Hamburg. Gegen einen Mitarbeiter der Waffenbehörde wurden Ermittlungen wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung im Amt aufgenommen.

Am frühen Donnerstag ab 6 Uhr morgens machte die Hamburger Generalstaatsanwaltschaft ernst: Mehr oder weniger gleichzeitig wurden zehn Durchsuchungsbeschlüsse des Amtsgerichts Hamburg vollstreckt – darunter auch bei der Waffenbehörde in Hammerbrook. Der gravierende Vorwurf im Zusammenhang mit dem Amoklauf von Alsterdorf vom 9. März, bei dem Täter Philipp F. in einer Gemeinde der Zeugen Jehovas sieben Menschen erschoss und anschließend sich selbst richtete: Gegen einen Mitarbeiter der Waffenbehörde gebe es zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht der fahrlässigen Tötung in sechs Fällen sowie der fahrlässigen Körperverletzung. Zudem wurde gegen drei Mitglieder eines im Hanseatic Gun Club tätigen Prüfungsausschusses Ermittlungen eingeleitet. Der Anfangsverdacht hier: Falschbeurkundung im Amt.

Die tragische Frage hinter der Aktion: Hätte man den Amoklauf, den Innensenator Andy Grote wenige Tage später als „schlimmstes Verbrechen in der jüngeren Geschichte unserer Stadt“ bezeichnete, doch verhindern können? Die schweren Vorwürfe der Staatsanwaltschaft lassen diese Frage jedenfalls nicht mit „nein“ beantworten. So heißt es in einer offiziellen Pressemitteilung, dass ein Mitarbeiter der Waffenbehörde Warnungen vor dem Amoktäter Philipp F. nicht weitergeleitet haben soll.

Amoklauf in Alsterdorf: War die anonyme Warnung lanciert?

Die gravierenden Vorwürfe im Detail: Der Mitarbeiter, der früher selbst beim Hanseatic Gun Club gearbeitet hat, soll Informationen betreffend den Amoktäter Phillipp F., die er über einen Mitarbeiter des Hanseatic Gun Clubs (und Beschuldigten des zweiten Ermittlungsverfahrens) aus dem familiären Umfeld von Phillipp F. erhalten hatte, weder dokumentiert noch ordnungsgemäß innerhalb der Waffenbehörde weitergeleitet haben.

Nach Abendblatt-Informationen hatte sich der Bruder von Philipp F. an jenen Sportschützenverein in der Innenstadt gewendet – und auf die psychischen Probleme des späteren Amokläufers aufmerksam gemacht. Der Hanseatic Gun Club soll wenig später den nun im Fokus stehenden Mitarbeiter der Waffenbehörde kontaktiert und gefragt haben, wie man in so einem Fall vorzugehen habe. Er soll dann ein anonymes Schreiben an die Waffenbehörde vorgeschlagen haben.

Staatsanwaltschaft: Man hätte Todesschütze Philipp F. die Waffe wegnehmen müssen

Als dieses schließlich am 24. Januar 2023, also gut sechs Wochen vor dem Amoklauf, bei der Waffenbehörde eingegangen ist und zunächst auch von ihm bearbeitetet wurde, wies er nicht auf den möglichen Urheber und die weiteren Hintergründe des Schreibens hin. Nach Abendblatt-Informationen soll der Behördenmitarbeiter bei den Befragungen angegeben haben, nicht den anonymen Brief und die vorherige Anfrage aus dem Hanseatic Gun Club miteinander in Verbindung gebracht zu haben. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft wäre Philipp F. aber anders kontrolliert worden, wenn der Sachgebietsleiter der Waffenbehörde die Hintergründe von dem Beamten erfahren hätte. Dann hätte man ihm bei der unangekündigten Kontrolle vor dem Amoklauf die Waffe wegnehmen müssen.

Die Hamburger Polizei bestätigte dem Abendblatt, dass Polizeipräsident Ralf Martin Meyer bereits Ende März interne Ermittlungen in der Waffenbehörde angeordnet hatte. Dabei habe sich bestätigt, dass ein Beamter dort „disziplinarrechtliche Verfehlungen“ begangen habe, wie Polizeisprecherin Sandra Levgrün sagte. Der betreffende Polizist sei am 11. April darüber informiert worden, dass ein Disziplinarverfahren gegen ihn eröffnet werde. Gleichzeitig wurde er aus der Waffenbehörde versetzt.

Zeugen Jehovas: Bedrückend für die Angehörigen der Amok-Opfer

Polizeisprecherin Levgrün sagte, die Staatsanwaltschaft habe die Polizei nicht über die Durchsuchungen informiert. Die Disziplinarmaßnahmen gegen den verdächtigen Beamten seien mit der Dienststelle Interne Ermittlungen (DIE) abgestimmt gewesen. Diese wiederum stehe in engem Kontakt mit der Staatsanwaltschaft.

Die Neuigkeiten der Generalstaatsanwaltschaft sprachen sich auch bei den Zeugen Jehovas schnell herum. „Das ist vor allem für die Betroffenen und ihre Angehörigen sehr bedrückend. Gleichzeitig sind wir der Staatsanwaltschaft für die konsequente Aufklärung sehr dankbar. Zeugen Jehovas verfolgen diese Bemühungen sehr genau und vertrauen dabei den rechtsstaatlichen Institutionen unseres Landes“, sagte Michael Tsifidaris, Hamburgs Sprecher der Zeugen Jehovas, dem Abendblatt. Und weiter: „Was uns natürlich auch sehr wichtig bei der Aufklärung ist: Wie konnte sich der Täter in den vergangenen zwölf Monaten so radikalisieren? Auch hier hoffen wir auf Erkenntnisse der ermittelnden Behörden.“

Hanseatic Gun Club schweigt zu Vorwürfen

Diese konzentrierten sich am Donnerstag auch auf den Hanseatic Gun Club, der sich auf Abendblatt-Nachfrage nicht äußerte. Laut Staatsanwaltschaft wird gegen drei Clubmitglieder des Prüfungsausschusses wegen des Anfangsverdachts der Falschbeurkundung im Amt ermittelt. Der Hintergrund: Phillipp F. soll die praktische Sachkundeprüfung am 28. April 2022 nicht bestanden haben, nach einer angeblich erfolgreich verlaufenen „Nachprüfung“ aber dennoch ein Sachkundezeugnis mit demselben Datum gegenüber der Waffenbehörde dokumentiert haben. Das Fazit der Staatsanwaltschaft: „Darauf basierend hätte Phillipp F. im Dezember 2022 mutmaßlich keine Waffenbesitzkarte erhalten und dementsprechend auch keine Waffe (und keine Munition) besitzen dürfen.“

Innensenator Grote und Polizeipräsident zum Rücktritt aufgefordert

Die neuen Erkenntnisse und Entwicklungen sorgten bei den Oppositionsparteien für Entsetzen. „Innensenator Grote hat seine eigene Behörde nicht im Griff. Hier ist es zu grundlegenden Fehlern im Umgang mit Erkenntnissen und Informationen über den späteren Amokschützen gekommen. Dafür trägt der Innensenator die politische Verantwortung“, sagte Dennis Gladiator, der innenpolitische Sprecher der CDU. Und Deniz Celik (Die Linke) wurde sogar noch deutlicher: „Jetzt darf kein Stein auf den anderen bleiben. Angesichts der erneuten schwerwiegenden Vorwürfe sehen wir uns in unserer Auffassung bestärkt: Der Innensenator und der Polizeipräsident müssen die politische Verantwortung für die schweren Verfehlungen ihrer Behörde übernehmen und zurücktreten.“

Aus der Behörde hieß es am Donnerstag lediglich, dass die Zusammenarbeit und Verflechtungen mit dem Hanseatic Gun Club eng untersucht werden sollen. Innensenator Andy Grote wollte sich mit Verweis auf das laufende Verfahren nicht äußern. Das muss er allerdings am 11. Mai, wenn sich der nächste Innenausschuss der Bürgerschaft ein weiteres Mal mit dem Amoklauf befasst.