Hamburg. Widersprüche im Fall Ibrahim A. zwischen den Behörden in Hamburg und Kiel. Jetzt steht es Aussage gegen Aussage.
Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) wollte denkbar gut gerüstet sein für ihren Auftritt vor dem Justizausschuss der Bürgerschaft. Mit gleich neun Beamten und Beamtinnen aus ihrer Behörde und anderen Dienststellen an ihrer Seite beantwortete die Senatorin gut zwei Stunden lang die Fragen der Abgeordneten zum Hamburger Umgang mit Ibrahim A., der vor gut einer Woche zwei Menschen erstochen und fünf weitere zum Teil schwer verletzt hatte.
Ibrahim A. hatte wenige Tage nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Billwerder die schreckliche Tat in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg bei Brokstedt verübt. Er konnte von Mitreisenden überwältigt werden und sitzt nun in der Justizvollzugsanstalt Neumünster ein.
Messerattacke von Brokstedt: Jetzt steht Aussage gegen Aussage
Unter anderem hatte die Kieler Sozialministerin Aminata Touré (Grüne) den Vorwurf erhoben, die Hamburger Behörden hätten die Kieler Ausländerbehörde, die federführend im Fall A. ist, zu spät über die Inhaftierung des 33 Jahre alten mutmaßlich staatenlosen Palästinensers informiert und damit gegen ihre „Unterrichtungspflicht“ verstoßen. Wegen der fehlenden Information hätte kein Kontakt zu dem Mann aufgenommen werden können, um unter anderen seinen ausländerrechtlichen Status zu klären.
Nach der Sitzung des Justizausschusses bleibt als Fazit: Nun steht zwischen den Ländern Aussage gegen Aussage. Gallina vermied ihrerseits jeden Schuldvorwurf an die Politiker des nördlichen Nachbarlands. „Wir zeigen mit dem Finger auf niemanden. Wir haben eine Aktenlage“, sagte die Senatorin lediglich. Minutiös schilderten sie und die weiteren Mitarbeiter die einzelnen Kontaktaufnahmen und entsprechende Versuche in Richtung Kiel.
Ibrahim A. war in Hamburg in Untersuchungshaft
Ibrahim A., der 2014 nach Deutschland gekommen war und zuerst in Nordrhein-Westfalen und dann in Kiel lebte, war am 20. Januar 2022 in Hamburg festgenommen worden und kam in Untersuchungshaft. Am 18. August 2022 verurteilte ihn das Amtsgericht St. Georg wegen gefährlicher Körperverletzung – auch da war ein Messer im Spiel – und weitere Delikte zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einer Woche ohne Bewährung.
Bereits einen Tag nach der Inhaftierung von Ibrahim A. habe ein Polizeibeamter die zuständige Kieler Ausländerbehörde über diese Tatsache per E-Mail informiert und um Rücksprache gebeten. Das teilte die Abteilungsleiterin für öffentliche Sicherheit in der Innenbehörde im Justizausschuss mit. Nachdem es keine Reaktion gegeben habe, seien am 10. Februar und am 1. März weitere E-Mails verschickt worden. Erst am 9. März habe es dann eine Antwort der Kieler Ausländerbehörde gegeben, und weitere Details des Sachverhalts seien übermittelt worden.
Am 4. Mai gab es laut Gallina darüber hinaus einen direkten Kontakt der JVA zur Kieler Ausländerbehörde, verbunden mit der Information über die Inhaftierung. Daraufhin habe sich die Behörde am 6. Mai gemeldet und weitere Details erfragt und auch erhalten. Am 22. November 2022 schließlich versuchte die Haftanstalt, bei der Ausländerbehörde den ausländerrechtlichen Status von Ibrahim A. in Erfahrung zu bringen. Dabei ging es um die Frage, ob er sogenannten subsidiären Schutz genießt, weil A.s Fiktionsbescheinigung abgelaufen war. Die Bescheinigung wird ausgestellt, wenn über einen Aufenthaltstitel noch nicht entschieden ist. Die Antwort aus der Kieler Ausländerbehörde laut Gallina: Ibrahim A. solle sich nach seiner Entlassung an die Kieler Ausländerbehörde wenden.
Gallina: Justizbehörde hat rechtmäßig gehandelt
Gallina hatte dem Abendblatt gegenüber bereits vor zwei Tagen gesagt, die Justizbehörde habe rechtmäßig gehandelt. Auf mehrfache Nachfragen von Abgeordneten im Justizausschuss, ob in Hamburg keine Fehler gemacht worden seien, antwortete Gallina nicht direkt. „Man muss sich an die rechtlichen Rahmenbedingungen halten, Das haben wir getan. Aber es gibt immer Fragen, wo man sich verbessern kann“, sagte die Senatorin.
- Messerattacke von Brokstedt: Schlagabtausch in Bürgerschaft
- Messerattacke: Gallina gibt Einblick in "Recherchearbeit"
- Nach tödlichem Angriff von Brokstedt: Das sagt ein Gutachter
Offen blieb, ob die Hamburger Behörden auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge über die Inhaftierung hätte informieren müssen. Nach Aussagen eines Behördenmitarbeiters im Ausschuss sei diese Information unterblieben. Nach den Worten von Justizstaatsrat Holger Schatz gibt es keine Informationspflicht etwa seiner Behörde oder der Staatsanwaltschaft. Vielmehr sei das Aufgabe der jeweils zuständigen Ausländerbehörden, in diesem Fall der Hamburger, die frühzeitig über die Inhaftierung informiert war.
Ausführlich wurde erörtert, wie die einjährige Haftzeit des Ibrahim A. in Hamburg verlaufen war. Laut Schatz wurden zwei „besondere Vorkommnisse“ von der JVA Billwerder an die Justizbehörde gemeldet. Einmal war A. in eine körperliche Auseinandersetzung mit einem Mithäftling geraten. Im anderen Fall soll er eine Teetasse auf einen Justizvollzugsbeamten geworfen haben. Strafrechtlich sei das erste Verfahren eingestellt worden, das zweite noch offen. „Solche Meldungen besonderer Vorkommnisse erhalten wir mehrfach in der Woche. Wir wollen sehr niedrigschwellig ein Auge darauf haben, was in den Haftanstalten passiert. In den beiden Fällen war nichts Weiteres zu veranlassen“, sagte Staatsrat Schatz.
„Ibrahim A. war ein schwieriger, ein anstrengender Gefangener"
„Ibrahim A. war ein schwieriger, ein anstrengender Gefangener. Er ist aber nicht auffällig gewalttätig in Erscheinung getreten“, sagte Schatz. Wenige Tage nach seiner Einlieferung in die JVA Billwerder fiel ein Drogentest bei ihm positiv aus. Obwohl A. vorher anderes behauptet hatte, wurde bei ihm Kokain nachgewiesen. Im März 2022 hat er laut Aussage einer Ärztin eine Vereinbarung zur Verabreichung von Methadon unterschrieben. Wie berichtet, hatte A.s Anwalt behauptet, ihm sei möglicherweise nicht bewusst gewesen, dass er die Ersatzdroge erhält. „Diese Aussage ist falsch“, sagte die Ärztin im Justizausschuss.
Breiten Raum nahm die Frage nach der psychischen Stabilität des Mannes ein. Gallina betonte, es habe während seiner Haftzeit insgesamt 16 Patientengespräche mit einem Psychiater gegeben. Der Psychiater habe bis unmittelbar vor der Entlassung keine Selbst- und Fremdgefährdung bei A. feststellen können. Die Senatorin betonte, das es sich dabei nicht um Prognosegutachten gehandelt habe, sondern lediglich um eine Beurteilung des Gefangenen in seiner aktuellen Lage.
Dagegen war im Zuge des Gerichtsverfahrens vor dem Amtsgericht im August 2022 ein solches Gutachten von einem externen Psychiater eingeholt worden. Auch in dem Fall wurde keine Selbst- und Fremdgefährdung und keine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit angenommen, was die Voraussetzung dafür gewesen wäre, Ibrahim A. in einer geschlossenen Abteilung eines Krankenhauses unterzubringen, weil er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Gallina wies darauf hin, dass auch die Staatsanwaltschaft Itzehoe nach der Messerattacke im Regionalzug keinen Unterbringungsbefehl, sondern einen Haftbefehl für Ibrahim A. ausgestellt hat.
Es gibt Widersprüche zwischen Behörden in Hamburg und Kiel
Offensichtlich waren die Sprachprobleme nicht so gravierend wie zunächst angenommen. Nach den Aussagen von Gallina und Schatz spricht A. Deutsch. Er habe schriftliche Anträge sogar auf Deutsch formuliert. Lediglich beim Strafprozess sei ein Dolmetscher anwesend gewesen.
Die unterschiedlichen Schilderungen der Abläufe in der Kommunikation zwischen den Bundesländern ließen manche Abgeordnete aufhorchen. „Was ist da los? Es gibt Widersprüche zwischen Behörden in Hamburg und Kiel. Wenn es stimmt, was Sie sagen, Frau Gallina: Was ist der Hintergrund für solch falsche Aussagen aus Kiel?“, fragte der CDU-Justizpolitiker Richard Seelmaecker. Doch eine Antwort blieb Gallina schuldig. Eher vage blieb ihre Antwort auch auf die Frage, wie die Kooperation zwischen den Bundesländern in solchen Fällen verbessert werden könne. Die Senatorin verwies darauf, dass solche Fragen fortlaufend in der Justizministerkonferenz erörtert würden.
Zu der Frage, warum Hamburg nicht einen Vertreter zur Sitzung des Innen- und Rechtsausschusses im Kieler Landtag am Mittwoch entsandt habe, sagte Gallina, sie habe zuerst die Hamburger Abgeordneten informieren wollen.