Anwalt des Verdächtigen von Brokstedt erhebt schwere Vorwürfe. A. soll in Hamburger U-Haft Ersatzdroge verabreicht worden sein.
- Schizophrenie kam im Prozess in St. Georg durch Sachverständigen zur Sprache
- Wurden dem Tatverdächtigen Ibrahim A. in der U-Haft Ersatzdrogen verabreicht
- Ibrahim A. droht eine lebenslange Freiheitsstrafe
In Norddeutschland ging es steil bergab mit Ibrahim A., so sieht es sein Anwalt, der Bonner Strafverteidiger Björn Seelbach. Die schwere Drogensucht, das Abgleiten ins Obdachlosenmilieu, die ersten Hinweise auf eine Schizophrenie – all das habe er bei seinem Mandanten, als der noch im Rheinland zu Hause war, so nicht wahrgenommen, sagte Seelbach dem Abendblatt.
Er könne nur spekulieren, warum gerade während der Zeit in Hamburg und Kiel derart viel schiefgelaufen sei im Leben des Ibrahim A. „Vielleicht hätte er mehr Unterstützung benötigt, um von den Drogen und der Straße weg und wieder in Arbeit zu kommen“, so der Anwalt.
Nach Messerattacke im Zug: Ibrahim A. droht lebenslange Freiheitsstrafe
Und Beistand benötigt Ibrahim A. zurzeit dringender denn je – ihm droht eine lebenslange Freiheitsstrafe. Der 33-Jährige soll am Mittwoch in einem Zug von Kiel nach Hamburg eine 17-Jährige und einen 19-Jährigen erstochen, zwei Menschen lebensgefährlich und drei weitere schwer verletzt haben. Nach Abendblatt-Informationen liegen mindestens zwei Opfer noch im künstlichen Koma. Eines war nach der Attacke bei Brokstedt zur Behandlung ins Hamburger Bundeswehrkrankenhaus geflogen worden.
Die Hintergründe der Tat sind weiter völlig offen. Die Staatsanwaltschaft Itzehoe ermittelt wegen heimtückischen Mordes in zwei und wegen versuchten Totschlags in vier Fällen. Sein Mandant werde vorerst von seinem Schweigerecht Gebrauch machen, sagt Seelbach.
Angreifer von Brokstedt: Die Gewaltakte des Ibrahim A.
Der Anwalt hatte den staatenlosen Palästinenser, der nach seiner Einreise ins Bundesgebiet 2014 sechs Jahre in Nordrhein-Westfalen lebte, erstmals 2018 wegen Drogenerwerbs vor dem Amtsgericht Euskirchen verteidigt. Es endete mit einer Verurteilung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen á 15 Euro.
Zuvor war Ibrahim A. bereits wegen Ladendiebstahls (2015, 75 Euro Geldstrafe) und gefährlicher Körperverletzung (2016, ein Jahr auf Bewährung) schuldig gesprochen worden. Die Behörden hatten zwar häufiger gegen den Mann ermittelt, etwa wegen sexueller Nötigung, Körperverletzung und Bedrohung. Wegen Geringfügigkeit oder mangels hinreichenden Tatverdachts wurden diese Verfahren aber eingestellt.
Seelbach übernahm auch den Fall, der Ibrahim A. im Januar 2022 erstmals hinter Gitter brachte. Wenige Wochen zuvor war er hochkant aus einer Kieler Unterkunft geflogen, weil er einen Mitbewohner bedroht und mit einem Messer herumgefuchtelt hatte. Sein nächstes Ziel war Hamburg, wo er weiter auf der Straße lebte – und wo er am 18. Januar seine bis dahin schwerste Straftat beging. Wieder war ein Messer im Spiel.
Ibrahim A. stach 2022 auf Mann in Hamburg ein
Ibrahim A. stand damals vor der Essensausgabe der Obdachlosenunterkunft Herz As (Norderstraße), berauscht von Alkohol, Kokain, Heroin. Er fragte zwei Männer in der Schlange vor sich, ob sie Afghanen seien. Einer antwortete, er sei Kurde. Der andere sagte gar nichts. Ihm aber sprang Ibrahim A. auf den Rücken. Er schlug ihm gegen den Kiefer und stach mehrfach auf ihn ein. Das schwer verletzte Opfer lag darauf acht Tage im Krankenhaus.
Am 18. August 2022 verurteilte das Amtsgericht St. Georg Ibrahim A. wegen gefährlicher Körperverletzung und Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einer Woche. Die schriftliche Begründung liegt dem Abendblatt vor.
In der JVA Billwerder bekam Ibrahim A. Methadon
Demnach wertete das Gericht zugunsten des Angeklagten, dass er bei der Tat durch den vorherigen Drogen- und Alkoholkonsum, wenngleich voll schuldfähig, enthemmt war. Zu diesem Schluss war auch das psychiatrische Gutachten gelangt. Das war nur deshalb notwendig geworden, weil der Angeklagte behauptet hatte, „25 Gramm Kokain“ und damit eine in jedem Fall tödliche Menge vor dem Angriff konsumiert zu haben. Das kaufte ihm das Gericht ebenso wenig ab wie seine Aussage, vom späteren Opfer als Erster mit einem Messer bedroht worden zu sein.
Strafmildernd berücksichtigte es jedoch, dass dem Angeklagten in der Untersuchungshaft in der JVA Billwerder der Heroin-Ersatzstoff Methadon verabreicht worden sei. Diese Substituierung sei „medizinisch nicht angezeigt“ gewesen und habe ihn in die „Gefahr einer Abhängigkeit von Methadon und Heroin gebracht“.
Hinweise auf Schizophrenie: Ibrahim A. hörte Stimmen
Warum sein Mandant das Opioid bekommen habe, sei ihm auch heute noch schleierhaft, sagt Anwalt Seelbach. Ibrahim A. war am 21. Januar 2022 in U-Haft gekommen – noch am Tag zuvor soll er in der Drogenhilfeeinrichtung Drob Inn einem anderen Mann im Streit um ein Handy ein Klappmesser auf den Kopf geschlagen haben. Sein heroinabhängiger Mandant habe direkt bei Haftantritt einen „kalten Entzug“ durchgemacht, ohne Entzugssymptome entwickelt zu haben, so Seelbach. Dennoch habe er danach Methadon erhalten. „Mein Mandant wusste gar nicht, dass er Methadon bekommen hat“, sagt Seelbach. Erst Monate später sei das Mittel abgesetzt worden.
Zudem habe sich während der Haft der psychische Zustand seines Mandanten dramatisch verschlechtert. Ibrahim A., der kein Deutsch spricht, sei dort „nicht gut vernetzt“ gewesen. Nach einer körperlichen Auseinandersetzung sei für ihn zunächst Isolationshaft angeordnet worden. Er soll im Juni einen Mithäftling und im September einen Justizbeamten angegriffen haben. Statt wieder in die Gruppenräume zurückzukehren, habe sein Mandant darauf gepocht, weiter in Einzelhaft bleiben zu dürfen, so Seelbach.
Offenbar kam in der Haft auch der Verdacht auf, der 33-Jährige könne unter einer Schizophrenie leiden, nachdem dieser geäußert habe, ihn plagten häufig Kopfschmerzen und er „höre Stimmen“. Das Thema sei auch im Prozess in St. Georg durch den Sachverständigen zur Sprache gebracht worden, so Seelbach. Allerdings nur kurz.
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Während aus Sicht der Staatsanwaltschaft der Schuldspruch nicht zu beanstanden war, legte Ibrahim A. Berufung ein, die bis zu seiner Entlassung aus der U-Haft am 19. Januar – zwei Wochen vor Ende der maximal zu verbüßenden Strafe – nicht verhandelt worden war. Selbst wenn – höher hätte die Strafe dann auch nicht ausfallen dürfen, da es der Angeklagte gewesen sei, der Rechtsmittel eingelegt habe, so Gerichtssprecher Kai Wantzen.
Seelbach kritisiert zudem die „völlig überraschende“ Entscheidung der Justiz, den Haftbefehl aufzuheben. Noch am selben Tag, am 19. Januar, sei sein Mandant „vor die Tür gesetzt“ worden. „Es wäre besser gewesen, wenn er sich hätte vorbereiten können“, so Seelbach. Indes: Bereits kurz nach dem Jahreswechsel, sagt Wantzen, habe die Berufungskammer den Anwalt in Kenntnis gesetzt, dass im Januar mit einer Entlassung zu rechnen sei.