Hamburg. Die Hamburger Opposition hält die Grüne für “nicht mehr tragbar“. So erklärt die Senatorin den Umgang mit dem Zug-Amokläufer.

Nachdem neue Details zum mutmaßlichen Messerstecher von Brokstedt bekannt geworden sein, fordert die Opposition in der Hamburgischen Bürgerschaft Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) mehr oder weniger offen zum Rücktritt auf. Wie berichtet, soll A., der Ende Januar in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg zwei junge Menschen mit einem Messer getötet und fünf weitere schwer verletzt haben soll, bereits zuvor in der Untersuchungshaft in Hamburg indirekt Attentate angekündigt haben.

Messerattacke Brokstedt: Gallina reagiert auf Rücktrittsforderungen

„Wenn es sich bewahrheitet, dass Ibrahim A. in der Haft mit Attentaten drohen konnte und trotzdem ohne Konsequenzen auf freien Fuß gesetzt wurde, wird Justizsenatorin Gallina nun endgültig nicht mehr zu halten sein“, sagte CDU-Fraktionschef Dennis Thering. Cansu Özdemir, Fraktionsvorsitzende der Links-Partei, forderte: „Senatorin Gallina muss Konsequenzen ziehen.“ Und Anna von Treuenfels-Frowein (FDP) sagte: „Ich fordere Frau Gallina auf, endlich Verantwortung zu übernehmen, und sich nicht mit Nichtwissen herauszureden. Wenn sie dazu nicht bereit ist, ist sie als Justizsenatorin ganz eindeutig am falschen Platz.“

Doch Gallina will im Amt bleiben. „Meine Vorstellung von politischer Verantwortung ist es, für Aufklärung zu sorgen und Verbesserungen auf den Weg zu bringen, wo dies nötig ist“, sagte Gallina im Gespräch dem Abendblatt.

Brokstedt-Amokläufer Ibrahim A. verglich sich mit Anis Amri

Der 33 Jahre alte Palästinenser A. war 2022 in Hamburg wegen einer anderen Messerattacke verurteilt worden und erst kurz vor der Attacke im Regionalzug freigelassen worden. Während seiner Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Billwerder soll er sich mit Anis Amri, dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, verglichen haben. Dieser hatte im Dezember 2016 zwölf Menschen getötet.

„Es gibt nicht nur einen Anis Amri, es gibt mehrere, ich bin auch einer“, soll A. am 6. August 2022 laut „Wahrnehmungsbogen“ der Vollzugsanstalt gesagt haben, als die Hoftür des Gefängnisses verschlossen wurde.

Unmittelbar zuvor, bei der Vorbereitung für die Freistunde auf dem Hof, beobachtete ein Bediensteter, dass A. „vor sich hin stammelte“. Und weiter sagte A.: „Großes Auto, Berlin, das ist die Wahrheit.“ Gegenüber einem Bediensteten soll A. auf dem Weg zum Gefängnishof zweimal gesagt haben, ob er auch „unter die Reifen“ wolle. Der Anschlag in Berlin wurde mit einem Lkw verübt.

Amri-Vergleich von Ibrahim A. wurde nicht an Behörde gemeldet

Nach Informationen des Abendblatts hat A. die Sätze auf Deutsch gesagt, so wie sie in der Dokumentation auch aufgeschrieben sind. Die JVA hat diese Äußerungen nicht als „außerordentliches Vorkommnis“ an die Aufsichtsabteilung der Justizbehörde gemeldet und auch nicht das Landesamt für Verfassungsschutz informiert. Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) hat demnach erst nach der schrecklichen Tat von Ibrahim A. davon erfahren.

Weder in der Aktuellen Stunde der Bürgerschaft am vergangenen Mittwoch noch in der Sondersitzung des Justizausschusses am Tag darauf hatte sie die die nun bekannt gewordenen Äußerungen erwähnt.

Warum erfuhr die Öffentlichkeit nichts von dem Attentäter-Vergleich?

„In diesem Fall führte die Bewertung erfahrener Richter und Staatsanwälte in der Behörde zu dem Ergebnis, dass es aus ermittlungstaktischen Gründen zu dem Zeitpunkt nicht angezeigt war, diese Information an die Öffentlichkeit zu geben“, sagte Gallina. Die Justizbehörde habe sich erst zu der Schilderung der Vorgänge entschlossen, nachdem die dokumentierten Aussagen aus der Gefangenenpersonalakten an die Medien gelangt waren.

„Für die Staatsanwaltschaft ist es zentral, die Menschen, mit denen Ibrahim A. vor, während und nach seiner Haft Kontakt hatte, zu vernehmen, um die wichtige Frage nach dem Tatmotiv zu ergründen. Ich habe große Sorge, dass dies nun nicht mehr unvoreingenommen geschehen kann“, sagte die Senatorin.

Gallina zu Äußerungen von Ibrahim A.: "Nehme keine Schnellschuss-Bewertung vor"

In der Frage, ob es ein Fehler der Haftanstalt war, die Äußerungen von Ibrahim A. nicht an die Justizbehörde zu melden, wollte sich Gallina nicht festlegen. „Wir werden das nachbereiten. Die Aufklärung ist noch nicht abgeschlossen, und ich nehme keine Schnellschuss-Bewertung vor“, sagte Gallina dem Abendblatt.

„Die JVA hat die Äußerungen in der Gesamtschau bewertet und sie im Zusammenhang mit anderen Beschimpfungen und aggressiver Wortwahl des Gefangenen eingeordnet“, sagte Gallina. „Ibrahim A. fiel während seiner Untersuchungshaft wiederholt als verbal aggressiv und unangemessen auf und versuchte, seinen Forderungen mit Beschimpfungen Nachdruck zu verleihen“, sagte die Senatorin, die dabei auch auf ihre Aussagen vor dem Justizausschuss verwies. Gallina betonte, dass abgesehen von den jetzt zitierten Aussagen „keinerlei Äußerungen dokumentiert sind, die einen extremistischen Bezug nahelegen können“.

Linke Özdemir über Amtsführung der Justizsenatorin: "Es reicht jetzt"

CDU-Fraktionschef Thering sagte, A. sei im Justizausschuss als unauffällig beschrieben worden. „Hiermit ist klar: Dem Justizausschuss wurden entscheidende Informationen vorenthalten, obwohl diese bereits der Justizbehörde bekannt waren. Damit erscheint deren Wirken im ganz neuen Licht.“ Seine Fraktion beantrage eine Sondersitzung des Justizausschusses, um die Senatorin „zeitnah erneut zu befragen, was in ihrer Behörde alles schief gelaufen ist“, so Thering. „Wer zudem bei diesem Vorgang keine Fehler erkennen kann oder will, ist ohnehin fehl am Platz!“

Ähnlich ordnete es Linken-Fraktionschefin Cansu Özdemir ein: „Es liegt auf der Hand, dass Ibrahim A. niemals ohne Weiteres hätte auf freien Fuß gesetzt werden dürfen.“ Auch sie kritisierte, dass dem Justizausschuss und der Öffentlichkeit „relevante Informationen vorenthalten“ worden seien. Eine Sondersitzung des Justizausschusses sei unumgänglich: „Senatorin Gallina muss Konsequenzen ziehen“, so Özdemir. „Und sie muss sich fragen, ob sie nach all den früheren Problemen rund um ihre Person und ihre Behörde und angesichts der Tat in Brokstedt in der Lage ist, ihr Amt weiter auszuüben. Es reicht jetzt.“

FDP spricht im Fall Ibrahim A. von "skandalösem Justizversagen"

Die FDP-Abgeordnete Anna v. Treuenfels-Frowein sagte: „Wenn es stimmt, dass Ibrahim A. seine Absicht, ein Attentat zu begehen, so eindeutig in der Haft angekündigt hat, die Justizbehörde aber auch davon keine Kenntnis erhielt, dann weitet sich das skandalöse Justizversagen unter Verantwortung von Senatorin Gallina weiter aus.“

Auch AfD-Fraktionschef Dirk Nockemann ging hart mit der Senatorin und ihrer Behörde ins Gericht: „Es reicht! Alles muss auf den Tisch. Der Fall Ibrahim A. wird immer mehr zum Hamburger Justizversagen. Die grüne Justizsenatorin ist ein Totalausfall. Eine Sondersitzung ist nun unausweichlich.“

SPD sieht sich in "schwierigem Abwägungsprozess"

Die SPD als Regierungspartner der Grünen begrüßte die geforderte Sondersitzung des Justizausschusses. „Es ist ein schwieriger Abwägungsprozess, den die Justizbehörde im Fall Brokstedt vorzunehmen hat“, sagte ihr justizpolitischer Sprecher Urs Tabbert. „Einerseits gilt es, Persönlichkeitsrechte einzuhalten und die Ermittlungen nicht zu gefährden, andererseits gibt es ein sehr berechtigtes öffentliches Aufklärungsinteresse.“

Nach den neuen Erkenntnissen stellten sich eine Reihe von Fragen: Welche Kriterien gelten im Meldewesen in Hamburger Haftanstalten? Wie kommen Einschätzungen zu extremistischen Tätern zu Stande und wann muss das Landesamt für Verfassungsschutz informiert werden? Tabbert: „Es ist bedauerlich, dass die Information dazu nicht bereits letzte Woche erfolgt ist – wenn jedoch der Information des Parlamentes ermittlungstaktische Überlegungen im Weg standen, ist dies nachvollziehbar.“

Messerattacke Brokstedt: Auch Grüne befürworten Ausschuss-Sondersitzung

Auch die Grünen bezeichneten eine Sondersitzung des Justizausschusses als „angebracht“, stellten sich aber zugleich hinter ihre Senatorin. „Es ist richtig, Ermittlungsergebnissen nicht vorzugreifen und behutsam mit Informationen umzugehen, die beispielsweise Zeugenaussagen beeinflussen könnten“, sagte die justizpolitische Sprecherin Lena Zagst.

„Die Justizbehörde muss den Drahtseilakt zwischen Ermittlungsarbeit und Persönlichkeitsrechten auf der einen sowie dem Aufklärungsinteresse der Öffentlichkeit auf der anderen Seite bewerkstelligen.“Ohnehin sei vorgesehen gewesen, die Selbstbefassung des Ausschusses mit dem Thema am 23. März fortzusetzen – das werde nun vorgezogen.

„Der Ausschuss hat die Selbstbefassung noch nicht beendet. Insofern haben wir in jedem Fall Gelegenheit, im kommenden Ausschuss weiter zu berichten und zu beraten“, sagte Gallina und fügte im Gespräch mit dem Abendblatt hinzu: „Wir haben nichts zu verstecken.“