Hamburg. In nur 37 Tagen marschierte er durch alle HSV-Instanzen und versprach nach seinem Aufstieg viel – gehalten wurde wenig. Ein Überblick.

Es ist ein gutes Dreivierteljahr her, als Thomas Wüstefeld sich entschuldigen musste. Der Unternehmer kam zum verabredeten Antrittsbesuch beim Abendblatt zu spät. Immerhin hatte Wüste­feld eine gute Begründung für sein Zuspätkommen. Er war noch in einem Zoom-Call mit dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas.

Es ging um die Olympischen Winterspiele von Peking, um eine Zusammenarbeit beim Testen von Corona, um Produktionsstätten vor Ort, um viel Geld. Große Pläne, sagte Wüstefeld, der im gleichen Gespräch auch noch von einer möglichen Zusammenarbeit mit der Fifa bei der WM in Katar und von seinem ganz persönlichen Ziel für 2022 berichtete: die Entwicklung eines Hamburger Impfstoffs gegen Corona.

HSV News: Wüstefeld flog durch alle Instanzen

China, Katar, Corona. Das war die Flughöhe, auf der Wüstefeld rund um Weihnachten beim HSV eingeschwebt kam. In nur 37 Tagen flog der 53-Jährige durch alle HSV-Instanzen, wie es vor ihm noch niemand sonst geschafft hatte. Erst kaufte er Milliardär Klaus-Michael Kühne für 14,2 Millionen Euro 5,11 Prozent der HSV-Anteile ab, dann wurde er Aufsichtsrat, Chefkontrolleur und schließlich Vorstand. All das zwischen dem 30. November und dem 6. Januar, zwischen China und Katar, zwischen einem Hamburger Impfstoff und einem Medikament gegen Corona – natürlich ganz ohne Nebenwirkungen. Egal welche Palette Wüstefeld auch anpackte, er fand noch eine weitere, die er darüber stapeln musste.

Neun Monate später hatte der Tausendsassa beim HSV so hochgestapelt, dass früher oder später alles in sich zusammenfallen musste. Der Wüstefeld-Turm wankte wochenlang – am Mittwochabend kippte er schließlich um.

Thomas Wüstefeld erhebt schwere Vorwürfe

Gegenüber der „Bild“-Zeitung sagte Wüstefeld, dass er Aufsichtsratschef Jansen bereits am Wochenende informiert habe, dass er sein Mandat bei der nächsten Aufsichtsratssitzung niederlegen werde. Und Wüstefeld erhob sogar schwere Vorwürfe: „Der entscheidende Grund aber ist, dass ich seit Längerem aus dem Aufsichtsrat nicht mehr die notwendige Unterstützung spüre und auch von meiner Seite das gegenseitige Vertrauen nicht mehr gegenüber allen Mitgliedern des Aufsichtsrats besteht. Aus meiner Sicht ist ein Teil des Rates (...) durch außenstehende und eigene Interessen gesteuert.“

Schwere Vorwürfe – vor allem gegen Investor Klaus-Michael Kühne. Er könne sich auch nicht erklären, „wie hochvertrauliche Informationen an bestimmte externe Personenkreise durchgestochen wurden, welche nachweislich nur dem Vorstand und dem Aufsichtsrat bekannt waren“, sagte Wüstefeld, der sich auf Abendblatt-Anfrage nicht äußerte.

Immer noch Zweifel an seinen akademischen Titeln

Was er aber auch der „Bild“ nicht sagte: Bis heute konnte er die vom Abendblatt aufgedeckten Zweifel an seinen akademischen Titeln auch gegenüber dem Aufsichtsrat nicht ausräumen. Trotz mehrfacher Ankündigung, Beweise vorzulegen, konnte Wüstefeld immer nur auf seinen Personalausweis verweisen, in dem sein angeblicher Doktortitel vermerkt sei. Das Versprechen, „bestimmten Personenkreisen“ seine Dissertation und auch Unterlagen zu seinem Professorentitel zu zeigen, blieb er bis heute schuldig.

Am Ende der Aufsichtsratssitzung vom Mittwoch blieben bei mehreren Räten große Zweifel, ob es die Titel tatsächlich gibt. Auch der stellvertretende Aufsichtsratschef Andreas Peters, der sich auf der letzten Aufsichtsratssitzung vor Wochen noch gegen ein sofortiges Wüstefeld-Ende aussprach, hatte sich umstimmen lassen. Der Jurist soll zuletzt versucht haben, sämtliche Vorwürfe zu überprüfen. Nach Abendblatt-Informationen soll auch Michael Papenfuß, der stets auf Wüstefeld-Kurs war, gegen ihn gestimmt haben. 2:5 gegen Wüstefeld – somit stand fest: Der Kontrolleursdaumen war gesenkt.

Wüstefeld stolperte lange nach vorne

Dabei ist der umtriebige Unternehmer bereits seit Monaten am Straucheln, hatte es aber bislang immer wieder geschafft, nach vorne zu stolpern statt umzufallen. Das fing bereits kurz nach seiner Amtsübernahme an, als das Abendblatt im Fe­bruar die Geschäftsbeziehung enthüllte, die er und Aufsichtsratschef Marcell Jansen bereits vor Wüstefelds einmaligem Aufstieg beim HSV eingegangen waren. Mit Vorstandskollege Jonas Boldt war das Verhältnis von Anfang an belastet, spätestens nach der Saison zerrüttet.

Doch der Palettenturm Wüstefelds reichte weit über den HSV-Kosmos hinaus. Bereits im Juni veröffentlichte das Abendblatt eine große Hintergrundgeschichte über Wüstefelds Firmenimperium und fragte: „Was steckt hinter seinen Geschäften?“ Die Antwort folgte nur wenig später: „Millionenforderungen und Vorwürfe gegen Thomas Wüstefeld“ titelte das Abendblatt Ende Juni.

Wüstefeld wies alle Behauptungen zurück

Der Unternehmer wies stets alle Behauptungen zurück – auch als gleich zwei Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft eingegangen waren und sich die zivilrechtlichen Auseinandersetzungen und Millionen-Forderungen häuften. Mit der Justiz steht und stand Wüste­feld im Daueraustausch. Als Beklagter und Kläger. So warfen seine Anwälte Karl Gernandt, dem Chef der Kühne Holding, im Zusammenhang mit einem Anteilsdeal „arglistige Täuschung“ vor.

Und Wüstefeld ließ keine Gelegenheit aus, selbst an seinem Palettenturm zu sägen. Er versprach ein Finanzierungskonzept samt Bürgen, um das Volksparkstadion zu modernisieren – und konnte das Versprechen bis heute nicht einlösen. Er verscherzte es sich mit den Vertretern der Stadt Hamburg, mit Sponsoren und Partnern, er brachte nahezu die gesamte Geschäftsstelle des HSV gegen sich auf. Und als alle Stricke zu reißen drohten, wollte er dann tatsächlich einen echten Turm bauen. Keinen Wüstefeld-Palettenturm, sondern einen HSV-Tower. Zusammen mit der sogenannten HSV-Plaza für rund 200 Millionen Euro, mindestens 25 Stockwerke hoch, ziemlich genau in der Einflugschneise des Hamburger Flughafens.

Für Titelsammlung gibt es keine Erklärung

Das Problem: Mit der zuständigen Politik hatte er darüber noch nicht gesprochen – und auch das Architektenbüro war mächtig verstimmt, als es hörte, dass Wüstefeld die Geheimpläne öffentlich machte. Es folgte eine aberwitzige Jagd nach einem Maulwurf, den es gar nicht gab, und eben das mehrfache Versprechen, diese ärgerliche Nebensächlichkeit mit seinen Titeln aufzuklären.

Mittlerweile gibt es eine regelrechte Titelsammlung, für die es trotz zahlreicher Nachfragen und Ankündigungen noch immer keine Erklärung gibt: Neben dem Doktor und Professor trägt Wüstefeld auf Firmenwebseiten auch einen „PhD“ aus dem englischsprachigen Raum, ohne dass sich in intensiven Abendblatt-Recherchen davon öffentliche Spuren finden ließen. Wüstefeld gab auch an, sowohl Diplom-Ingenieur als auch Diplom-Ökonom zu sein, aber Details sind ebenso unklar.

Jansen stand Wüstefeld wohl nahe

Am Donnerstagnachmittag durfte dann auch Marcell Jansen zu all dem Stellung beziehen. Also der Mann, der in den vergangenen Monaten stets neben dem hübschen Palettentürmchen stand, und sich zu freuen schien, was da wohl entstehen würde. Jansen konnte sich einbilden, auch an Wüstefelds neuem HSV mitzubauen, hielt stets die Hand über den immer häufiger kritisierten Vorstand.

Eng waren die beiden ohnehin, vielleicht persönlich, sicherlich geschäftlich. Jansen hatte Wüstefeld beim Vertrieb für seine Corona-Maschinen geholfen, Wüste­feld hatte sich mit Spenden für Jansens gemeinnützigen Verein HygieneCir­cle revanchiert. Eine Hand wäscht die andere, heißt es ja immer so schön. Nur dass in diesem Fall die eine Hand dem Mann gehörte, der Wüstefeld als Aufsichtsratsvorsitzender hätte kontrollieren müssen. Jansen kam eine knappe Viertelstunde zu spät in den voll besetzten Presseraum und sagte mit vielen Worten: nicht viel.

Wusste Jansen Bescheid?

Frage: Ob die Frage nach Wüstefelds Titeln im Aufsichtsrat beantwortet wurde? Antwort: Man habe alles überprüft. Nachfrage: Was ist bei der Überprüfung herausgekommen? Antwort: Wüstefeld habe Unterlagen vorgelegt. Die nächste Nachfrage: Konnten die Unterlagen die Zweifel ausräumen? Die nächste Nicht-Antwort: Jansen sei bei dem Termin nicht dabei gewesen, habe aber nichts Gegenteiliges gehört. Und noch ein letzter Versuch: Will der Aufsichtsrat denn überhaupt die immer noch ungeklärten Dinge aufklären? Jansen Antwort: Da sei vor allem Wüste­feld als Privatperson gefragt.

Man weiß nicht, ob Jansen über Wüste­felds Aktivitäten in Gänze Bescheid wusste. Und ob er mehr über den noch immer nebulösen Werdegang Wüstefelds weiß. Dessen digitale Spuren verwischen rund um 2014, einen Wikipedia-Eintrag gibt es nicht. Wer nach seinem Doktor und Professor sucht, der bemerkt sehr schnell, dass man auch sonst wenig in der digitalen Welt findet. Außer Stichworte und Geschäftsfelder, auf denen sich Prof. Dr. Wüstefeld betätigt hat: Bauinformatik, aber auch Nahrungsergänzungsmittel, Medizinprodukte und Cannabisöl.

Wüstefeld spielte in der Bezirksliga Fußball

In der analogen Welt wird man auch nicht viel schlauer. In Fuhrbach hat er Fußball gespielt, nicht wie behauptet in der Landesliga, sondern in der Bezirksliga. Angeblich sei er ja schon als Kind HSV-Fan gewesen, sagt er. In seiner Heimat kann man sich nur an den Schalke-Fan Thomas erinnern. Er hat eine Schwester, eine Ausbildung im Metallbereich. An den Wochenenden soll er als Rettungssanitäter gearbeitet haben. Und an der Fachhochschule Holzminden soll er Bauingenieurwesen studiert haben – von einem Doktor oder sogar Professor weiß hier aber niemand etwas. Ach ja, in der IT-Entwicklung soll er auch lange unterwegs gewesen sein. Sagt man jedenfalls.

In der Gegenwart muss Wüstefeld geahnt haben, dass es eng werden könnte. Termine hatte er in den vergangenen Tagen abgesagt, beim HSV wurde der Hansdampf in allen Gassen plötzlich gar nicht mehr gesehen. Seit Mittwoch ist das Kapitel HSV erst einmal beendet. Seine Anteile hat Wüstefeld zwar noch immer. Aber ansonsten war es das.

HSV News: Wüstefeld hat nun für andere Dinge Zeit

Die gute Nachricht für Wüstefeld: Nun hat er wieder genügend Zeit, um sich auf zahlreiche andere Pläne zu konzentrieren. Bis zur WM in Katar sind es ja noch ein paar Wochen. Und überhaupt: Wer jemals das Gesellschaftsspiel Jenga gespielt hat, der weiß: Wenn ein Turm umgekippt ist, dann muss eben der nächste Turm wieder hochgestapelt werden.