Hamburg. Der Austausch über den mutmaßlichen Messerstecher ist ein Ringen zwischen Hamburg und Kiel. Das soll sich ändern.

Deutsche Behörden, und da machen die Hamburger normalerweise keine Ausnahme, gelten allgemein als sehr prinzipientreu. Eine Vorschrift ist eine Vorschrift und muss eingehalten werden. Punkt. Sinnhaftigkeit hin oder her. Millionen von Bürgerinnen und Bürger haben sich ob dieser besonderen Form der Bürokratie schon die Haare gerauft.

Umso bemerkenswerter ist, wie flexibel sich manche offizielle Stelle in der Hansestadt im Fall der schrecklichen Messer-Attacke von Brokstedt zeigte – das kann man sowohl positiv als auch kritisch sehen.

Hamburg wollte lange keine Vertreter nach Kiel schicken – tat es dann aber doch

Da war zum Beispiel der Streit um die Frage, ob Hamburg Vertreter in den Innen- und Rechtsausschuss des schleswig-holsteinischen Landtags entsenden sollte, die Auskunft über den mutmaßlichen Täter Ibrahim A. geben können. Der 33-Jährige hatte in Hamburg in Haft gesessen und soll wenige Tage nach seiner Entlassung am 25. Januar in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg zwei junge Menschen getötet und vier weitere zum Teil schwer verletzt haben.

Schon eine erste Anfrage aus Kiel kurz nach der Tat hatte die Justizbehörde jedoch abgelehnt, was bei einigen Politikern an der Förde für Empörung gesorgt hatte. Von mangelndem Aufklärungswillen in Hamburg war die Rede. An der Haltung der Behörde änderte das jedoch nichts.

Der Senat wollte zunächst die Bürgerschaft informieren – was einige Empörung auslöste

Auch eine zweite Anfrage des Kieler Ausschusses, nun bezüglich einer Sitzung am vergangenen Mittwoch, lehnte Justizstaatsrat Holger Schatz am Montag freundlich, aber bestimmt ab: Das sei leider nicht möglich, da auch der Justizausschuss der Bürgerschaft sich noch mit der Thematik befasse. Er bitte daher „erneut um Verständnis, dass wir zunächst dem eigenen Parlament Auskunft geben“.

Das ist zwar nicht explizit in einer Vorschrift geregelt, aber dennoch eine Selbstverständlichkeit. Schließlich ist jede Regierung zunächst der Volksvertretung verpflichtet, die sie trägt – der Senat also der Bürgerschaft, und die Landesregierung in Kiel ihrem Landtag. Das sehen die dortigen Abgeordneten vermutlich genauso.

Kehrtwende des Senats: Plötzlich wurden die Chancen einer Aussage höher bewertet

Doch in diesem Fall nahmen einige die erneute Absage aus Hamburg als willkommenen Anlass, um die Geschichte von der aufklärungsunwilligen Hansestadt weiterzuspinnen, bei der in Sachen Ibrahim A. viel schief gelaufen sei, worüber man wohl nicht so gern reden wolle. Auch die Hamburger Opposition lief sich schon warm.

Doch noch bevor die Kritiker so richtig loslegen konnten, hatte Rot-Grün eine bemerkenswerte Kehrtwende eingeleitet. In den Vorbesprechungen zur Senatssitzung, die SPD und Grüne jeden Dienstagmorgen im Rathaus abhalten, war auf beiden Seiten die Sichtweise gereift, dass Hamburg doch Vertreter nach Kiel entsenden sollte. Vereinzelte Bedenken, man solle da nur vorgeführt werden, wurden nun beiseite gewischt. Die Chance, die eigene Sichtweise zu präsentieren und einiges gerade zu rücken, wurde höher bewertet.

Senat überrascht über die Sicherheit in Kiel, „dass man dort alles richtig gemacht hätte“

In der anschließenden Landespressekonferenz meldete sich Schulsenator Ties Rabe (SPD) sogar ungefragt dazu zu Wort. Mit Blick auf die Vorwürfe aus dem Norden, Hamburg habe es versäumt, die Behörden in Kiel und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) über die Inhaftierung von A. zu informieren, betonte Rabe, „dass der Senat schon etwas überrascht ist über die Sicherheit, die da in Kiel herrscht, dass man dort all es richtig gemacht hätte“.

Und so bekamen die Staatsräte Holger Schatz (Justiz) und Thomas Schuster (Inneres) den Auftrag, an die Förde zu reisen. Kurios dabei: Die meisten Beteiligten der Senatsvorbesprechung wussten gar nicht, dass die Justizbehörde am Tag zuvor bereits abgesagt hatte – und die, die es wussten, behielten es wohl lieber für sich.

„Bürgerschaft first“? Warum ein Prinzip plötzlich nicht mehr gilt

Zumindest etwas biegsam war auch die offizielle Begründung für diese 180-Grad-Wende: Auf Abendblatt-Anfrage erklärte die Justizbehörde, dass die nächste Sitzung des Justizausschusses ursprünglich erst für den 23. März 2023 vorgesehen war, nun aber vermutlich schon „zeitnah“ stattfinde. Gemeint war damit die von allen Fraktionen geforderte Sondersitzung, nachdem am Sonntag herausgekommen war, dass Ibrahim A. sich bei Haftantritt mit dem Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt, Anis Amri, verglichen haben soll. „Damit besteht nicht mehr die Gefahr eines erheblichen zeitlichen Auseinanderfallens der parlamentarischen Beratungen in den beiden Ländern“, so die Behörde.

Fazit: Wenn man die eigenen Abgeordneten nur ein paar Tage und nicht sechs Wochen nach den auswärtigen informiert, gilt das Prinzip „Bürgerschaft first“ für den Senat also nicht mehr.

Staatsräte belegten, dass Hamburg Kiel sehr wohl umfassend informiert hatte

Indes: Im Interesse der Aufklärung war diese pragmatische Entscheidung allemal. Denn die Staatsräte konnten recht überzeugend nachweisen, dass Hamburger Behörden seit dem 21. Januar 2022 – an dem Tag war in der Hansestadt ein Haftbefehl gegen Ibrahim A. wegen einer Messerattacke im Obdachlosenmilieu ergangen – die zuständige Ausländerbehörde in Kiel sehr wohl informiert hatten. Insgesamt zehn Meldungen habe man abgesetzt, auch das Bamf sei eingebunden worden.

Das ist insofern wichtig, als diese Bundesbehörde zu dem Zeitpunkt aufgrund der dicken Strafakte des Palästinensers bereits ein Verfahren zur Rücknahme des subsidiären Schutzes eingeleitet hatte, das auch mit einer Ausweisung hätte enden können. Dieses kam jedoch nicht voran, weil das Bamf nach eigenen Angaben nicht mehr wusste, wo A. sich aufhielt.

Bundesamt für Migration wurde nur indirekt und unvollständig informiert

Hier kommt erneut der Umgang mit Vorschriften ins Spiel. Denn streng genommen hätte schon die Staatsanwaltschaft Hamburg das Bamf über die Ermittlungen gegen A. informieren müssen – wenn sie denn von seinem Flüchtlingsstatus gewusst hätte. Wusste sie aber nicht. Auch andere Hamburger Stellen haben zwar eifrig die Ausländerbehörde in Kiel mit Informationen über ihren Häftling versorgt, aber nicht das Bamf. Dieses erfuhr nur indirekt von dem Vorgang, als es bei einer Mail aus Kiel an Hamburg in cc genommen wurde – in der aber die U-Haft noch nicht erwähnt wurde. Die Bundesbehörde beharrte daher im Ausschuss darauf, nicht informiert worden zu sein.

Mit anderen Worten: Hamburg hat sich zwar sehr bemüht, aber formal nicht ganz korrekt verhalten. Und die Ausländerbehörde in Kiel hat es ebenfalls versäumt, ihr Wissen mit dem Bamf zu teilen.

Tschentscher und Günther wollen keine gegenseitigen Schuldzuweisungen mehr

Immerhin: Das reichte den meisten Ausschuss-Mitgliedern schon, um ihre Kritik an der Hansestadt zu mäßigen. Von „Fehlern auf beiden Seiten“ war nun oft die Rede. Den Regierungschefs Peter Tschentscher (SPD, Hamburg) und Daniel Günther (CDU, Schleswig-Holstein) war diese Entwicklung durchaus recht. Beide sind überzeugt davon, dass gegenseitige Schuldzuweisungen zweier Bundesländer bei den Bürgern nicht gut ankommen (siehe Interview auf Seite 9).

Hier hatte sich vor allem die Kieler Sozialministerin Aminata Touré (Grüne) hervorgetan, die Hamburg sehr schnell vorgeworfen hatte, die „Unterrichtungspflicht“ verletzt zu haben – sehr zum Ärger ihrer Hamburger Parteifreunde. Denn deren Justizsenatorin Anna Gallina geriet durch die Vorwürfe massiv unter Druck, beteiligte sich aber nicht an dem öffentlichen Schwarzer-Peter-Spiel.

Hamburg will vor allem wissen, was kurz vor der Tat in Kiel geschah

Dabei hat man in Hamburg auch Fragen an die Kollegen in Kiel – insbesondere zu den Stunden vor der Tat. Da wollte Ibrahim A. an der Förde seine Fiktionsbescheinigung verlängern lassen, eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung. Dabei wurde er wegen seines ungeklärten Wohnsitzes von einer Behörde zur nächsten geschickt – bis er am Nachmittag in den Regionalzug RE70 nach Hamburg stieg...

Ob er seine Tat von langer Hand geplant hatte, worauf die Vergleiche mit dem Berlin-Attentäter („Es gibt nicht nur einen Anis Amri, es gibt mehrere, ich bin auch einer“) in der Haft hindeuteten, oder ob es möglicherweise einen Zusammenhang zu den Ereignissen in Kiel gibt – das herauszufinden, ist nun vorrangig die Aufgabe der Staatsanwaltschaft in Itzehoe.

Am Mittwoch tagt der Justizausschuss erneut – mit Vertretern aus Schleswig-Holstein?

Die Politik setzt ihre Aufklärungsarbeit dennoch auch fort, in Hamburg am Mittwoch mit der vorgezogenen Sitzung des Justizausschusses. Zu dem sind übrigens auch Vertreter der Behörden aus Schleswig-Holstein eingeladen. Vielleicht finden die beiden Nachbarländer also doch noch einen gemeinsamen Weg, mit diesem schrecklichen Ereignis umzugehen.