in dem einst das „Knust“ zuhause war: Das Kontorhauses mit glasierten Steinen und Ornamenten sei angeblich nicht zu retten gewesen. 2007 traf es das Bismarckbad in Ottensen – obwohl der Bürgerentscheid für den Erhalt erfolgreich war, musste der 1911 eröffnete einem gesichtslosen Neubau weichen.
Manche hätten gern noch stärker auf das Prinzip Tabula Rasa gesetzt: So wurde in den Sechzigerjahren ernsthaft diskutiert, St. Georg komplett abzureißen. An seiner Stelle wollte die Neue Heimat einen Monsterbau, bestehend aus zwei Häusergruppen mit je 62 Stockwerken, errichten.
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Ottensen sollte komplettsaniert – und einer Geschäftsstadt West mit Autobahnzubringer geopfert werden. Auch die Deichstraße, diese in Heute gerettete Reihe hanseatischer Baukunst, hätte Anfang der Siebzigerjahre fast die Spitzhacke niedergemacht, bevor engagierte Bürger erfolgreich für den Erhalt kämpften.
Spätestens mit dem Europäischen Denkmalschutzjahr 1975, so erinnert sich Volkwin Marg, hieß es: „Vorwärts, wir müssen zurück! Jetzt entdeckten alle die europäische Stadt, schätzten den Erhalt und Weiterbau ihrer Qualitäten. Das war der erste Schritt zur behutsamen Stadterneuerung, welche die Substanz bewahrte und sanierte, statt großflächig abzureißen.“
Die zweite Zerstörung: Warum so viel abgerissen wird
Immerhin, auch das ist Teil der Wahrheit, hat Hamburg in den Jahrzehnten auch ganze Viertel auswendig saniert und erhalten – ob es die großbürgerlichen Straßenzüge in Eppendorf oder Harvestehude sind, aber auch die Arbeiterquartiere der Zwanzigerjahre. Und glaubt man den Zahlen des Statistischen Landesamtes, ist die Zeit der zweiten Zerstörung längst vorbei.
Auch Denkmalschützerin Sassenscheidt sieht die Stadt grundsätzlich auf gutem Weg. „Das Hamburger Denkmalschutzamt ist fachlich hervorragend aufgestellt und kümmert sich gerade intensiv um die jüngeren Zeitschichten, die Bauten der 1980er und 1990er Jahre. Und es gibt zahlreiche engagierte Bürgerinnen und Bürger, die sich mit ihrer Zeit oder ihrem Geld für die Baugeschichte dieser Stadt engagieren.“
Vielleicht ist die Freie- und Abrissstadt Hamburg wirklich Geschichte.