Hamburgs Justizsenatorin Anna Gallina verteidigt das Vorgehen der Hamburger Justiz im Fall Ibrahim A.. Opposition verlangt Rücktritt.
- Nach der Messerattacke im Regionalzug von Kiel nach Hamburg äußert sich Hamburgs Justizsenatorin
- Anna Gallina weist Vorwürfe im Fall Ibrahim A. zurück
- Opposition will Konsequenzen aus Verhalten der Justiz
Hamburg. Im Fall des 33 Jahre alten Ibrahim A., der am vergangenen Mittwoch in einem Regionalexpress von Kiel nach Hamburg eine 17-Jährige und einen 19-Jährigen erstochen und fünf weitere Menschen zum Teil schwer verletzt hat, hat sich nun Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) erstmals geäußert.
Der staatenlose Palästinenser war nach fast einem Jahr in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Billwerder am 19. Januar – wenige Tage vor dem grauenhaften Verbrechen – aus der dortigen Untersuchungshaft entlassen worden.
Messerattacke von Brokstedt: Gallina weist Vorwurf zurück
Gallina wies den im Abendblatt erhobenen Vorwurf des Juristen und Kriminologen Bernd Maelicke zurück, die Justiz habe keinen Eingliederungsplan für A. entwickelt, wie es das Hamburgische Resozialisierungsgesetz vorsehe. „Der Vorwurf geht fehl, weil ein solcher Eingliederungsplan nur für Strafgefangene vorgesehen ist“, sagte Gallina im Gespräch mit dem Abendblatt. Allerdings sieht das Gesetz in § 11 vor, dass auch Untersuchungsgefangene „in der Vollzugsanstalt Angebote zur Vorbereitung ihrer Entlassung“ erhalten.
„Diese Unterstützungsangebote hat es gegeben. Das betrifft die Vermittlung von Wohnraum oder auch die Hilfe zur Suchthilfe. Details werde ich im Justizausschuss der Bürgerschaft erläutern“, sagte die Senatorin. Auf Anregung von Gallina wird der Ausschuss den Fall Ibrahim A. am Donnerstag behandeln.
Nach Informationen des Abendblatts war A. bei seiner Entlassung aus der U-Haft ein Platz im Winternotprogramm der Stadt nachgewiesen worden. Er soll dort eine oder mehrere Nächte übernachtet haben, ohne auffällig geworden zu sein. A., der keinen festen Wohnsitz hat, soll auch hinsichtlich seiner Wohnsituation beraten worden sein.
Ibrahim A. war laut Psychiater schuldfähig
Der 33 Jahre alte staatenlose Palästinenser war ein problematischer Untersuchungshäftling: Ibrahim A. attackierte einen Mitgefangenen und einen Vollzugsbediensteten. Er war, wie berichtet, bei seiner Einlieferung in die JVA offensichtlich von harten Drogen abhängig und erhielt daraufhin in der Haftanstalt die Ersatzdroge Methadon.
A. war wegen eines Messerangriffs in der Obdachlosenunterkunft Herz As am 18. Januar 2022 im August zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einer Woche verurteilt worden. Weil er gegen das Urteil Berufung einlegte, blieb er in U-Haft. Da die U-Haft nicht länger dauern darf als die zu erwartende Strafe (das Urteil ist noch nicht rechtskräftig), stand die Entlassung jetzt ein Jahr nach der Inhaftierung an.
Im Strafverfahren war ein Psychiater als externer Gutachter nach Angaben der Justizbehörde zu dem Ergebnis gekommen, dass Ibrahim A. schuldfähig sei – die Voraussetzung für die Verurteilung. Der Palästinenser soll dann hinter Gittern nach Abendblatt-Informationen 17-mal Kontakt mit einem Psychiater gehabt haben.
„Der Psychiater ist zu der Einschätzung gekommen, dass bei Ibrahim A. keine Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt. Zuletzt war das einen Tag vor der Haftentlassung der Fall“, sagte Gallina. Allerdings habe der Experte nicht gewusst, dass A.s Entlassung bevorstehe.
Gallina zu Fall Ibrahim A.: "Wir haben rechtmäßig gehandelt"
Die Justizsenatorin betonte, dass der Fall in ihrer Behörde in den vergangenen Tagen gründlich aufgearbeitet worden sei. „Mein Fazit ist: Wir haben rechtmäßig gehandelt. Es ist alles so passiert, wie es die Vorgaben vorsehen“, sagte Gallina. Doch die Kritik an der Senatorin reißt nicht ab.
Nachdem CDU-Oppositionschef Dennis Thering Gallina vorgeworfen hatte, ihren Aufgaben nicht gewachsen zu sein, und von „totalen Versäumnissen“ sprach, legten andere Oppositionspolitiker nach.
„Senatorin Gallina ignoriert das Thema Resozialisierung, das zeigt der Fall Ibrahim A.. Statt den hochgefährlichen Mann, der wiederholt gezeigt hat, dass er zu Körperverletzungen fähig ist, einfach so aus der Untersuchungshaft auf die Straße zu setzen, hätte er dringend weiterhin betreut werden müssen“, sagte die FDP-Abgeordnete Anna von Treuenfels-Frowein. „Senatorin Gallina versagt zum wiederholten Male in einem der justizpolitischen Kernfelder, sie sollte daraus endlich Konsequenzen ziehen.“
Messerattacke von Brokstedt: Identität der Opfer steht fest
„Brutale Täter wie Ibrahim A. gehören entweder abgeschoben, in Haft genommen oder in eine psychiatrische Unterbringung. Auf keinen Fall hätte er auf freien Fuß gesetzt werden dürfen. Er war als mehrfach verurteilter Straftäter eine Gefahr für die Gesellschaft“, sagte AfD-Fraktionschef Dirk Nockemann.
Auch fünf Tage nach dem tödlichen Messerangriff im Regionalzug RE70 wurden am Montag noch drei Verletzte in Krankenhäusern behandelt. Jetzt steht auch die Identität der Opfer fest: Es handelt sich um einen 62 Jahre alten Mann und eine 54 Jahre alte Frau aus Schleswig-Holstein sowie eine 27-jährige Hamburgerin. Der Gesundheitszustand der drei Opfer ist laut Polizei stabil, und sie sind bei Bewusstsein. Zwei weitere, 22 Jahre alte Verletzte aus Schleswig-Holstein haben das Krankenhaus verlassen.
A. sitzt in Neumünster in U-Haft. Gegen ihn wurde Haftbefehl wegen zweifachen Mordes und versuchten Totschlags in vier Fällen erlassen. Die Ermittler befragen weitere Beteiligte und Zeugen. Mittlerweile seien nahezu 120 Menschen erfasst worden, so die Polizei.
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Messerattacke von Brokstedt: Bürgerschaft befasst sich mit dem Fall
Am Dienstag wurde die Messerattacke auch im Rechtsausschuss des Düsseldorfer Landtags behandelt. Ibrahim A. hatte sich die ersten Jahre nach seiner Einreise nach Deutschland im Jahr 2014 in Nordrhein-Westfalen aufgehalten. Dort war er laut Sicherheitskreisen mehrfach im Raum Euskirchen straffällig geworden. In die Zeit fiel auch, dass er als staatenloser Palästinenser subsidiären Schutz und damit Aufenthaltsrecht erhielt.
An Mittwoch befasst sich der Innen- und Rechtsausschuss des schleswig-holsteinischen Landtags mit dem Fall. Im Juli 2021 hatte es A. nach Kiel gezogen, wo er in einer städtischen Gemeinschaftseinrichtung unterkam. Und wieder wurde er auffällig. Die Stadtverwaltung berichtet von Streitigkeiten, Belästigungen und einem Ladendiebstahl – und warf ihn aus der Unterkunft.
Ebenfalls am Mittwoch wird sich die Bürgerschaft in der Aktuellen Stunde mit dem Fall beschäftigen. „Blutrausch im Regionalzug: Staatenloser Palästinenser bringt junges Pärchen um – Justizsenatorin Gallina rücktrittsreif“, lautet die Anmeldung der AfD-Fraktion.