Hamburg/Brokstedt. Christoph Lenk schätzt Gewalttäter ein. Er spricht über die “Trefferquote“ der Gutachten und die Quote tatsächlich kranker Täter.

Wer Menschen scheinbar wahllos in einem Zug niedersticht, muss psychisch krank sein: Dieser Einschätzung erteilt Dr. Christoph Lenk, Facharzt für Psychiatrie in Hamburg, eine deutliche Absage. „Aus einer Tat, so schrecklich sie auch sein mag, das Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung herzuleiten, ist fast immer ein Trugschluss“, sagt der Experte.

„Der Impuls zu sagen, derjenige ist krank, geht mir zu schnell. 95 Prozent der schweren Gewalttaten werden von Menschen begangen, die nicht krank sind“, so Lenk. „Für nur fünf Prozent der schweren Gewalttaten sind Leute verantwortlich, die auch im juristischen Sinne psychisch erkrankt sind.“

Messerattacke Brokstedt: Ibrahim A. wurde als „voll schuldfähig“ eingeschätzt

Nach dem furchtbaren Verbrechen im Regionalexpress von Kiel nach Hamburg, bei dem zwei jungen Menschen getötet und fünf weitere verletzt wurden, stellt sich die Frage nach dem Motiv — und die Frage, ob es vorher Hinweise gegeben hat, die auf eine besondere Gewaltbereitschaft des mutmaßlichen Täters Ibrahim A. schließen könnten.

Nach Abendblatt-Informationen ist der 33-Jährige bereits einmal begutachtet worden — und wurde demnach als „voll schuldfähig“ eingeschätzt. Dagegen meinte der Leiter der Polizeidirektion Itzehoe, Frank Matthiessen, bei einer Pressekonferenz: „Ich glaube, wer Menschen schwer verletzt oder tötet, kann nicht ganz normal sein.“

95 Prozent der schweren Gewallttaten aus kriminellen Gründen

Konkret zum Fall Ibrahim A. möchte Lenk, der seit 23 Jahren als psychiatrischer Gutachter arbeitet und seit gut zehn Jahren in Gerichtsverhandlungen als psychiatrischer Sachverständiger tätig ist, sich nicht äußern. Doch er verweist auf Erkenntnisse aus Fachkreisen, nach denen 95 Prozent der schweren Gewalttaten aus „kriminellen Gründen“ begangen würden.

Dr. Christoph Lenk ist psychiatrischer Sachverständiger.
Dr. Christoph Lenk ist psychiatrischer Sachverständiger. © privat | Christoph Lenk

Da gehe es also darum, dass jemand sich beispielsweise bereichern möchte, dass er aus Wut handelt oder aus einer niederen Gesinnung heraus. „Die Vorstellung, dass ein psychisch kranker Mensch grundsätzlich nicht für sein Handeln verantwortlich gemacht werden kann, ist in dieser Absolutheit nahezu immer falsch. Es kommt auf den konkreten Einzelfall und die Gesamtkonstellation an.“

Wer als vermindert schuldfähig oder schuldunfähig eingestuft wird

Als vermindert schuldfähig oder sogar schuldunfähig könne jemand aufgrund unterschiedlicher Krankheiten oder psychischer Ausnahmezustände eingestuft werden, wobei der Gesetzgeber vier Merkmale vorgesehen hat, so Lenk: die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“, also klassischerweise eine Affekttat, eine Intelligenzminderung, die früher als „Schwachsinn“ bezeichnet wurde, eine krankhaft seelische Störung, zum Beispiel Schizophrenie, oder eine „schwere andere seelische Störung“.

Liegt eines der genannten Merkmale vor, stelle sich zunächst die Frage, ob die vorgeworfene Tat und die Erkrankung in einem inneren Zusammenhang stehen. „In einem zweiten Schritt ist dann zu prüfen, ob und inwieweit sich die Erkrankung auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat.“

Gutachter stellt klar: „Es gilt nicht: einmal krank, immer krank“

Vor einer Einschätzung, ob jemand aufgrund einer psychischen Erkrankung eine Straftat begangen hat, müsse man „sehr genau hinschauen“, betont Lenk. Dies gelte auch, wenn ein Täter früher bereits straffällig wurde. „Man muss sich die Frage stellen: Ist die Tat aus einer fortgesetzten kriminellen Haltung heraus begangen worden, oder hat sich da plötzlich was verändert?“

Es könne sein, dass derjenige inzwischen krank geworden ist oder dass es eine Steigerung in der Intensität einer vorbestehenden Erkrankung gegeben hat. „Es gilt nicht: einmal krank, immer krank — und auch nicht: Wenn der früher nicht krank war, ist er auch jetzt nicht krank.“

Für eine psychiatrische Begutachtung eines mutmaßlichen Straftäters oder eines Häftlings gebe es keine Leitlinie, die sagt, wie viel Zeit eine Exploration in Anspruch nehmen müsse, sagt der Experte, der selber in Hamburg eine psychiatrische Praxis hat. „Es ist individuell unterschiedlich, wie lange so etwas dauert, und sehr abhängig von der Fragestellung. Es kann passieren, dass Sie sich mit jemandem unterhalten und wissen nach drei Minuten: Der hat eine Schizophrenie.“

Wie krank war Mann, der seine Freundin und die eigene Mutter tötete?

Als einen Fall, bei dem sich eine solche Diagnose sehr schnell aufdrängte, nennt Lenk die Gewalttaten eines damals 29-Jährigen, der im Februar 2021 erst seine Freundin und dann seine Mutter umgebracht hatte. Die 24-Jährige hatte er erstickt und ihr zusätzlich mit einem Messer einen tiefen Schnitt in ihren Hals zugefügt. Dann hatte er begonnen, den Leichnam in der Badewanne zu zerteilen. Seine Mutter, die ihn nicht hatte erreichen können und die ihn besuchen wollte, griff er noch in der Wohnungstür mit einem Messer an und fügte ihr insgesamt 63 Stiche zu, so dass die Frau verblutete.

Der psychiatrische Sachverständige Lenk diagnostizierte bei dem Beschuldigten eine paranoide Schizophrenie. Aufgrund dieser Erkrankung galt der 29-Jährige als schuldunfähig und kam nicht ins Gefängnis, sondern in die geschlossene Psychiatrie. Es handele sich bei dem Täter „nicht um einen kaltblütigen, planerischen Mörder, sondern um einen schwerst erkrankten Menschen“, hatte die Vorsitzende Richterin im Urteil betont.

Manchmal „weht es einen regelrecht an, dass derjenige krank ist“

In solch sehr auffälligen Fällen komme es vor, dass es einen „regelrecht anweht, dass derjenige krank ist“, erklärt der forensische Experte. Gleichwohl müsse so eine scheinbar offensichtliche Diagnose hinterfragt, gründlich geprüft und dann akribisch erstellt werden.

Häufig gebe es „Fälle, die sehr komplex“ seien und bei denen die Frage, ob beispielsweise eine Persönlichkeitsstörung vorliegt, schwierig zu beantworten sei, betont Lenk. „So eine Untersuchung kann sechs oder sieben Stunden oder auch länger dauern. Ein Gutachten zu erstellen, nimmt eben so viel Zeit in Anspruch, bis man sich sicher ist.“

Experte: Dies ist der „Goldstandard“ für gutachterliche Einschätzung

„Goldstandard“ für eine gutachterliche Einschätzung sei es, wenn der Betroffene bereit sei, sich mit dem Sachverständigen ausführlich zu unterhalten, und wenn der Gutachter eine gute Aktenkenntnis habe. „Man muss immer wieder sehen, ob es beispielsweise Wahrnehmungen von Polizeibeamten oder Zeugen gab. Nach dem Motto: ,Der hat seltsam gesprochen. Oder: Der hat komisch geguckt.’“

Bei einem Gespräch beobachte er auch stets Mimik und Gestik des Betroffenen, erzählt Lenk. „Interessant ist zudem, wie weit jemand ablenkbar ist, ob er beispielsweise öfter hinter sich schaut, um sich zu vergewissern, dass da keiner steht. Es kommt sehr auf Gesamteindruck an.“

Gutachter ist "kein Erfüllungsgehilfe von irgendjemandem"

Bei seinen Gutachten sei er „kein Erfüllungsgehilfe von irgendjemanden, nicht von der Staatsanwaltschaft oder der Verteidigung. Es geht allein darum zu gucken: Hat der Betroffene eine Störung beziehungsweise eine Erkrankung, oder hat er nichts? Und wenn er etwas hat: Hat sich das auf die ihm vorgeworfene Straftat ausgewirkt?“

Bei Einschätzungen über die Frage, ob jemand aufgrund einer Störung in Zukunft für die Gesellschaft gefährlich sei, gebe es zuverlässige Prognose-Instrumente, die jeweils auf ein geringes, moderates, hohes oder sehr hohes Risiko hindeuten. „Wir liefern dem Gericht eine Risikoeinschätzung, auf deren Grundlage das Gericht eine Entscheidung fällt.“

Messerattacke Brokstedt: Mehr als 99 Prozent positiver Prognosen richtig

Die Erfahrung zeige, dass die Treffsicherheit der Sachverständigen-Gutachten, ob jemand in Zukunft keine Straftaten begeht, „sehr gut“ sei, betont der Experte. „Mehr als 99 Prozent der Gutachten, bei denen eine positive Prognose erstellt wird, erweisen sich als richtig.“

Die sogenannten Negativ-Prognosen, wenn also die Einschätzung lautet, dass jemand weiter gefährlich ist und hinter Gitter oder in der Psychiatrie bleiben müsse, ließen sich nicht statistisch überprüfen. „Wenn er ,drin’ bleibt, kann logischerweise nicht nachvollzogen werden, ob er eine Straftat begangen hätte, wenn er in Freiheit gekommen wäre.“