Hamburg. JVA-Mitarbeiter warnten vor dem Attentäter von Brokstedt. Behörde: Es gab keinen Anlass für Einweisung in Psychiatrie.
Der mutmaßliche Messerstecher von Brokstedt, Ibrahim A., litt nach Aussage eines Experten an einer „wahnhaften Störung“. Das sagte der Leiter des Hamburger Instituts für Forensische Psychiatrie und Suchtmedizin, Jochen Brack, dem NDR. Demnach hat Brack den staatenlosen Palästinenser im Juli 2022 untersucht, als der 33-Jährige wegen einer anderen Messerattacke im Obdachlosenmilieu in Hamburg in U-Haft saß.
„Zum Zeitpunkt meiner Begutachtung im Juli 2022 war er sicher erkrankt an einer Abhängigkeitserkrankung – mit dem Schwerpunkt wohl Kokain, aber wohl auch Opioide“, sagte der Facharzt für Psychiatrie, Forensische Psychiatrie und Suchtmedizin. „Und zum Zweiten stellte sich das Erkrankungsbild einer wahnhaften Störung beziehungsweise psychotischen Reaktion im Rahmen der Inhaftierung dar.“ Daher sei A. auf einer Sicherungsstation gewesen.
JVA-Mitarbeiter: „Das ist keiner, den man einfach so freilaufen lassen kann“
In dem TV-Beitrag bestätigte zudem ein Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt Billwerder frühere Schilderungen der Justizbehörde, wonach Ibrahim A. ein sehr anstrengender Insasse gewesen sei, der die Beamten zeitweise 24 Stunden am Tag beschäftigt habe. Der JVA-Mitarbeiter beklagte darüber hinaus, dass den Beobachtungen des JVA-Personals zu wenig Beachtung geschenkt worden sei.
„Da wurden wir mit Sicherheit zu wenig gehört. Der Psychiater hätte das wahrscheinlich ganz anders gesehen, wenn er unsere Erkenntnisse gehabt hätte. Dann hätte er gesehen: Das ist keiner, den man einfach so freilaufen lassen kann, sondern den man wieder geschlossen und dementsprechend professionell behandelt unterbringen muss, um so etwas Schlimmes zu vermeiden.“
Psychiater besuchte Ibrahim A. 16-mal: „Keine Eigen- oder Fremdgefährdung“
Wie berichtet, war Ibrahim A. während der zwölf Monate in Haft nach Auskunft der Hamburger Justizbehörde 16-mal von einem weiteren Psychiater besucht worden – das letzte Mal am 18. Januar. Am Tag darauf wurde er auf Anordnung eines Gerichts aus der Haft entlassen. Am 25. Januar soll er in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg zwei junge Menschen mit einem Messer getötet und vier weitere schwer verletzt haben.
Dass vor der Haftentlassung kein „Prognosegutachten“ erstellt worden sei, hatte Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) bereits am 2. Februar im Justizausschuss der Bürgerschaft mitgeteilt. Am Wochenende verteidigte ihre Behörde diese Entscheidung erneut: „Im Rahmen seiner regelmäßigen Behandlungstermine hat der Facharzt bei Ibrahim A. wiederholt aktenkundig festgestellt, dass keine Eigen- oder Fremdgefährdung besteht, zuletzt im Rahmen eines regelhaften Behandlungstermins am Tag vor der Entlassung“, so die Behörde.
Justizbehörde: Ärzte hatten Zugriff auf Schilderungen des JVA-Personals
Vor diesem Hintergrund habe für die Justiz „weder ein Anlass noch eine rechtliche Handhabe“ bestanden, A. zum Beispiel in einer Psychiatrie unterzubringen. Nach der Aufhebung des Haftbefehls durch das Gericht sei er „unverzüglich in Freiheit zu entlassen“ gewesen.
Auch den Vorwurf, die Ärzte hätten keinen Zugriff auf Beobachtungen des JVA-Personals gehabt, wies die Behörde zurück: „Besondere Wahrnehmungen“ würden im Rahmen der regelmäßigen Dienstbesprechungen erörtert. „Hierzu haben die behandelnden Ärzte auch Zugriff auf die von den Stationsbediensteten dokumentierten Alltagswahrnehmungen.“