Hamburg. Verpönt und verhasst – und doch erhaltenswert? Ein Hamburger Denkmalverein will die brutalistischen Bauten der Hansestadt retten.
Es gibt eine Architekturepoche, die ist verhasst – und verschwindet derzeit in atemberaubender Geschwindigkeit aus dem Stadtbild. Es geht um die Bauten aus der Zeit des sogenannten Brutalismus, die zwischen Anfang der 60er- bis Ende der 70er-Jahre auch in der Hansestadt entstanden. Dieser Ausfluss des architektonischen Zeitgeists, der ganz auf rohen Beton (frz. béton brut) setzte, war lange verpönt, doch nun kämpfen Denkmalschützer für einen neuen Blick.
Das Deutsche Architekturmuseum setzte der Epoche vor vier Jahren in einer Ausstellung ein Denkmal, international kämpfen Aktivisten auf Webseiten wie zum Beispiel sosbrutalism.org für die Erfassung und den Erhalt brutalistischer Bauten und veröffentlichen rote Listen.
Architektur Hamburg: Brutalismus erhalten
In Hamburg hat sich nun der Denkmalverein der verpönten Epoche angenommen. „Eine breitere Anerkennung des Brutalismus steht kurz bevor, auch wenn er sicherlich weiter polarisieren wird“, sagt die Geschäftsführerin Kristina Sassenscheidt. „Wir dürfen hier nicht eine ganze Epoche auslöschen“, warnt sie. „Es geht nicht darum, alles zu erhalten, aber zumindest das Wichtigste zu bewahren.“
Viel Zeit bleibt nicht. Manche der erfassten Gebäude sind längst zu Schutt und Asche zerfallen. Das wohl bekannteste war die Post-Pyramide in der City Nord, die wie ein Wahrzeichen der Geschäftsstadt wirkte – ein ebenso wuchtiger wie interessanter Bau. Längst gefallen ist zudem das BP-Haus gleich um die Ecke am Überseering. Auch das „Haus der Kirche“, nach Plänen der Hamburger Ingeborg und Friedrich Spengelin errichtet, musste der Stadtreparatur im Burstah-Quartier weichen. Die Geschwister-Scholl-Schule am Osdorfer Born wurde abgerissen, obwohl sie unter Denkmalschutz stand. „Es ist tragisch, was schon alles verloren gegangen ist“, sagt Sassenscheidt.
Beton altert schlecht
Im kommenden Jahr dürfte das letzte Stündlein für das Postamt 70 am Überseering schlagen. Insgesamt gibt es in der Hansestadt nur ein gutes Dutzend Bauten aus dieser Epoche. „Hamburg ist keine Stadt des Brutalismus. London beispielsweise hat viel mehr Gebäude aus dieser Zeit“, sagt Sassenscheidt. Sie versteht durchaus, warum viele Menschen mit den mitunter monströsen Bauten fremdeln: „Sie sind teilweise mit großer Brachialität in die Stadtstruktur hineingebaut worden – und vielleicht lehnen auch deshalb so viele Menschen sie noch ab.“
Hinzu kommt, dass diese Gebäude oft arg in die Jahre gekommen sind. Anders als damals erwartet, altert Beton schlecht, wird rissig, schmutzig, oft mit Algen bedeckt. Die Häuser wirken überdimensioniert und fehlplatziert, ihre Nutzungen sind einer anderen Zeit entsprungen und stehen oft leer. „Viele dieser Gebäude entsprechen nicht mehr den aktuellen Anforderungen an eine Büronutzung“, sagt Sassenscheidt. Zudem seien viele mit nachträglichen Einbauten verunstaltet oder schon lange nicht mehr gepflegt worden und hätten deshalb ein schlechtes Image. „Aber sie gehören zum kollektiven Gedächtnis der Stadt.“ Die Denkmalschützerin empfiehlt deshalb einen zweiten Blick auf die Gebäude.
„Der Brutalismus hat weltweit zahlreiche Fans“
„Das ist eine ungeheuer fotogene Epoche“, sagt sie, die im vergangenen Jahr einige Bilder vom Postamt 60 am Überseering in den sozialen Medien gepostet hatte – und dafür überraschend viele positive Rückmeldungen und Likes bekam. Sassenscheidt: „Man muss die Gebäude aus ihrer Zeit heraus betrachten und verstehen.“ Das gelte auch für den Denkmalschutz. Er habe lange gebraucht, sich mit dem Brutalismus zu beschäftigen: „An einigen Stellen war er zu spät. Manches wurde nicht rechtzeitig systematisch erforscht. Das ist sicherlich auch eine Generationsfrage.“
Jüngere Menschen gingen unbefangener und aufgeschlossener mit dem Erbe ihre Großeltern um, meint Sassenscheidt. „Im Internet hat der Brutalismus weltweit zahlreiche Fans.“ Sie hofft darauf, dass bedrohte Gebäude langfristig zu retten sind – etwa der „international bedeutsame“ Bau der Fachhochschule Bergedorf, 1972 nach Plänen von Graaf und Schweger fertiggestellt, oder das Karstadt-Warenhaus, das mit seiner Betonfassade die Osterstraße dominiert. Auch der „Affenfelsen“, das frühere Verlagsgebäude von Gruner + Jahr an der Außenalster, wird der Epoche zugerechnet. Erfolgreich war der Kampf für die Wilhelmsburger Kirche St. Maximilian Kolbe, im Volksmund „Klorolle“ genannt. Auch die frühere Simeonkirche von Friedhelm Grundmann im Stadtteil Hamm wird nach dem Verkauf durch die Evangelisch-Lutherische Kirche nun von griechisch-orthodoxen Christen weitergenutzt. „Viele Kirchen stehen unter Denkmalschutz, sie zeigen, dass es eine Zeit gab, in der dieser Baustil den Menschen sehr gefiel“, sagt Sassenscheidt.
Brutalismus: „Epoche war nicht nur ein Fehler“
Der Denkmalverein will in der Öffentlichkeit für den Brutalismus werben. „Es geht um die Wiederentdeckung einer Ära“, sagt Sassenscheidt. In einem ersten Schritt möchte der Verein das Bewusstsein wecken, „dass diese Epoche nicht nur ein Fehler war, sondern vieles architektonisch hervorragend gestaltet worden ist“. Für den zweiten und dritten Blick sollen die Menschen in die Bauten kommen: „Wir planen beispielsweise gemeinsam mit dem mobilen Kino ,Flexibles Flimmern‘ eine Reihe mit Filmen, die sich mit Zukunftsvisionen befassen, direkt in den Objekten.“ Dann könnte etwa die Fachhochschule Bergedorf oder eine Kirche zum Lichtspielhaus und Erlebnisraum werden. „Die Suche nach Verbündeten hat gerade erst begonnen“, sagt Sassenscheidt.
Noch haben viele Hamburger ihre Liebe zum Waschbeton und der groben skulpturalen Form nicht entdeckt. Und manches wirkt noch elitär-entrückt; die deutsche Webseite „SOS Brutalism“ etwa ist durchgängig in englischer Sprache verfasst. Der einzige deutsche Satz ist die Datenschutzerklärung.