Hamburg. Wer ist der Mann, in dessen Schließfach 214.800 Euro gefunden wurden – und was macht ihn so anders als andere Hamburger SPD-Politiker?

Die Hamburger SPD hat im Laufe der Jahrzehnte, in der sie die Macht im Rathaus innehat, einen männlichen Politiker-Typus herausgebildet, der sich mit den Eigenschaften staatstragend, konsensorientiert, zwar verbindlich, doch vorsichtig und abwägend, aber auch etwas abgehoben und soigniert umschreiben lässt. Manche fügen noch das Etikett „hanseatisch“ hinzu. Dafür stehen Namen wie Klaus von Dohnanyi, Henning Voscherau, aber auch Olaf Scholz und Peter Tschentscher.

Johannes Kahrs, bis zu seinem abrupten Rücktritt von allen Ämtern im Mai 2020 einer der mächtigsten und erfahrensten Hamburger Sozialdemokraten, war der Gegenentwurf zum vorherrschenden politischen Charakter an Alster und Elbe, der Antitypus: laut, direkt, keinem Streit aus dem Wege gehend, bisweilen brachial durchsetzungsfähig und in seiner Kritik gelegentlich auch persönlich verletzend – nicht nur gegenüber den politischen Gegnern, sondern auch den eigenen Parteifreunden, wenn er es für nötig erachtete.

Johannes Kahrs: Ausstieg aus der Politik kam überraschend

Der 58 Jahre alte Oberst der Reserve gehörte dem Bundestag seit 1998 an, war Vorsitzender des Seeheimer Kreises, in dem sich die Sozialdemokraten des rechten Parteiflügels zusammengeschlossen haben, und lange einflussreiches Mitglied des Haushaltsausschusses des Bundestages. Als einer der führenden „Seeheimer“ hatte seine Stimme in Berlin nicht nur innerhalb der SPD-Bundestagfraktion Gewicht.

Selbst für langjährige Wegbegleiter kam Kahrs’ Ausstieg aus der Politik überraschend: Weil er von seiner Fraktion nicht als Wehrbeauftragter vorgeschlagen worden war – Kahrs berief sich auf eine mündliche Zusage des SPD-Fraktionschefs Rolf Mützenich –, warf er Knall auf Fall alles hin und trat von sämtlichen politischen Ämtern zurück.

Kahrs äußert sich politisch nicht mehr öffentlich

Mit diesem Paukenschlag endete die politische Karriere des vermutlich schillerndsten und umstrittensten Hamburger Sozialdemokraten der vergangenen beiden Jahrzehnte. „Ich melde mich hiermit ab“, sagte er militärisch knapp im Abendblatt-Interview, dem einzigen, das er nach seinem Rücktritt gab. Und er hielt sich daran: Kahrs, der inzwischen die Beratungsgesellschaft Duckdalben Consulting GmbH gegründet hat, äußert sich politisch nicht mehr öffentlich.

Viele Freundinnen und Freunde außerhalb seines Kreisverbands Hamburg-Mitte hatte Kahrs auch im eigenen Landesverband nicht. Als Protagonist des Mitte-rechts-Lagers blieb er für die Parteilinken buchstäblich ein rotes Tuch, auch wenn die Flügelkämpfe in der SPD mittlerweile Geschichte sind. Die persönlichen Animositäten aus der Zeit früherer Auseinandersetzungen sind vielfach geblieben. Sie reichen zurück bis in ferne Juso-Zeiten, als sich Kahrs im Umgang mit innerpartei­lichen Gegnern und Gegnerinnen bereits als wenig zimperlich erwies.

Kahrs hatte sich eine unangreifbare Machtbastion geschaffen

Angesichts dieser parteiinternen Ausgangslage konnte sich Kahrs nur deswegen so lange in seinen Ämtern halten, weil er sich mit seinem Kreisverband Hamburg-Mitte, dessen Vorsitzender er seit 2002 war, eine unangreifbare Machtbastion geschaffen hatte. Es ist nicht übertrieben, von einem „System Kahrs“ zu sprechen. Es gründete im Wesentlichen auf zwei Säulen.

Zunächst war Kahrs seit 1998 stets direkt gewählter Bundestagsabgeordneter des Wahlkreises Hamburg-Mitte. Lange war „Mitte“ eine Hochburg der SPD, und Kahrs war nicht darauf angewiesen, dass ein Landesparteitag ihn auf einen aussichtsreichen Listenplatz für die Bundestagswahl setzte. Anfangs versuchte er es und fiel durch (Gründe siehe oben), dann verzichtete er von vornherein auf eine Listenkandidatur. Nur beim letzten Mal – 2017 – trat er auf Platz zwei an und wurde auch gewählt – vielleicht ein Zeichen, dass die Wunden von einst wenig verheilten.

Kahrs war ein beeindruckender Netzwerker

Die Absicherung auf der Liste war durchaus angebracht: Kahrs zog mit 30,9 Prozent Erststimmen nur noch relativ knapp vor dem CDU-Kandidaten Christoph de Vries mit 24,2 Prozent direkt in den Bundestag ein.

Die zweite Säule war der SPD-Kreisverband selbst, den Kahrs völlig auf sich ausgerichtet hatte. Gegen Kahrs konnte niemand aus Mitte in der Hamburger SPD (oder im Senat) Karriere machen. Wer dagegen seine Unterstützung hatte, war fast schon am Ziel. Kahrs war ein beeindruckender Netzwerker, er hatte das Talent, junge Menschen für die Politik zu begeistern, für sich (und seine Wahlkämpfe) einzuspannen und den Begabten unter ihnen auch Posten zu verschaffen. Im Laufe der Jahre hat er als Kreisvorsitzender ein System von Abhängigkeiten und Loyalitäten aufgebaut. Es war bisweilen verblüffend zu erleben, wie „linientreu“ und ergeben selbst gestandene Mitte-Mitglieder dem großen Zampano waren.

Andy Grote wurde nur auf massiven Druck von Kahrs Innensenator

Kahrs’ bisweilen rüde Personalpolitik war in den anderen sechs SPD-Kreisverbänden durchaus gefürchtet, zumal alle Mitte-Genossen stets wie ein Block auftraten. In der Hamburger SPD wie in anderen Parteien und deren Gliederungen auch gilt ein gewisser Regionalproporz. Doch niemand wusste die eigenen personalpolitischen Interessen so beinhart durchzusetzen wie eben Kahrs. Auch Bürgermeister mussten die Erfahrung machen, dass der Mitte-Kreischef vor politischen Drohungen nicht zurückschreckte, falls er den Eindruck hatte, dass seine Wünsche nicht erfüllt werden würden.

Unvergessen ist vielen Genossen die Situation nach dem Rücktritt des amtsmüden Innensenators Michael Neumann (SPD Mitte) Anfang 2016. Kahrs machte dem damaligen Ersten Bürgermeister Olaf Scholz schnell klar, dass er einen anderen als einen Mitte-Genossen als Neumann-Nachfolger nicht akzeptieren werde. Schließlich wurde es Mitte-Mann Andy Grote, ein Bau- und Stadtentwicklungs­experte und nicht vom Fach wie Innenpolitiker Neumann.

Scholz musste für die Grote-Entscheidung sogar eines seiner personalpolitischen Prinzipien über Bord werfen: keinen Staatsrat oder Staatsrätin, Spitzenbeamten oder -beamtin zum Senator oder zur Senatorin zu ernennen. Grote war vorher Bezirksamtsleiter in Hamburg-Mitte gewesen. Eine Kostprobe seiner Fähigkeit zum Personalpoker lieferte Kahrs auch, nachdem Peter Tschentscher 2018 Nachfolger von Olaf Scholz als Erster Bürgermeister geworden war und der bisherige Bürgerschaftsfraktionschef Andreas Dressel als Nachfolger von Tschentscher wiederum Finanzsenator wurde. Kahrs setzte Mitte-Mann Dirk Kienscherf als SPD-Fraktionschef gegen Milan Pein aus dem Kreisverband Eimsbüttel durch.

Kahrs erhielt zwei Wahlkampfspenden von jeweils knapp unter 10.000 Euro

Auf Bundesebene sah sich Kahrs früh mit Vorwürfen konfrontiert, er nehme es mit der Unabhängigkeit des politischen Mandats nicht so genau. Das Abendblatt deckte 2006 auf, dass Kahrs 2005 zwei Wahlkampfspenden von jeweils knapp unter 10.000 Euro der Rüstungskonzerne Rheinmetall und Krauss-Maffei Wegmann erhalten hatte. Spenden von 10.000 Euro und mehr sind veröffentlichungspflichtig. Kahrs war als Mitglied des Haushaltsausschusses des Bundestags Berichterstatter der SPD-Fraktion für den Verteidigungsetat. In der Funktion hat er zum Beispiel über die Anschaffung des geschützten und bewaffneten Transportfahrzeugs Dingo 2 für die Bundeswehr mit entschieden.

Auch im Cum-Ex-Skandal, in dessen Zusammenhang die Staatsanwaltschaft gegen Kahrs ermittelt, geht es unter anderem um Spenden. Gleich viermal nahm die Hamburger SPD Geldbeträge von der Warburg-Bank und mit ihr verbundenen Unternehmen an. Das Abendblatt berichtete 2020, dass die Partei 2017 insgesamt 45.500 Euro auf diesem Wege erhalten hatte, obwohl gegen die Warburg-Bank zu dem Zeitpunkt Ermittlungen wegen des Cum-Ex-Steuerbetrugs liefen und es bereits eine Durchsuchung gegeben hatte.

Kahrs vergaß nie seine politische Heimat

Drei der vier Spenden gingen direkt an Kahrs’ Kreisverband Hamburg-Mitte: insgesamt 38.000 Euro. Ein Jahr vor der Annahme der Spenden hatte die Stadt zunächst auf die Steuerrückforderung von 47 Millionen Euro gegen die Bank wegen des Cum-Ex-Deals verzichtet. Kahrs und der frühere Innensenator Alfons Pawel­czyk sollen sich mit dem damaligen Bankeigentümer Christian Olearius getroffen und Kontakte zum damaligen Bürgermeister Olaf Scholz vermittelt haben. Zwei Treffen von Banker und Bürgermeister haben auf jeden Fall stattgefunden.

Als Bundestagsabgeordneter und einflussreiches Mitglied des Haushaltsausschusses vergaß Kahrs andererseits nie seine politische Heimat. Geradezu legendär sind die von ihm zum Teil mithilfe des ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Rüdiger Kruse („KuK“) durchgesetzten Bundesfinanzierungen für Hamburger Projekte: 120 Millionen Euro für ein Deutsches Hafenmuseum, das auf dem Grasbrook entstehen soll, und die Hamburger Viermastbark „Peking“, die Sanierung des Fernsehturms oder das Projekt zur Förderung der sportlichen und sozialen Infrastruktur des Hamburger Ostens.

Kahrs hat 1998 seine Homosexualität öffentlich gemacht

Die Geschichte des Politikers Johannes Kahrs wäre nicht vollständig erzählt, wenn nicht eine weitere Facette hinzugefügt würde: Kahrs hat 1998 zu einem Zeitpunkt seine Homosexualität öffentlich gemacht, als es für einen Politiker noch eines gewissen Mutes dazu bedurfte. Mit aller Entschlossenheit und Rigorosität, die ihm zu eigen ist, hat er sich über viele Jahre für die rechtliche Gleichstellung Homosexueller eingesetzt.

Als der Bundestag im Juni 2017 schließlich die „Ehe für alle“ beschloss, nachdem Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Abstimmung in der Union gewissermaßen freigegeben hatte, reagierte Kahrs mit einem Wutausbruch. „Vielen Dank für nichts, Frau Merkel!“, schleuderte er der Kanzlerin vom Rednerpult aus entgegen. Jahr für Jahr hätte die Union Initiativen zur Ehe für alle verhindert oder blockiert. Die Attacke war auch insofern bemerkenswert, als SPD und Union damals noch Koalitionspartner waren. Seit 2018 ist Kahrs mit seinem langjährigen Partner Christoph Rohde verheiratet.

Kahrs zeigte klare Kante gegenüber der AfD

Klare Kante zeigte der SPD-Politiker über viele Jahre auch gegenüber der AfD – nicht zuletzt in hitzigen Wortgefechten im Bundestag. Enge Weggefährten berichteten nach Kahrs’ Rückzug aus der Politik, dass ihm die Anfeindungen und Drohungen in den sozialen Medien, in denen er sehr aktiv war, zuletzt sehr zugesetzt und ihn dünnhäutiger gemacht hätten.

Johannes Kahrs gilt vielen als Prototyp des Politikers, dem man vieles zutrauen kann. Das gilt auch für Spekulationen über die Herkunft der 214.800 Euro, die die Ermittler der Staatsanwaltschaft Köln in Kahrs’ Bankschließfach gefunden haben. Aber auch für Kahrs, der sich nicht äußert, gilt die Unschuldsvermutung.