Hamburg. Als Student glaubte der Star-Architekt an den Fortschritt. Als er die Spur der Zerstörung sah, änderte er sein Denken.
Wohl kein lebender Architekt hat Hamburg in den vergangenen Jahrzehnten stärker geprägt als Volkwin Marg. Es sind nicht nur die von ihm entworfenen Bauten sondern auch seine Pionierarbeit beim Konzept der HafenCity, sein Engagement für die Rückbesinnung auf die Wasserlagen oder die Gründung des Museumshafens Oevelgönne.
Seit Jahren streitet der 86-Jährige gegen zu viele Abrisse in Hamburg, ob des City-Hofs, des HEW-Schulungszentrums oder des Hochhaus-Riesen in Bahrenfeld. Ein Gespräch über die Wegwerfgesellschaft, Bausünden, warum er selbst einst Bilderstürmer war – und das schönste Lob.
Hamburger Abendblatt: Herr Marg, trügt der Eindruck, oder reißt Hamburg besonders gerne ab?
Volkwin Marg: Der Eindruck ist nicht falsch. Schon Alfred Lichtwark, bis zu seinem Tode 1914 Direktor der Hamburger Kunsthalle, sprach von der „Freien und Abrissstadt Hamburg“. Die Radikalität Hamburgs im Umgang mit dem Bestand überrascht, weil die eigentlich konservative Kaufmannschaft stets großen Wert auf Traditionen und Vergangenheit gelegt hat. Wenn sie sich aber einen geschäftlichen Vorteil versprach, ging sie rücksichtlos mit dem Erbe um. Daran hat sich bis heute nur wenig geändert.
Wenn Sie durch Hamburg fahren, gibt es eine Stelle, an der Sie einen Phantomschmerz spüren, weil Sie etwas vermissen, was damals stand und nicht mehr da ist?
Hamburg hat insgesamt betrachtet noch viel Glück gehabt durch seine Randlage an der Zonengrenze: Der rabiate Immobilienboom setzte hier später ein als in Frankfurt, wo alle Dämme brachen. Und Oberbaudirektor Hebebrand hat beim Wiederaufbau etwas wirklich Positives ermöglicht, allerdings eher zufällig, denn er war ja auch ein überzeugter Abreißer und Modernisierer: Durch die Idee der City Nord hat Hebebrand die Hochhausexplosion in der Innenstadt gebremst. So konnte Hamburg seine geschichtliche Bedeutungssilhouette erhalten. Die wenigen Ausreißer wie das Unileverhochhaus, der Schrank des Deutschen Rings am Michel oder das Kongresshotel am Dammtorbahnhof verstellen glücklicherweise nicht die Altstadt.
Das klingt versöhnlich ...
Trotzdem kann man schlimme Sünden nicht leugnen. Zum Beispiel die Zerstörung der beidseits flankierten Hamburger Esplanade, das war ein städtebaulicher Furor. Die räumlich geschlossene Prachtallee von Carl Ludwig Wimmel wurde von den deplatzierten Türmen vom BAT-Haus und dem Finnlandhaus gestört, jüngst wurde das noch durch ein drittes Hochhaus verschlimmbessert. Statt den Frevel zu beseitigen, wäre städtebaulich geboten gewesen, hier anders als bei den vier Cityhochhäusern die zwei Türme abzureißen, um die Esplanade zu rekonstruieren. Es ist genau das Gegenteil passiert. Das ärgert mich!
Volkwin Marg: Abriss der Doms ist Hamburgs Ursünde
Gibt es eine Ursünde in Hamburgs Geschichte? Etwa der Abriss des Doms?
Der Abriss des Hamburger Doms, des verlassenen katholischen Bischofssitzes in der protestantischen Hansestadt, war ein geradezu symbolisches Exempel. Erst lässt man die Basilika verfallen, dann veranstaltet man darin einen Jahrmarkt – daher heute noch die Bezeichnung „Dom“ –, schließlich verschachert man das Kircheninventar meistbietend. Ein eklatanter Skandal war damals der berühmte Altar. Ich bin in Grabow in Mecklenburg aufgewachsen, erfuhr dort durch Zufall, dass der Altar aus dem Dom zum Schleuderpreis dorthin verkauft worden war. Lichtwark schämte sich für die Bürgerschaft, und später erwarb Hamburg den Altar zurück. Heute ist er das Prunkstück der Kunsthalle. Der Dom wurde zur Metapher für das Hamburger Verhalten. Und das, obwohl sich schon seit der Romantik und dem großen Brand von 1842 ein Bewusstsein für den Erhalt des historischen Bestands entwickelt hatte. Mit Chateauneufs Wiederaufbau der gotischen St.-Petri-Kirche beginnt der Mythos vom roten Backstein, dem sogenannten „Stein der Wahrhaftigkeit“. Stifte, neugotische Kirchen oder die Speicherstadt griffen im 19. Jahrhundert auf diese historische Bauweise zurück.
Die Speicherstadt wuchs auf dem Abriss eines ganzen Stadtteils, des Wandrahmenviertels mit 20.000 umzusiedelnden Bewohnern.
Das war rabiater Abbruch, um einen Freihafen anzulegen und die Zollprivilegien innerhalb des Deutschen Reichs zu bewahren, ein Abriss auch ohne Rücksicht auf architektonische Verluste. Es war aber Zeichen ersten Umdenkens, dass nach den Bombenangriffen der Operation Gomorrha 1943 die teilzerstörte Speicherstadt vom Hamburger Architekten Werner Kallmorgen in den 50ern wiederaufgebaut wurde. Er hat tatsächlich alles instand gesetzt oder umgebaut, was er erhalten konnte. Und was nicht zu erhalten war, hat er durch analoge Backsteingebäude ersetzt. Trotz Kriegsvernichtungen hat Kallmorgen die Kontinuität der Speicherstadt bewahrt, heute ein Weltkulturerbe aus Altbau, Umbau und Weiterbau.
Warum die Angst vor dem Krieg unsere Städte bis heute prägt
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde viel Bausubstanz vernichtet, eine Art zweite Zerstörung, oft aus historischer Ignoranz im Namen des Fortschritts.
Das ganze 20. Jahrhundert durchzieht eine gesellschaftliche und intellektuelle Kulturrevolution. Tradition wurde zunehmend verachtet, der vorgebliche Fortschritt zum absoluten Fanal, wie die totale Zukunfts- und Fortschrittsgläubigkeit bei den Bolschewisten in Russland, wie bei den Faschisten in Italien. Die dortigen Futuristen liefen mit fliegenden Fahnen zu den Faschisten über. Bei den Nationalsozialisten in Deutschland kam der perverse Rassismus mit dem völkischen Blut-und-Boden-Denken auf fatale Weise hinzu. Das entsetzliche Kriegsdesaster hat nach dem Krieg in Deutschland ein unglaubliches Schuldgefühl bewirkt und den Willen zur Wiedergutmachung an der verfemten Planungsideologie der 20er-Jahre-Moderne geweckt. Die wiederaufgebauten Städte sollten zukunftsfähig sein, nach der Ideologie der Charta von Athen – also der strikten Trennung von Wohnen, Arbeiten und Verkehr. Die Städte sollten nach dieser urbanistischen Ideologie aus der Vorkriegszeit in offener und nicht mehr geschlossener Bauweise entstehen – auch weil man nach dem Diktatfrieden von Versailles in ganz Europa einen „Zukunftskrieg“ befürchtete, einen Gas- und Luftkrieg.
Dagegen sollten die Städte geschützt werden?
Damals befürchteten die Stadtplaner Angriffe zwar auf Industrieanlagen, aber gemäß Genfer Konvention nicht auf Wohngebiete. Gegen den Detonationsdruck von Bomben sollte eine lockere, offene Bauweise schützen und gegen Giftgas, das schwerer ist als Luft, Häuser auf Stelzen, wie von Le Corbusier. Man war des Alten überdrüssig und wollte etwas ganz Neues bauen. Der Architekturguru Le Corbusier wollte für seine Hochhausstadt die gesamte Pariser Altstadt abreißen.
Waren die Bauhaus-Vertreter am Ende auch Sektierer?
Sind Sie eigentlich auch ein Bilderstürmer gewesen?
Ich gehöre zu der Generation, die in den 50er-Jahren aufgewachsen und in den 60er-Jahren studiert hat: Wir wurden im blinden Vertrauen auf solchen Fortschritt, auf die technische Zukunft ausgerichtet, ganz selbstverständlich zum architektonischen Bildersturm. Durch uns sollte Stadtplanung nur nach der Charta von Athen erfolgen. Und selbstverständlich waren unsere Leitbilder die Modernisten, die als Künstler wie charismatische Sektierer predigten. Da schließe ich das Bauhaus ausdrücklich mit ein: Alles, was Tradition fortführte, was handwerklich bewährt war, war von gestern, hatte einen langen akademischen Bart, das schätzte man gering. Darum hatten wir nichts dagegen, den Gründerzeithäusern den Stuck abzuschlagen. Meinen Eltern in ihrem gründerzeitlichen Pastorat im Prenzlauer Berg wollte ich die hohen Wohnzimmerdecken tiefer abhängen. Jetzt war nicht mehr handwerklich der Backstein gefragt, der „Edelstein aus Erde und Feuer gebrannt“, wie beim Hamburger Backstein-Paganini Fritz Höger, sondern die Betonfertigteilplatte.
Diese Verirrung währte gottlob kurz …
Leider nicht. Erst als ich meine jugendliche Sturm-und-Drang-Zeit hinter mir hatte, wuchs die Erkenntnis, dass unsere Vorfahren so dumm doch nicht waren, sondern über die Jahrhunderte viel Erfahrung kultiviert hatten. Das triviale Fortschrittsdenken erschöpfte sich in den 60er-Jahren und führte in den 70ern zu einer kulturellen Rückbesinnung. Nach dem Denkmalschutzjahr 1975 hieß es: Vorwärts, wir müssen zurück! Jetzt entdeckten alle die europäische Stadt, schätzten den Erhalt und Weiterbau ihrer Qualitäten. Das war der erste Schritt zur behutsamen Stadterneuerung, welche die Substanz bewahrte und sanierte, statt großflächig abzureißen.
Studentenbuden möblierte man mit Sperrmüll oder Apfelsinenkisten
Trotzdem wurde weiter abgerissen, nur ein bisschen weniger als vorher.
Ja, für höheren Immobilienprofit. Nach dem Krieg wurde zunächst gar nichts abgerissen. Da ging es um die Beseitigung von Not. Jede Ruine wurde wieder zurechtgeflickt. Trümmerfrauen, die Stein für Stein aus den Trümmern herausklaubten, Mörtel abklopften, aufschichteten, prägten das Straßenbild. Ohne sie hätte es den Wiederaufbau in Hamburg nie gegeben. Und heute im Überfluss? Da trägt man die selbstverständliche Wiederverwendung von Materialien wie eine Bundeslade vor sich her, als sei es etwas Neues. Ich komme aus einer Zeit, die zwar den Fortschritt erhoffte, aber selbstverständlich alles repariert hat: Jede Socke wurde gestopft, jede alte Klamotte umgenäht und passend gemacht hat. Wiederverwenden, Weiterverwenden, Reparieren, Umbauen waren selbstverständlich. Studentenbuden möblierte man mit Sperrmüll, oder es reichten ein paar Apfelsinenkisten, Ziegelsteine und Bretter. Wer wie ich etwas älter ist, schmunzelt über die religiöse Inbrunst, mit der nun die Wiederverwertung beschworen wird. Aber wer aus der Überflussgesellschaft kommt, für den ist das sensationell.
Die Wegwerfgesellschaft hatte lange auch die Architektur erfasst …
Alles, auf der ganzen Linie! Das beginnt schon mit den Abschreibungsfristen. Ein Auto wird in fünf Jahren steuerlich abgeschrieben und wertlos, ein Frachter auf der Elbe nach 15 Jahren und eine Immobilie in 30 Jahren. Das ist pervers und hat mit der möglichen Haltbarkeit nichts zu tun. Diese Wegwerfmentalität wird steuerlich subventioniert. Architekten verhalten sich wie Kinder dieser Zeit, wie ihre Bauherren und Politiker.
Immerhin ändert sich der Zeitgeist. Sie haben sich vor einigen Jahren noch vergeblich über Abrisse beklagt, etwa des Euler-Hermes-Gebäudes, des Weißen Riesen in Bahrenfeld. Spüren Sie nun ein Umdenken?
Das ökologische Verantwortungsbewusstsein wächst. Ich habe mit einem gewissen Amüsement im Abendblatt gelesen, dass das gescheiterte Vivo-Einkaufszentrum in Ottensen nun zu einer Schule umgebaut wird. Mein Gott, wie spät ist dieser Senat aufgewacht? Der Bestandsbau ist eine Gurke, aber es steckt jede Menge grauer Energie drin und viel nutzbarer Raum. Es ist schön, dass der Schulsenator das nun erkennt! Aber ich hätte mir gewünscht, dass dieses Denken auch bei unserem ökologisch perfekten HEW-Schulungszentrum in Bramfeld geholfen hätte. Dieses neuwertige Haus war geschütztes Baudenkmal und gebrauchsfertig. Man hat es gegen meinen und der Denkmalschützer Protest einfach abreißen lassen.
„Heute würde der City-Hof nicht mehr abgerissen“
Wie den City-Hof am Klosterwall ...
Dieser Abriss ärgert mich bis heute. Was hat unser Senat gemacht? Er hat das Erbbaurecht aufgegeben, er hat die Chance vom Wohnungsbau in der City in allen vier Türmen verschenkt, er hat graue Energie vernichtet und seinen eigenen Denkmalschutz mit Füßen getreten. Hier geschah das Gegenteil von dem, was man politisch proklamierte. Das ärgert mich als Sozialdemokraten. Eigentum verpflichtet, steht in der Verfassung. Ich bin mir sicher: Heute würde man es anders machen.
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Sie haben manches schon vor Jahrzehnten anders gemacht – etwa in der Fabrik in Ottensen.
Ja, damals hätten zwei Baggerstunden gereicht, um die letzten Umfassungsmauern des abgebrannten Baus zusammenzuschieben. Die frühere Munitionsfabrik war eine Basilikahalle aus Holz. Weil das Geld der Feuerkasse nicht reichte, haben wir alles alte Material verwendet, woher auch immer. Da wir zugleich das Hanseviertel bauten, holten wir dort das Abbruchmaterial aus dem Broschekhaus, Dielen, blecherne Fahrstuhltüren, alte Fenster. Wir wollten das gewohnte Fabrikgefühl natürlich mit Holz rekonstruieren und inszenierten mit den Altersspuren des Gebrauchs, auch mit einer Wendeltreppe, die nirgendwohin führt. Die Neue Heimat hatte ich dazu gebracht, uns den Kran von der Fabrik Menk & Hambrock von gegenüber zu spenden, damit es bei uns mehr nach Fabrik aussieht. Das war im wahrsten Sinne des Wortes Sperrmüllarchitektur. Daraus wurde eine Legende. Als wir die Fabrik eröffneten, kamen die Leute und sagten, es sei genauso geworden, wie es vorher war. Das war Quatsch – aber zugleich das schönste Kompliment meines Lebens.
Wir lieben die europäische Stadt, weil sie gewachsen ist
Sind Architekten manchmal ein bisschen traurig, dass der neue Trend verlangt, kaum noch etwas abzureißen? Wo bleibt da der Raum für die eigene Kreativität?
Nein, überhaupt nicht! Die Leere der Tabula rasa ist im Grunde genommen eine viel größere Herausforderung für das Entwerfen, als mit dem Bestehenden zu arbeiten. Wir konzentrieren uns in letzter Zeit aus verschiedensten, nicht zuletzt aus ökologischen Gründen auf Umbau, Anbau und Weiterbau. Ein typischer Fall hier in Hamburg ist zurzeit die Alsterschwimmhalle, die wir umbauen und modernisieren. Uns war besonders wichtig, die großartige Dachschale von Jörg Schlaich als Baudenkmal zu erhalten.
Solle das Abreißen also zur absoluten Ausnahme erklärt werden?
Grundsätzlich ist Erhalten, Reparieren, Ändern, Anpassen in jeder Beziehung richtig. Erhalt und Umbau sind sparsamer, einfacher, ökologischer. Eine kulturelle Komponente kommt hinzu: Von Carl Friedrich von Weizsäcker stammt der Satz: Tradition ist bewahrter Fortschritt, Fortschritt ist weitergeführte Tradition. Das ist eine evolutionäre Konzeption, die nicht zerstört, sondern etwas weiterentwickeln möchte. Das ist auch der Grund, warum die Menschen Dinge lieb gewinnen. Warum haben wir denn Nippes zu Hause? Weil unser kurzes Leben durch Erinnerungen bereichert und verlängert wird. Hier liegt der Grund, warum wir die europäische Stadt lieben: Sie ist gewachsen.