Vor Sitzung des Hamburger Justizausschusses wird es eng für Senatorin Gallina. Kieler Parteifreundin erhebt Vorwürfe.

  • Massive Vorwürfe aus Kiel an Hamburger Justiz im Fall der Messerattacke von Brokstedt
  • Hamburger Justiz soll gegen ihre „Unterrichtungspflicht“ verstoßen haben
  • Hamburger Justizausschuss tagt am heutigen Donnerstag

Der Druck auf die Hamburger Justizbehörde wächst weiter, die Vorwürfe, im Fall des am 19. Januar aus der Haft entlassenen Messerangreifers von Brokstedt gravierende Fehler begangen zu haben, nehmen an Schärfe zu. Das zeigte sich am Mittwochnachmittag bei der Sitzung des Innen- und Rechtsausschusses des schleswig-holsteinischen Landtags.

Dieser versucht aufzuklären, ob oder welche behördlichen Fehler es vor der tödlichen Messerattacke vor einer Woche im Regionalexpress 70 von Kiel nach Hamburg gegeben hat. Massive Vorwürfe in Richtung Hamburg kamen dabei aus Kieler Ministerien, von Landespolitikern – und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF.

Messerattacke von Brokstedt: Kiel kritisiert Hamburg scharf

Nicht zur Aufklärung beitragen wollte hingegen die Hamburger Justizbehörde. Am Dienstag hatte die Behörde den Kieler Politikern kurzfristig abgesagt – per Mail. Statt einen Behördenvertreter zu schicken, verwies die Behörde von Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) auf die zeitgleich angesetzte Aktuelle Stunde der Hamburgischen Bürgerschaft – und auf einen Termin am Donnerstag in Hamburg.

Dann kommt – mehr als eine Woche nach dem tödlichen Angriff im Zug in Höhe Brokstedt – erstmals der Justizausschuss der Bürgerschaft zusammen. Man stelle den Kieler Parlamentariern aber „gerne“ im „Nachgang die Niederschrift der Ausschussberatung zur Verfügung“, heißt es in der Mail aus Hamburg.

Statt sich also den Vorwürfen zu stellen, überließ Hamburg dem Kieler Ausschuss die Deutungshoheit und Interpretation der Vorgänge. Darum geht es: Ibrahim A., ein 33 Jahre alter Mann, der behauptet, er sei staatenloser Palästinenser, hatte am Mittwoch vergangener Woche mehrere Fahrgäste des Regionalexpresses 70 von Kiel nach Hamburg mit einem Messer angegriffen; dabei tötete er eine 17-Jährige und einen 19-Jährigen (die beiden waren ein Paar und befanden sich auf dem Weg von der Berufsschule in Neumünster nach Hause), vier weitere Insassen verletzte der Palästinenser schwer.

Der Mann war erst wenige Tage vor der Tat, am 19. Januar 2023, aus der Haft in Billwerder entlassen worden. Ibrahim A. hatte im Januar 2022 in Hamburg einen Mann mit einem Messer angegriffen und verletzt. Das Amtsgericht St. Georg verurteilte den zuvor schon straffällig auffälligen Mann zu einem Jahr und wenigen Tagen Haft. Das Urteil, das zumindest nach Ansicht der Hamburger CDU zu milde ausfiel, wurde nie rechtskräftig. Stattdessen saß A. die komplette Zeit in Untersuchungshaft ab.

Dass der mit subsidiärem Schutz geduldete Mann im Januar 2022 in Hamburg in U-Haft genommen worden war, hatte die Hansestadt offensichtlich erst mit monatelanger Verzögerung den schleswig-holsteinischen Behörden gemeldet – und zwar im Mai 2022. Dabei hatte Ibrahim A. von Sommer 2021 bis kurz vor der Hamburger Tat in Kiel gelebt.

Hamburger Justiz habe gegen ihre „Unterrichtungspflicht“ verstoßen

Nicht alle Unterlagen und die auch noch verspätet nach Kiel geliefert zu haben, damit habe die Hamburger Justiz gegen ihre „Unterrichtungspflicht“ verstoßen. Diesen Vorwurf erhob die Kieler Sozialministerin Aminata Touré, wie die Hamburger Justizsenatorin Anna Gallina eine Politikerin der Grünen. Hamburg sah auch zuletzt, in diesem Januar, offensichtlich keinen Grund, das Nachbarland über die anstehende Haftentlassung von Ibrahim A. zu informieren.

Dass solche fehlenden Informationen nicht belanglos oder nebensächlich sind, machte Abteilungsleiter Frank Schimmelpfennig aus dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge deutlich. Alle Versuche, das Verfahren gegen Ibrahim A. voranzutreiben, um dessen Schutzstatus zu widerrufen, seien gescheitert – weil der Mann nicht mehr erreichbar war. Post an eine hinterlegte Kieler Adresse sei als nicht zustellbar zurückgekommen. Also: Weil A. als unbekannt verzogen galt, konnte das BAMF ihn nicht in dem Verfahren anhören, was zwingend vorgeschrieben ist.

Ibrahim A. saß in Hamburg in U-Haft

„Hätten wir von der Untersuchungshaft gewusst, hätten wir auch Kontakt aufnehmen können“, kritisierte das BAMF die Hamburger Behörde. „Aber wir hatten keine Kenntnisse aus Hamburg erhalten“, sagte Schimmelpfennig. Dazu hätte es aber eine Pflicht gegeben. „Wäre Hamburg der nachgekommen, hätten wir im Verfahren, den Schutzstatus des Mannes zurückzunehmen, weiterkommen können“, so der Vertreter des BAMF.

Unbekannt verzogen war Ibrahim A. nicht. Er saß in Hamburg in U-Haft. Die Adresse steht im Telefonbuch. Nur hatte Hamburg die Ausländerbehörde in Kiel monatelang (nach Darstellung Kiels) und das BAMF gar nicht erst informiert, wo man A. denn antreffen könne. Während Justizsenatorin Gallina noch in dieser Woche meinte, keine Fehler auf Hamburger Seite finden zu können, kündigte ihre Parteifreundin Touré gestern Konsequenzen an. Man müsse die Behörden besser vernetzen, die Zusammenarbeit müsse besser und schneller passieren, forderte sie. Mit Blick auf Versäumnisse in Hamburg und zuvor auch in Nordrhein-Westfalen sprach Touré davon, dass „Fehler an anderer Stelle gemacht wurden“.

Schleswig-holsteinische CDU wirft Hamburger Justizbehörde „eklatantes Versagen" vor

Der schleswig-holsteinische CDU-Fraktionsvorsitzende Tobias Koch wurde noch deutlicher. Er warf der Hamburger Justizbehörde „eklatantes Versagen im Berichtsverfahren“ vor. Es sei beklemmend zu erfahren, dass anscheinend notwendige Informationen nicht geflossen sind, kritisierte Bernd Buchholz (FDP). Zwar könne bislang nicht geklärt werden, ob die Messerattacke hätte verhindert werden können. „Allerdings muss man feststellen, dass es zu einem nicht unerheblichen Behördenversagen gekommen ist.“

Mitarbeitende der Spurensicherung sind am Tatabend am Bahnhof Brokstedt im Einsatz.
Mitarbeitende der Spurensicherung sind am Tatabend am Bahnhof Brokstedt im Einsatz. © Jonas Walzberg/dpa

Ibrahim A. war im Jahr 2014 zunächst in NRW aufgelaufen, behauptete, er sei ein im Gazastreifen geborener staatenloser Palästinenser und ersuchte um Aufenthalt und Schutz. Der wurde ihm schließlich gewährt – obwohl er schon mehrfach im Raum Euskirchen auffällig geworden war. Insgesamt hat es gegen ihn in Deutschland drei Verurteilungen gegeben, weitere mindestens zehn Verfahren wurden eingestellt. Nur von keinem der Vorfälle, auch nicht von den Urteilen, erhielt das BAMF Kenntnis – bis sich die Kieler Ausländerbehörde 2021 an die Bundesbehörde wandte und die Überprüfung des Falls A. forderte.

Bis heute, das wurde gestern im Ausschuss erstmals deutlich, ist nicht einmal klar, ob A. tatsächlich ein staatenloser Palästinenser ist, wie er behauptet. Das ist insofern relevant, weil eine Abschiebung in der Theorie dann extrem schwierig und in der Praxis nahezu unmöglich wird. Doch bis heute hat keine Behörde die Angaben von Ibrahim A. zu seiner Identität tatsächlich überprüft. „Er gilt deshalb für das BAMF als ungeklärter Fall“, sagte Schimmelpfennig.