Hamburg/Kiel/Brokstedt. CDU und Experte werfen Anna Gallina Versäumnisse vor. Grüne Politikerin wehrt sich. Gedenkgottesdienst in Brokstedt.
Die CDU in Hamburg und die CDU in Schleswig-Holstein fordern Konsequenzen aus den tödlichen Messerangriffen in der Regionalbahn von Kiel nach Hamburg am vergangenen Mittwoch. Dabei waren eine 17 Jahre alte Jugendliche und ihr 19 Jahre alter Begleiter erstochen und weitere Fahrgäste so schwer verletzt worden, dass sie Tage nach der Tat noch im künstlichen Koma lagen. Als Täter verhaftete die Polizei einen 33-Jährigen, der erst wenige Tage zuvor nach einjähriger Haft aus der JVA Billwerder entlassen worden war.
Dennis Thering, der Fraktionsvorsitzende der oppositionellen CDU-Bürgerschaftsfraktion, spricht von „totalen Versäumnissen“ der „überforderten“ Hamburger Justiz und verlangte eine klare Fehleranalyse durch Senatorin Anna Gallina. „Einmal mehr beweist die Senatorin, dass sie ihren Aufgaben nicht gewachsen ist“, sagte Thering.
Bluttat von Brokstedt: Justizbehörde antwortet auf Fragen ausweichend
Statt umfassend über den Fall zu informieren, antwortet Gallinas Behörde auf konkrete Fragen des Hamburger Abendblatts zu Ibrahim A.s Konsum illegaler Drogen und zur Verabreichung der Ersatzdroge Methadon in der Hamburger Haft eher ausweichend.
Die Behörde schreibt, dass eine „psychiatrische Betreuung des Tatverdächtigen, die aufgrund während des Haftverlaufs festgestellter Auffälligkeiten seitens der JVA veranlasst worden war, durchgängig stattgefunden“ habe, dass ein Psychiater kurz vor der Entlassung keine Fremd- und Selbstgefährdung festgestellt habe, es daher „keine belastbaren Anhaltspunkte“ gegeben habe, eine rechtliche Betreuung zu beantragen oder den Sozialpsychiatrischen Dienst einzuschalten. Und sie schreibt: dass zu den „Auffälligkeiten“ nicht mehr mitzuteilen sei.
Kriminologe: Anwendung von Maßnahmen zur Resozialisierung nicht erkennbar
Der Hamburger Kriminologe und Jurist Bernd Maelicke spricht hingegen von einem vorbildlichen Gesetz, das müsse nur angewendet werden. Es geht um das Landesgesetz zu Resozialisierung und Opferschutz von 2019. Das soll verhindern, dass Ex-Häftlinge unbetreut und auf sich allein gestellt in ein „Entlassungsloch“ fallen, wenn sie in „dieselben sozialen Verhältnisse zurückkehren, die vor der Haft zur Tat geführt hatten“.
Nur: Die Anwendung der im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen zur Prävention sind „in diesem Einzelfall nicht erkennbar“, so Maelicke. Das Gesetz sei gut. Aber: Es könne nicht angewendet worden sein, so der anerkannte Strafrechtsexperte.
Justizbehörde: Vorgaben des Gesetzes gelten nur für die Strafhaft
Die Justizbehörde wehrt sich gegen Maelickes Kritik: „Die Vorgaben des Gesetzes zum Eingliederungsplan und auch zum Integrierten Übergangsmanagement gelten nur für die Strafhaft, nicht für die Untersuchungshaft“, teilte die Behörde mit. Sie verweist darauf, dass „aufgrund der ungewissen Entlassungsperspektive für Untersuchungshaftgefangene ein zeitlich und inhaltlich strukturiertes Übergangsmanagement … nicht umgesetzt werden“ könne.
Die Eingliederungsplanung erfolge im Anschluss an die Untersuchungshaft, wenn feststehe, wie lange die Strafdauer ist. Ibrahim A. war zwar zu einem Jahr verurteilt worden und hatte auch ein Jahr in Haft gesessen. Da aber das Urteil nicht rechtskräftig war, galt die Zeit offiziell als Untersuchungs- und nicht als Strafhaft – trotz gleich langer Haftzeit.
CDU-Generalsekretär Kilian fordert schnellere Abschiebung von Straftätern
Während die Hamburger CDU auf den Justizausschuss am Donnerstag setzt, um den Druck zu erhöhen, fordert die schleswig-holsteinische CDU schon jetzt ein „Übergangsmanagement“ für psychologisch auffällige oder drogenabhängige Gefangene ohne soziales Netz und festen Wohnsitz. Das sagte der neue Generalsekretär Lukas Kilian dem Abendblatt. Der Schutz der Gesellschaft dürfe bei der Entlassung von Straftätern nicht aus den Augen verloren werden.
Kilian forderte, straffällig gewordene geduldete Ausländer schneller abschieben zu können. Er sieht die Bundesregierung in der Pflicht, auch in Fällen wie dem aktuellen – A. ist staatenloser Palästinenser – Abschiebungen zu ermöglichen. „Das ist ein schwieriges Problem, das in ähnlicher Weise die gesamte EU betrifft. Die Abschiebung muss in die Heimatregion möglich sein, ohne dass wir dafür bspw. Palästina als Staat anerkennen müssen“, so Kilian.
Ibrahim A. sitzt in Untersuchungshaft und schweigt zu den Vorwürfen
Schleswig-Holstein hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Herbst 2021 über strafrechtliche Vorwürfe gegen Ibrahim A. informiert, der zu dem Zeitpunkt in dem Land lebte. Nach Kieler Angaben meldete sich das Bundesamt am 19. November mit dem Hinweis zurück, es habe ein „Widerrufs- und Rücknahmeverfahren“ (des subsidiären Schutzes) eingeleitet. 14 Monate später hat Kiel nach eigenen Angaben immer noch nichts vom BAMF gehört. CDU-Generalsekretär Kilian hat „überhaupt kein Verständnis“, dass das so lange dauert. Insofern machten ihn Aussagen von Bundesinnenministerin Nancy Faesers nach dem Attentat „fassungslos. Sie sollte hier klare Antworten geben und nicht nur Fragen stellen.“
Während es seinen Opfern immer noch schlecht geht, sitzt der mutmaßliche Messerstecher Ibrahim A. in Untersuchungshaft und schweigt zu den Vorwürfen. Laut einer Auflistung der Deutschen Presse-Agentur wurden gegen ihn seit der Einreise nach Deutschland 2014 mindestens elf Ermittlungsverfahren eingeleitet, darunter wegen Körperverletzung, Bedrohung, Diebstahls und Drogendelikten. Viermal wurde er verurteilt, davon dreimal rechtskräftig. Erst am 19. Januar dieses Jahres war A. aus der Haft in der JVA Billwerder entlassen worden.
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Bluttat von Brokstedt: Messerangriffe in Zügen und auf Bahnhöfen 2022 verdoppelt
Mit einer Andacht in der Brokstedter Kirche haben zahlreiche Menschen der Opfer des Messerangriffs gedacht. Die Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Brokstedt hatte dazu eingeladen. Finanzministerin Monika Heinold, Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack und Sozialministerin Aminata Touré waren unter den rund 500 Besuchern.
Unterdessen wurde am Wochenende bekannt, dass sich in Zügen und auf Bahnhöfen die Zahl der Gewalttaten mit Messern im vergangenen Jahr mehr als verdoppelt hat im Vergleich zu 2021. Die Bundespolizei habe 336 Taten registriert, berichtete die „Bild am Sonntag“. In den Zügen selbst seien 82 Messerangriffe gezählt worden, 97 Übergriffe mit anderen gefährlichen Werkzeugen und fünf Angriffe mit Waffengewalt. Die Zahl der Sexualstraftaten sei von 697 auf 857 gestiegen.