Hamburg. In der Aktuellen Stunde kritisiert die Opposition die Hamburger Justizbehörde scharf. Anna Gallina weist die Vorwürfe zurück.
Es war ein ungewöhnlicher, aber angemessener Einstieg in die Aktuelle Stunde der Hamburgischen Bürgerschaft: Parlamentspräsidentin Carola Veit (SPD) eröffnete mit Worten des Gedenkens die Debatte über die grausame Bluttat, bei der vor einer Woche in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg bei Brokstedt zwei Menschen starben und fünf weitere zum Teil schwer verletzt wurden. Aber Veit benannte auch klar die Aufgaben, die jetzt bei der Aufarbeitung des Falls des mutmaßlichen Täters Ibrahim A., der wenige Tage zuvor in Hamburg aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, vor der Justiz und dem Parlament liegen.
„Wir trauern um zwei junge Menschen, die im Regionalzug auf dem Weg nach Hamburg getötet wurden. Unser tiefes Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen, denen ich in unser aller Namen mein Beileid ausspreche“, sagte Veit vom Rednerpult aus, nicht von ihrem Präsidiumsplatz.
„Das schreckliche Ereignis von Brokstedt ist ein Hamburger Thema, weil es bis vor Kurzem eine Hamburger Zuständigkeit gab. Das Entsetzen ist in die Alltagsnormalität von Berufspendlern und -pendlerinnen, von Schülern und Schülerinnen eingebrochen. Viele fragen jetzt: Hätte dies nicht verhindert werden können?“, sagte Veit.
Messerattacke von Brokstedt: Hitzige Debatte in der Bürgerschaft
„Wenn es Fehler gibt, die abzustellen sind, wenn es Möglichkeiten gibt, Verfahren und Vorabeinschätzungen zu verbessern, dann müssen diese benannt und ergriffen werden“, so die Präsidentin. Es sei die „berechtigte Anforderung an Politik und Parlament, das emotionale Entsetzen zu übersetzen in Erkenntnis und Konsequenzen“. Dazu gehöre auch, „Verantwortung zu benennen und zu übernehmen“.
In der Erwartung eines hitzigen verbalen Schlagabtauschs ermahnte die Bürgerschaftspräsidentin die Abgeordneten, keine Vorverurteilungen vorzunehmen. „Wir helfen der Sache nicht, wenn wir auf dem Rücken der Opfer Schuldzuweisungen und Verteidigungsreden halten“, sagte Veit. Doch die Mahnung traf nicht bei allen Abgeordneten auf fruchtbaren Boden.
„Unser liberaler Rechtsstaat taugt nicht für nicht resozialisierbare Gewalttäter, die in ihrer Heimat nie einen funktionierenden Rechtsstaat kennengelernt haben“, sagte der AfD-Fraktionsvorsitzende Dirk Nockemann. Ibrahim A., der mehrere Gewalttaten begangen hat und deswegen in Hamburg zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einer Woche ohne Bewährung verurteilt worden war, ist ein staatenloser Palästinenser. Die AfD hatte die Debatte mit der Formulierung „Blutrausch im Regionalzug: Staatenloser Palästinenser bringt junges Pärchen um – Justizsenatorin Gallina rücktrittsreif“ angemeldet.
Gallina ging auf die Rücktrittsforderung nicht ein
„Die Menschen draußen auf der Straße erwarten, dass solche Leute entweder abgeschoben werden oder hinter Gitter oder in die Psychiatrie kommen“, rief Nockemann. Wenn Gesetze unzureichend seien, müssten sie den Erfordernissen angepasst werden. Grünen und SPD warf er eine „Politik der unkontrollierten Zuwanderung und der Kuscheljustiz“ vor. Diese „verantwortungslose Politik“ produziere „beinahe Woche für Woche“ Schwerverletzte und Tote. Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) sei ihrem Amt nicht gewachsen und müsse „ihren Hut nehmen“.
Gallina ging auf die Rücktrittsforderung nicht ein. „Ich finde es unglaublich, aber Sie haben es nicht geschafft, den Opfern dieser furchtbaren und grausamen Tat Respekt zu zollen“, sagte die Justizsenatorin in ihrer mit Spannung erwarteten Rede in Richtung AfD. Gallina warf der AfD vor, die Tat von Brokstedt zur „politischen Instrumentalisierung“ zu nutzen. Aber Gallina betonte auch: „Hätte diese Tat verhindert werden können? Das muss uns beschäftigen.“
Erneut kündigte sie an, Details der Hintergründe des Falls, soweit sie die Hamburger Justiz betreffen, in der heutigen Sitzung des Justizausschusses erläutern zu wollen. Erst nach der Klärung des Sachverhalts könne über mögliche Konsequenzen gesprochen werden. Gallina wies darauf hin, dass Ibrahim A. zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt worden sei: „Der Vorwurf der Kuscheljustiz ist hier völlig deplatziert.“
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Zur Kritik daran, dass Ibrahim A. weitgehend unvorbereitet aus der U-Haft entlassen wurde, sagte Gallina: „Wir werden uns ansehen, wie wir das Entlassungsmanagement verbessern können.“ Und die Senatorin kündigte an, das 2019 verabschiedete Hamburger Resozialisierungsgesetz zu überprüfen. Gallina hatte im Gespräch mit dem Abendblatt gesagt, die Hamburger Justiz habe im Fall Ibrahim A. rechtmäßig gehandelt. „Das heißt aber nicht, dass wir uns nicht fragen, wo wir besser werden können. Das gehört zur politischen Verantwortung“, sagte Gallina jetzt vor der Bürgerschaft.
CDU-Fraktionschef Dennis Thering warf dem rot-grünen Senat vor, er sei bislang vor allem „durch lautes Schweigen“ aufgefallen. Weder der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) noch die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) hätten sich geäußert. „Ihr Verhalten enttäuscht. Man hat das Gefühl, dieser Senat möchte auf jeden Fall vermeiden, mit den Umständen dieses schrecklichen Verbrechens in Verbindung gebracht zu werden“, sagte Thering.
„Dabei stehen viele Fragen im Raum, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der merkwürdigen Rolle Hamburgs und der Hamburger Justizbehörde stehen.“ Unter anderem wies Thering darauf hin, dass das Amtsgericht zur Begründung der Verurteilung ohne Bewährung gesagt habe, Ibrahim A. fehle eine günstige Sozialprognose. „Da stellt sich schon die Frage, ob es keine andere Möglichkeit im Umgang mit Ibrahim A. gegeben hätte.“
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Auch für die Linken-Fraktionschefin Cansu Özdemir stellen sich viele Fragen. „Wie konnte die Gefahr, die von Ibrahim A. ausging, so unterschätzt werden? Wie konnte die psychiatrische Beurteilung von Ibrahim A. eine Fremdgefahr ausschließen?“, sagte Özdemir, die den „eklatanten Mangel an psychologischer Versorgung“ in den Haftanstalten kritisierte. „Frau Gallina, es ist mir unbegreiflich, dass Sie sich erst eine Woche nach der Tat zu Wort gemeldet haben. In Ihren Aussagen habe ich null Selbstkritik wahrgenommen“, sagte die Linken-Politikerin, die andererseits der AfD „Hetze“ vorwarf und dafür einen Ordnungsruf kassierte.
„Ein ritualisiertes Draufhauen auf die Justizbehörde ohne Kenntnis der Fakten hilft uns nicht weiter. Mit aus der Luft gegriffenen, vagen Anschuldigungen ein persönliches Fehlverhalten der Justizsenatorin zu konstruieren, ist hanebüchen“, sagte Lena Zagst, die justizpolitische Sprecherin der Grünen. Zagst und auch SPD-Justizpolitiker Urs Tabbert kündigten an, den Vorgang detailliert parlamentarisch aufarbeiten zu wollen. Den Auftakt macht die heutige Sitzung des Justizausschusses.