Hamburg. Die Entschlüsselung von Encrochat hat die Polizeiarbeit verändert. Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer erklärt wie.

Einen vergleichbaren Glücksfall gab es noch nicht in der Geschichte der Hamburger Polizei: Weil Europol-Experten den kompliziert verschlüsselten Chatdienst Encrochat, über den beispielsweise Drogenhändler miteinander kommunizierten, knacken konnten, fielen den Fahndern in der Hansestadt kompletten Datensätze über kriminelle Strukturen quasi „in den Schoß“.

In der Folge haben Hamburger Ermittler 260 Haftbefehle vollstreckt und 66 Millionen Euro eingezogen. „Wir haben per Beschluss insgesamt 57 Millionen an Immobilienwerten arrestiert, weitere rund neun Millionen wurden an Bargeld, Schmuck und Fahrzeugen tatsächlich gesichert. Dazu gehören Fahrzeuge, die zeitnah versteigert werden.“ Das sagte Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer im Interview mit dem Abendblatt.

Polizeipräsident Meyer: Sichergestelltes Kokain-Geld finanziert Polizeiarbeit

„Indem wir zusätzliche Stellen in diesem Ermittlungsbereich besetzen konnten, haben wir unsere Ermittlungen noch einmal forciert. Ein Teil dieser Arbeit wird quasi durch die kriminellen Gewinne finanziert. Am Ende wird der Staat so wesentlich mehr kriminelles Vermögen einziehen und die Organisierte Kriminalität effektiv bekämpfen können“, so Meyer weiter.

Dieser Ermittlungsdruck und Erfolg im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität führe „zu Unsicherheiten und Unruhen“, so Meyer. Und habe Folgen: „Wenn Täter in Haft sitzen oder auf der Flucht sind, können sie nicht mehr ihren kriminellen Handlungen nachgehen, sie erleiden Kontrollverluste. Bisherige Strukturen verändern sich also und das kann zu solchen Taten führen“, sagte der Polizeipräsident in Zusammenhang mit den Schüssen auf ein fahrendes Auto mit einem Schwerverletzten vor wenigen Tagen in Tonndorf. Meyer kündigte ein entschlossenes Vorgehen an.

Hamburger Abendblatt: Lassen Sie uns über Encrochat sprechen, das Whatsapp der Kriminellen. Spezialisten von Europol haben das verschlüsselte Kommunikationssystem geknackt. Seither kam es zu Dutzenden Festnahmen in Hamburg, Verurteilungen, Einzug von Vermögenswerten. Profitieren Sie bei Ihren Erfolgen von geschenkten Erkenntnissen?

Ralf Martin Meyer: Encrochat ist wirklich dem Knowhow der Experten bei Europol zu verdanken, die es geschafft haben, die Verschlüsselung zu überwinden. Diese Informationen und Beweismittel zur Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität hätten wir mit den klassischen Methoden und Ressourcen zur verdeckten Verbrechensbekämpfung nicht erreicht. Sie sind ein Ergebnis internationaler Kooperation.

Polizei zieht 66 Millionen Euro nach Encrochat-Ermittlungen ein

Zur Terrorverhinderung und -bekämpfung wie jetzt vermutlich in Castrop-Rauxel braucht Deutschland die Erkenntnisse der amerikanischen Dienste, zur Entschlüsselung von krimineller Kommunikation französische Experten bei Europol. Warum leisten wir das nicht selbst?

Ralf Martin Meyer: Jede Kooperation lebt von den Beiträgen ihrer Teilnehmer. Daran gibt es nichts zu kritisieren. Wir sitzen ja bei Europol mit am Tisch, ein Instrument europäischer Zusammenarbeit, deren Wert ihre Mitglieder aus unterschiedlichsten Nationen ausmachen. Am Ende ist es Experten aus Frankreich gelungen, Encrochat zu entschlüsseln. Es wäre aber zynisch, diesen Umstand zu kritisieren und ist dem eigenen Berufsstand abträglich, wenn man kritisiert, dass wir auf andere Experten angewiesen waren. Wenn es um die Frage geht „was dürfen andere Dienste, was wir nicht dürfen“, ist das etwas anderes, aber wir leben nun mal in einem Rechtsstaat und daran halten wir uns.

Sie haben in Folge der Encrochat-Ermittlungen kriminelles Vermögen eingezogen. Wie viel genau?

Ralf Martin Meyer: Wir haben per Beschluss insgesamt 57 Millionen an Immobilienwerten arrestiert, weitere rund neun Millionen wurden an Bargeld, Schmuck und Fahrzeugen tatsächlich gesichert. Dazu gehören Fahrzeuge, die zeitnah versteigert werden. In dem wir zusätzliche Stellen in diesem Ermittlungsbereich besetzen konnten, haben wir unsere Ermittlungen noch einmal forciert. Ein Teil dieser Arbeit wird quasi durch die kriminellen Gewinne finanziert. Am Ende wird der Staat so wesentlich mehr kriminelles Vermögen einziehen und die Organisierte Kriminalität effektiv bekämpfen können.

Aber man kann getrost davon ausgehen, dass zum Beispiel der Drogenhandel ungebremst weiterläuft. Der Preis beispielsweise für Kokain ist nach der durch die Encrochat-Entschlüsselung ermöglichten Zerschlagung von Händlerstrukturen nicht signifikant gestiegen. Statt Encrochat gibt es jetzt etwas Neues.

Ralf Martin Meyer: Deswegen lassen wir auch nicht nach und bleiben weiter dran. Weitere Systeme sind bereits oder werden in Zukunft entschlüsselt. Aktuell schauen wir gerade, über welche neuen Wege Betäubungsmittel nach Deutschland bzw. nach Europa kommen. Hier müssen wir ansetzen, um transeuropäisch noch besser zusammenzuarbeiten.

260 Haftbefehle im Zusammenhang mit Encrochat-Ermittlungen vollstreckt

Erst ein Mord in einer Shisha-Bar, jetzt die Schüsse in Tonndorf auf einen fahrenden Wagen mit einem Schwerverletzten, wo mehr durch Zufall kein unbeteiligter Passant verletzt wurde. Eskaliert der Verteilungskampf unter Kriminellen / Drogendealern?

Ralf Martin Meyer: Solche Taten dulden wir nicht in Hamburg. Sie werden Konsequenzen haben. Das zeigen schon die zahlreichen Haftbefehle und Festnahmen! In der Mordsache „Shisha-Bar Hohenfelde“ sind bereits Haftbefehle erlassen, einer ist bereits vollstreckt. Die Abteilung für das Organisierte Verbrechen im Landeskriminalamt hat inzwischen fast 260 Haftbefehle im direkten Zusammenhang mit den EncroChat-Ermittlungen vollstreckt und damit etliche Dealer der Organisierten Rauschgift-Kriminalität vom Markt genommen. Und die Ermittlungen laufen täglich weiter. In den Reihen der Kriminellen führt dieser Ermittlungsdruck zu Unsicherheiten und Unruhen, das ist nicht verwunderlich. Wir werden an dieser Stelle weitermachen, auch um Eskalationen zu verhindern. Nochmal: wir gehen mit aller Konsequenz des Rechtsstaates gegen solche Täter vor.

Ist das auch eine Folge der erfolgreichen Encrochat-Ermittlungen, durch die die Polizei bestehende Drogenhändler-Strukturen zerschlagen hat?

Ralf Martin Meyer: Die Folgen sind in erster Linie 260 vollstreckte Haftbefehle sowie 66 arrestierte Millionen. Das kann sich mehr als sehen lassen. Chapeau für unsere OK-Ermittler und deren vielseitige Unterstützerinnen und Unterstützer. Damit setzt die OK-Abteilung Maßstäbe. Ich bin froh, dass wir diesen Bereich erheblich mit Ermittlerinnen und Ermittlern aber auch anderen Expertinnen und Experten verstärken konnten. Inzwischen sind dort mehr als 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit viel Herzblut und Power dabei. Solange ich denken kann, ist das der größte personelle Ansatz und die erfolgreichste Zeit der OK-Bekämpfung. Wer das kritisiert, verkennt die Tatsachen oder will sie nicht zu Kenntnis nehmen, warum auch immer.

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Täter sind zunehmend bewaffnet und scheinen die Waffen auch skrupellos einzusetzen. Droht Hamburg eine neue Welle der Gewalt?

Ralf Martin Meyer: Dass unser Ermittlungserfolg auch diese Nebenwirkung haben kann, wissen wir aus vergangenen Zeiten. Wenn Täter in Haft sitzen oder auf der Flucht sind, können sie nicht mehr ihren kriminellen Handlungen nachgehen, sie erleiden Kontrollverluste. Bisherige Strukturen verändern sich also und das kann zu solchen Taten führen. Es ist jetzt ein logischer nächster Schritt auch dagegen entschlossen vorzugehen. Mehr kann und möchte ich dazu im Moment nicht sagen.

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