Hamburg. Polizeipräsident Ralf Martin Meyer über den Anstieg der Straftaten nach Corona, Künstliche Intelligenz und die Pensionierungswelle.
Die Zahl der Straftaten ist im vergangenen Jahr in Hamburg wieder gestiegen. Diese erste Bilanz der Kriminalitätsentwicklung 2022 zog Polizeipräsident Ralf Martin Meyer im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt.
So niedrige Zahlen wie während der Pandemie werde man „so schnell nicht wieder haben“. Meyer nannte den Stillstand durch die Pandemie einen „Glücksfall für die Kriminalität“. Mit den Lockerungen der Corona-Regeln aber stieg nicht nur die Zahl der Taschendiebe an, auch in Wohnungen wird wieder häufiger eingebrochen.
Polizei Hamburg: Präsident über Kriminalität in der Pandemie
„Seit vielen Jahren haben wir hier sinkende Zahlen. Im vergangenen Jahr war es das erste Mal wieder so, dass die Zahlen leicht steigen. Ich vermute, dass wir für das Jahr 2022 bei knapp 3.000 Taten liegen werden. Im Vergleich: 2021 waren es noch 2200“, so Meyer. Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass in Hamburg im Jahr 2015 noch 9000 Wohnungseinbrüche erfasst wurden.
Vor dem Hintergrund der Pensionierungswelle und des Fachkräftemangels kündigte Meyer einen Prozess an, „um die Arbeit der Kripo weiterzudenken und weiter zu entwickeln“. Ziel sei, durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, durch eine Überprüfung der eigenen Abläufe und der Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft sowie durch die von Bundesjustizminister Marco Buschmann angekündigte „Entrümpelung des Strafgesetzesbuches“ zu einer „spürbaren Entlastung“ der Polizeikräfte zu kommen.
Hamburger Abendblatt: Herr Meyer, wie hat sich die Kriminalität in Hamburg im vergangenen Jahr entwickelt?
Ralf Martin Meyer: Wie erwartet. Der Stillstand durch die Pandemie war quasi ein „Glücksfall für die Kriminalität“. So niedrige Zahlen werden wir wohl so schnell nicht wieder haben. Insofern war uns klar, dass die Kurve jetzt wieder leicht nach oben zeigen würde, trotz aller Maßnahmen, die wir dagegen eingeleitet haben. Ein Beispiel ist der Wohnungseinbruch. Seit vielen Jahren haben wir hier sinkende Zahlen. Im vergangenen Jahr war es das erste Mal wieder so, dass die Zahlen leicht steigen. Ich vermute, dass wir für das Jahr 2022 bei knapp 3000 Taten liegen werden. Im Vergleich: 2021 waren es noch 2200. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir im Jahr 2015 noch 9000 Wohnungseinbrüche hatten. Ich gehe also weiterhin davon aus, dass unsere Konzepte greifen.
Bei welchen Delikten, die die Hamburger unmittelbar in ihrem Sicherheitsempfinden betreffen, sind neben dem Wohnungseinbruch die Zahlen gestiegen?
Ralf Martin Meyer: Zum Beispiel ist der Taschendiebstahl wieder angestiegen. Wir bewerten das im Kontext der Vielzahl an Menschen, die 2022 wieder unterwegs waren. Auch das 9-Euro-Ticket hat bei dieser neuen Mobilität eine Rolle gespielt. Dazu kam ein gefühlter Nachholeffekt. Die Pandemie ist vorbei. Die Menschen machen wieder Party, sind in großen Menschenmengen unterwegs. Leider ist das immer auch eine Gelegenheit für Taschendiebe.
Wie hat sich die Kriminalität im Netz im vergangenen Jahr entwickelt?
Ralf Martin Meyer: Insbesondere die Zahlen im Betrugsbereich sind nach wie vor hoch. Eine Entwicklung, die ich mit Sorge betrachte. Manchmal sind die Menschen aber auch zu naiv. Wenn Kaufangebote im Internet „zu schön sind, um wahr zu sein“, also sehr günstig und verlockend, dann sage ich: Obacht! Es könnte sein, dass sie schlicht „zu kriminell sind, um wahr zu sein“! Mein Präventionshinweis: Seien Sie misstrauisch, vertrauen Sie ihrem Bauchgefühl und im Zweifel: Finger weg von der Tastatur! Den Katzenjammer können Sie sich ersparen!
Welche Prognose geben Sie zur Entwicklung der Kriminalität im Netz ab?
Ralf Martin Meyer: Ich gehe davon aus, dass die Kriminalität im Netz weiter ansteigen wird. Darüber hinaus ist vom Gesetzgeber vorgesehen, dass Provider verpflichtet werden sollen, in den sozialen Medien festgestellte Hasskriminalität zur Anzeige zur bringen. Das ist gesellschaftlich gut und richtig. Wird sich aber in der Statistik deutlich zeigen. Und es wird nicht nur uns, sondern alle Landeskriminalämter organisatorisch und personell vor Probleme stellen. Deshalb haben wir bereits jetzt einen Prozess angestoßen, um die Arbeit der Kripo weiterzudenken und weiter zu entwickeln. Wir müssen angesichts dieser Massen an Anzeigen gucken, dass wir zu neuen Ufern kommen.
Heißt das, dass die Delikte, die vermutlich nicht vor Gericht landen werden, auch nicht mehr von Ihnen verfolgt werden könnten?
Ralf Martin Meyer: Nein, diese Schlussfolgerung wäre zu einfach, es ist komplizierter. Wenn ich sage, wir müssen zu neuen Ufern kommen, meine ich konkret drei Dinge: Zum einen müssen wir gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft unsere eigenen Prozesse optimieren, um dauerhaft auf beiden Seiten zu spürbaren Entlastungen zu kommen. Hier gibt es bereits erste Schritte zur Steigerung der Effizienz, die hoffentlich ausgebaut werden kann. Ich habe über die Jahre gute Erfahrungen mit einem Benchmarking gemacht, also die Erkenntnisse anderer Bundesländer einzubeziehen und unsere Prozesse und Strukturen auch mit dem Blick über den Tellerrand zu hinterfragen.
Wo können wir schneller werden? Wo können wir den Aufwand reduzieren und unsere Abläufe verschlanken? Die Staatsanwaltschaft wollen wir hier frühzeitig einbeziehen, denn sie beeinflusst in vielen Fällen auch unsere Prozesse und es wäre nicht zielführend, nebeneinander her zu organisieren. Ein zweiter Bereich wäre der Einsatz künstlicher Intelligenz bei einfach gelagerten und sich wiederholenden Ermittlungen. Ich kann heute noch nicht genau sagen, in welchem Ausmaß dies stattfinden kann und es wird sicher auch noch etwas dauern. Aber wir müssen und werden darüber nachdenken. Und der dritte Bereich betrifft den Gesetzgeber. Dazu passt, dass der Bundesjustizminister gerade erklärt hat, das Strafgesetzbuch „entrümpeln“ zu wollen.
Was könnte das konkret für die Arbeit der Polizei bedeuten, wenn es zu dieser „Entrümpelung“ käme?
Ralf Martin Meyer: Es wäre zum Beispiel aus meiner Sicht denkbar, dass Betrugsfälle unter einer Schadensgrenze von 50 Euro nicht mehr als Straftat eingeordnet werden, sondern als Ordnungswidrigkeit. So etwas könnte – gut gemacht – zu einer spürbaren Entlastung führen. Ich bin überzeugt, dass wir langfristig denken müssen, auch vor dem Hintergrund der zunehmenden Prioritäten und einem sich mehr und mehr entwickelnden Fachkräftemangel. Dazu kommt das Ziel, den Beruf des Kriminalisten im Landeskriminalamt attraktiv zu halten.
Haben Sie die ersten Gespräche mit der Staatsanwaltschaft über eine neue Zusammenarbeit schon geführt?
Ralf Martin Meyer: Beide Institutionen wissen voneinander, was auf dem Plan steht, aber der Prozess hat gerade erst begonnen. Wir stehen erst am Anfang einer Entwicklung, die dazu führen kann, dass wir zunehmend weniger geeignete Arbeitskräfte finden. Bis 2026 wird uns die riesige Gruppe der Babyboomer verlassen haben. Hier gilt es an verschiedenen Stellen gemeinsam gegenzusteuern.
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Wir verstehen das richtig? Ihr Ziel ist, Vorgänge oder Fälle früher einstellen zu können.
Ralf Martin Meyer: Das wäre zu kurz gesprungen. Wir wollen zunächst durch interne Prozesse an verschiedenen Stellen optimieren, beschleunigen und vereinfachen. Dabei könnten auch diejenigen, die für die Einstellung zuständig sind, früher in die Prozesse eingebunden werden und es soll die Diskussion angestoßen werden, wie wir durch Entkriminalisierung mehr Effizienz im Strafrecht schaffen.
Die vergangenen Jahre waren eher dadurch gekennzeichnet, dass man vieles neu kriminalisiert hat …
Ralf Martin Meyer: Das ist richtig, zuletzt beim Thema Hass und Hetze im Netz. Da spiegelt sich gesellschaftliche Entwicklung wider. Es geht aber nicht darum aktuelle Kriminalisierung infrage zu stellen, sondern zu diskutieren, was an weniger Kriminalisierung denkbar ist. Die Realität ist ein Trichter, das heißt, längst nicht alles, was oben an Anzeigen hinein geht kommt vor Gericht, vornehm ausgedrückt.