Hamburg. Maryam Blumenthal fragt nach der tödlichen Attacke von Brokstedt, woher der Hass kommt. Die Politik stehe „unter maximalem Druck“.

Seit Mai 2021 ist Maryam Blumenthal Landesvorsitzende der Hamburger Grünen mit ihren rund 4500 Mitgliedern. Zudem ist die 37-Jährige Mitglied der Bürgerschaft. Im ersten Teil des großen Abendblatt-Interviews geht es um die tödliche Messerattacke in einem Regionalzug von Hamburg nach Kiel.

Hamburger Abendblatt: Die grüne Sozial­ministerin von Schleswig-Holstein wirft der Hamburger Justizsenatorin, ebenfalls Grüne, vor, im Fall Ibrahim A. die „Unterrichtungspflicht“ verletzt zu haben. Was ist da los?

Maryam Blumenthal: Dieser Fall ist so schrecklich und berührt uns alle. Die Ministerien und Behörden versuchen mit Hochdruck für Aufklärung und Transparenz zu sorgen – nicht zuletzt den Angehörigen der Opfer gegenüber. Die zentralen Fragen lauten: Wurden Fehler gemacht, die die Tat ermöglicht haben? Und wie kann so etwas künftig verhindert werden?

Noch mal: Wie bewerten Sie die Kritik aus Kiel, die ja unter Parteifreundinnen statt­gefunden hat?

Maryam Blumenthal: Alle stehen in dieser schwierigen Situation unter maximalem Druck. Wir sind alle gut beraten, noch einmal durchzu­atmen. Es ist für die Aufklärung dieses schrecklichen Verbrechens nicht hilfreich, sich gegenseitig öffentlich Vorwürfe zu machen. Unsere Justizsenatorin tut das auch nicht und kümmert sich um Sachaufklärung. Das ist auch richtig so.

Es wird gern die enge Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern proklamiert. Jetzt hat sich doch gezeigt, dass das Krisen­management zumindest am Anfang nicht funktioniert hat, oder?

Maryam Blumenthal: Ich glaube, am Anfang hat jedes Bundesland versucht, sich auf seine eigene Auf­gabe zu fokussieren. Für die Zukunft sehen­ wir gerade deutlich, dass Kommunikation und Meldewege zwischen Be­hörden verbessert werden müssen.

Aber es wurde doch von Kiel ziemlich schnell mit dem Finger nach Hamburg gezeigt und nicht so sehr die Aufklärung vor Ort betrieben.

Maryam Blumenthal: Man könnte an vielen Stellen mit dem Finger auf das jeweils andere Land zeigen, einfach um jemandem die Schuld zu geben. Das bringt uns aber keinen Schritt weiter. Mir ist es ein großes Anliegen, den Fall aus der Perspektive der Angehörigen der Opfer zu betrachten. Alle Hintergründe, die zu der Tat geführt haben, müssen komplett aufgearbeitet werden, um daraus zu lernen. Auf jeden Fall müssen die vielen Fragen der Hinterbliebenen beantwortet werden. Daran arbeitet unsere Justizsenatorin.

Hätte Ibrahim A. als geduldeter Flüchtling aufgrund seiner vielen Straftaten längst abgeschoben werden müssen?

Maryam Blumenthal: Wohin? Das ist die große Frage bei einem staatenlosen Palästinenser. Ich will nicht sagen, dass Abschiebungen überhaupt keinen Sinn machen. Es kann sein, dass das in diesem Fall der richtige Weg gewesen wäre, wenn es denn möglich gewesen wäre. Wir müssen uns aber zusätzlich die Frage stellen, warum so jemand eine solche Tat begeht und ob auch integrationspolitische Konsequenzen aus dem Fall zu ziehen sind.

Ibrahim A. hat sich ausweislich der Protokolle aus seiner Haftzeit den Berlin-Attentäter Anis Amri zum Vorbild genommen. Daraus spricht ja zumindest ein gewisser Hass auf die Gesellschaft. Da ist schon die Frage, ob man so jemanden frei im Land herumlaufen lassen sollte.

Maryam Blumenthal: Es gab laut Akten keinen Hinweis in Richtung Terrorismus. Und auch die Staatsanwaltschaft Itzehoe geht nicht davon aus, dass das eine terroristisch motivierte Tat war. Ich frage mich immer wieder: Warum hat jemand so einen Hass auf unsere Gesellschaft, dass er zwei junge Menschen ermordet?

Sie versuchen, die Menschen zu verstehen. Müsste man nicht umgekehrt versuchen, Grenzen zu ziehen? Was sagen Sie den Hinterbliebenen zu der Frage, was die Politik unternimmt, um eine solche Tat in Zukunft zu verhindern?

Maryam Blumenthal: Wir können als Politikerinnen und Politiker solche Taten nicht grundsätzlich verhindern, weil wir nicht in die Köpfe der Menschen gucken können. Im Übrigen ist es eine schräge Sicht, wenn wir nur die zugewanderten und geflüchteten Menschen betrachten. Auch nicht migrierte Menschen verüben grausame Verbrechen. Ich verstehe aber den Wunsch nach einer einfachen, schnellen Lösung. Politische Schnellschüsse wären aber der falsche Weg. Der Fall muss gründlich aufgearbeitet werden, damit dann daraus Konsequenzen gezogen werden können. Und das ist ja genau das, was aktuell passiert.

Aber es muss doch um Risikominderung gehen. Was muss da geschehen?

Maryam Blumenthal: Wenn Menschen zu uns kommen, dann sollten sie meiner Ansicht nach von Anfang an das Gefühl haben können, dazuzugehören. Und da gibt es noch viele Hürden. Es dauert zu lange, bis sie einen Sprachkurs machen können oder eine Arbeitserlaubnis bekommen. Andererseits gibt es Menschen, die sich nicht als Teil der Gesellschaft sehen, die nicht gesellschaftsfähig sind. Auch das müssen wir ehrlich eingestehen. Das gilt aber für Geflüchtete wie Nicht-Geflüchtete.

Ibrahim A. hatte mehrere Straftaten begangen, sich nicht pflegeleicht im Gefängnis benommen und noch dazu indirekt ein Attentat angekündigt. Wie soll der Rechtsstaat mit seinen auch repressiven Mitteln mit ihm umgehen?

Maryam Blumenthal: Ich gehe sehr davon aus, dass rechtsstaatlich gehandelt wurde. Ich weiß nicht, ob jemand aufgrund einer einzelnen Äußerung und schlechtem Benehmen länger in Untersuchungshaft bleiben darf. Auch das muss lückenlos geprüft werden.

Kann Justizsenatorin Anna Gallina im Amt bleiben?

Maryam Blumenthal: Ja, Frau Gallina macht ihren Job und arbeitet alles sehr detailliert auf.

Hat sie den Rückhalt der gesamten grünen Bürgerschaftsfraktion und der gesamten Partei?

Maryam Blumenthal: Ja.

Morgen lesen Sie: Was Maryam Blumenthal zum Zustand der rot-grünen Koalition, zum Schlick-Streit, zu Windrädern in Naturschutzgebieten und zu den Ambitionen der Grünen bei den Wahlen 2024 und 2025 sagt.