Hamburg. Nach dem Rückzug von Platzhirsch Johannes Kahrs (SPD) hoffen mehrere Kandidaten auf das Bundestagsmandat im Herzen der Stadt.

Wenn es darum geht, ein Vakuum zu füllen, hat der Mann zumindest das dazu passende Auftreten. Energischer Schritt, kräftiger Händedruck (jedenfalls vor Corona), klare Ansagen. Falko Droßmann ist keiner, der eine politische Bühne durch die Hintertür betritt.

Seit 2016 leitet der Sozialdemokrat das Bezirksamt Hamburg-Mitte und hat sich durch seine selbstbewusste Amtsführung für höhere Aufgaben empfohlen. Dass er nun „nur“ anstrebt, das Bundestagsmandat im Wahlkreis Mitte zu holen, mag da zunächst wenig ambitioniert erscheinen – schließlich hat seine Partei dies immer gewonnen. Doch ein Selbstgänger, das haben die Wahlen seit 2017 gezeigt, ist das nicht mehr.

Bundestagswahl: Johannes Kahrs wurde sechsmal in Folge gewählt

Und dann ist da ja noch dieses Vakuum. Sechsmal in Folge wurde Johannes Kahrs von 1998 bis 2017 in Mitte direkt gewählt und hatte sich als Haushaltspolitiker bundesweit einen Namen gemacht. Nicht zuletzt hatte er immer wieder große Millionensummen in seine Heimatstadt geleitet – etwa für die Sanierung der „Peking“. Als er im Mai 2020 aus Enttäuschung, dass er nicht Wehrbeauftragter des Bundestags werden durfte, sein Mandat knall auf Fall aufgab, stürzte das die SPD in Hamburg-Mitte – deren Chef Kahrs nebenbei seit zwei Jahrzehnten auch war – in eine tiefe Krise.

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Wahlkreis-Serie: Der Dreikampf um das bunte Eimsbüttel

Mittlerweile hat sich Lage zwar etwas beruhigt, aber der Druck auf dem Kessel ist damit nicht vollends weg: Sollte Droßmann das Bundestagsmandat nicht holen, dürfte es wieder ungemütlich werden. Als Druck empfinde er das gar nicht, sagt der 47-Jährige bei einem Wahlkampftermin auf St. Pauli. „Johannes war Haushaltspolitiker, ich bin Sozialpolitiker. Ich will gar nicht in seine Fußstapfen treten“, stellt Droßmann klar, betont aber auch: „Trotzdem bleiben wir beste Freunde.“

Christoph de Vries (CDU) an einem Infostand in Billstedt.
Christoph de Vries (CDU) an einem Infostand in Billstedt. © Marcelo Hernandez

Mangelnden Einsatz kann man ihm nicht vorwerfen. Zwei Jahre lang hat er sich den Urlaub aufgespart, um sich jetzt komplett auf den Wahlkampf konzen­trieren zu können, den er wie so viele Kandidaten auch privat finanziert. Die größte Herausforderung bestehe für ihn darin, „an die Menschen heranzukommen“, verrät Droßmann im „Haus 5“ am Zirkusweg. Knapp 25 Anwohner, die meisten aus der örtlichen Senioren-Wohnanlage, sind ins Bistro gekommen, auf den Tischen steht Butterkuchen zwischen SPD-Flyern. Obwohl er hier bestens bekannt ist, stellt Droßmann sich kurz vor: 20 Jahre als Polizist und Berufssoldat, seit fünfeinhalb Jahren nun Bezirksamtsleiter, „und Tabledance hab ich auch mal gemacht“. Das kommt an auf dem Kiez: „Die Figur dafür haben Sie!“, ruft ein älterer Herr anerkennend.

Droßmann bezeichnet E-Scooter als „Pest“

Auch Droßmanns wichtigste Anliegen ernten Zustimmung: Altersarmut und Wohnungsmangel wolle er bekämpfen, was ja beides zusammenhänge, und zudem die Kinder- und Jugendhilfe reformieren: mehr Prävention, weniger teurer Reparaturbetrieb. In der anschließenden lebhaften Debatte geht es aber vor allem um nervige E-Scooter (Droßmann: „eine Pest“) und die Kiosk-Flut auf St. Pauli. Die Gäste nehmen kein Blatt vor den Mund. Am Ende gibt es dennoch Applaus für den Kandidaten.

Lange sah es so aus, als ob SPD und Grüne sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen um das Wahlkreis-Mandat liefern würden. Und obwohl die Umfragen nun klar in Richtung Rot kippen, gibt Manuel Muja noch lange nicht klein bei. „Wir haben ihn ja schon einmal geschlagen“, spielt der Spitzenkandidat der Grünen auf die Bezirkswahl 2019 an. Da lagen die Grünen in Mitte vor der SPD mit ihrem Bezirksamtsleiter Droßmann – machten sich das aber durch interne Querelen und Überläufer ins rote Lager zunichte.

Muja blieb Chef der Fraktion und kandidiert nun erstmals für den Bundestag. An diesem Abend ist der 30-Jährige in Hohenfelde unterwegs. Für den Haustürwahlkampf nutzt er eine App seiner Partei, die ihm punktgenau „Potenzialgebiete“ anzeigt: Gegenden, in denen die Grünen zuletzt trotz geringer Wahlbeteiligung überdurchschnittlich abgeschnitten haben. Hier geht noch was.

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© Thomas Kühn | Frank HasseHamburger Abendblatt

Klimagerechter Wohlstand bei Manuel Muja ganz oben auf der Agenda

Doch gegen 18 Uhr sind viele Menschen noch nicht zu Hause. Wenn eine Tür geöffnet wird, ist die Kommunikation kurz und knapp: „Ich bin Manuel und kandidiere für die Grünen für den Bundestag“, stellt sich der Kandidat vor und hält den Bewohnern zwei Flyer entgegen. Die Reaktionen sind kurz, so oder so. „Ich wähle euch sowieso“, sagt ein junger Mann in der Güntherstraße. Die ältere Dame ein Stockwerk darüber schließt dagegen barsch die Tür: „Ich weiß, wen ich wähle!“ Zwei Häuser weiter läuft es ähnlich: „Ich bin gegen die Grünen“, sagt eine Anwohnerin. Der Mieter über ihr outet sich dagegen als Anhänger: „Viel Erfolg, Jungs!“

Das sind die Kandidaten

Falko Droßmann (SPD)
Falko Droßmann (SPD) © Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services
Christoph de Vries (CDU)
Christoph de Vries (CDU) © Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services
David Stoop (Die Linke)
David Stoop (Die Linke) © imago images/photothek | imago stock
Manuel Muja (Grüne)
Manuel Muja (Grüne) © Roland Magunia/Funke Foto Services | Roland Magunia
Nicole Jordan (AfD)
Nicole Jordan (AfD) © Nicole Jordan | Nicole Jordan
James „Jimmy“ Blum (FDP)
James „Jimmy“ Blum (FDP) © Jimmy Blum | Jimmy Blum
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Das sind die Kandidaten

Falko Droßmann (SPD)

Alter: 47 JahreFamilie: VerheiratetBisherige Tätigkeiten/Beruf: Polizeibeamter, Historiker, Luftwaffenoffizier, Bezirksamtsleiter in Hamburg-Mitte (seit Februar 2016)In der Partei seit: 2001Tritt an: Zum ersten MalHobbys: Sport, Lesen, GärtnernLebensmotto:… nicht den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.Lieblingsplatz im Wahlkreis: Mein Kleingarten in Rothenburgsort

Christoph de Vries (CDU)

Alter: 46 JahreFamilie: katholisch, verheiratet, drei KinderBisherige Tätigkeiten/Beruf: Diplom-Soziologe/BundestagsabgeordneterIn der Partei seit: 1995Tritt an: Zum dritten MalHobbys: Zeit mit der Familie verbringen, die häufig zu kurz kommt, Tischtennis (im Verein seit 36 Jahren), HSV-Fan seit Kindesbeinen, Gärtnern und LesenLebensmotto: Der Optimist hat nicht weniger oft unrecht als der Pessimist, aber er lebt froher. (Charlie Rivel)Lieblingsplatz im Wahlkreis: Das Portugiesenviertel am Hafen

David Stoop (Die Linke)

Alter: 37 JahreFamilie: in BeziehungBisherige Tätigkeiten/Beruf: Angestellter. Zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter, Universität zu Köln, Jugendsekretär der DGB-Jugend NRW. Seit 2020 BürgerschaftsabgeordneterIn der Partei seit: 2007Tritt an: Zum zweiten Mal (2017 allerdings in Bergedorf-Harburg)Hobbys: Fußball, Politik, Heavy MetalLebensmotto: Solange Gesellschaft auf Geld beruht, werden wir nicht genug davon habenLieblingsplatz im Wahlkreis: Hammer Park

Manuel Muja (Grüne)

Alter: 30 JahreFamilie: ledigBisherige Tätigkeiten/Beruf: Politikwissenschaftler, Mitarbeiter bei einem Mitglied des Europäischen Parlaments, seit 2019 in der Bezirksversammlung MitteIn der Partei seit: In der Grünen Jugend seit 2011, bei den Grünen seit 2014Tritt an: Zum ersten MalHobbys: Fotografie, Fußball, PolitikLebensmotto: Kein Motto, aber ein Ziel: Eine neue Regierung für effektiven Klimaschutz!Lieblingsplatz im Wahlkreis: Die voll ­besetzte Gegengerade am Millerntor

Nicole Jordan (AfD)

Alter: 47 JahreFamilie: verheiratet, zwei KinderBisherige Tätigkeiten/Beruf: Assistenz/gelernte Rechtsanwaltsfachangestellte, seit 2019 Mitglied der Bezirksversammlung Hamburg-Mitte.In der Partei seit: November 2014Tritt an: Zum zweiten MalHobbys: Lesen, Reiten und TauchenLebensmotto: Nutze den TagLieblingsplatz im Wahlkreis: Ich habe mehrere Lieblingsplätze im Wahlkreis: die Landungsbrücken, die Hafen City und die Alster (Jungfernstieg)

James „Jimmy“ Blum (FDP)

Alter: 51 JahreFamilie: verpartnert, keine KinderBisherige Tätigkeiten/Beruf: Kaufmann und Veranstalter. Seit 2019 Mitglied der Bezirksversammlung Hamburg-MitteIn der Partei seit: 2017Tritt an: Zum ersten MalHobbys: ReisenLebensmotto: Just do it!Lieblingsplatz im Wahlkreis: Entenwerder Park

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Das höre man viel häufiger als noch 2013 und 2017, sagt Muja. Hatten damals der Veggie-Day und eine interne Debatte über den Umgang mit Pädophilie viele Menschen gegen die Grünen eingenommen, mache sich aktuell bemerkbar, dass Klimaschutz eines der Topthemen sei. „Klimagerechter Wohlstand“, wie er das nennt, steht auch bei ihm ganz oben auf der Agenda, gefolgt von dem Einsatz für „eine solidarische Gesellschaft, die niemanden zurücklässt“ und für „ein Europa, das zusammenhält“.

Dass seine Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock lange nicht gerade für Rückenwind sorgte, würde er so deutlich wohl nicht sagen, aber die Reaktionen sind ja auch so unübersehbar. Die Frau sei doch unwählbar, belehrt ihn ein Anwohner. Und in einem Mehrfamilienhaus schaut eine Frau etwas mitleidig auf den Flyer mit dem Baerbock-Foto: Ach, er wolle ihr wohl helfen, dass sie es doch noch schaffe, bemerkt sie. „Oder ich“, sagt Muja. Ihn könne man auch direkt wählen. Na, wenn das so sei, überlege sie sich das, sagt die Frau freundlich. Alles offen, immerhin.

Christoph de Vries muss gegen den Laschet-Trend kämpfen

Das sagt Christoph de Vries auch. Doch Hamburg-Mitte mit seinen vielen wirtschaftlich schwachen Stadtteilen war für seine CDU immer ein schwieriges Pflaster. 2017 war der frühere Bürgerschaftsabgeordnete dem Platzhirschen Kahrs zwar schon recht nah gekommen, und nachdem er über die Landesliste ein Mandat gewann, kann er nun mit dem Bonus des Bundestagsabgeordneten antreten. Aber gegen den Laschet-Trend anzukämpfen ist eine harte Nuss.

De Vries steht an diesem Freitag vor dem Einkaufszentrum in Billstedt und verteilt Flyer – seine oben, darunter verdeckt den mit dem Kanzlerkandidaten. Natürlich höre er oft von Vorbehalten gegen Laschet, räumt er ein – lobt diesen aber als „Teamplayer“ und lenkt das Gespräch schnell auf den derzeit größten Trumpf der Union: die Sorge vor einer rot-grün-roten Regierung. Die begegne ihm ständig, sagt de Vries und warnt vor dem wirtschaftlichen Abschwung, der unvermeidlich einsetzen werde. Unter seiner Partei habe Deutschland hingegen einen langen Aufschwung erlebt.

Haustürwahlkampf von Manuel Muja (Grüne)
Haustürwahlkampf von Manuel Muja (Grüne) © Roland Magunia

Dass der 46-Jährige in Billstedt steht, ist kein Zufall. Auch die Union nutzt „Potenzialanalysen“, und Hamburgs zweitgrößter Stadtteil hat eine der größten Eigenheimsiedlungen der Stadt – hier könnte CDU-Klientel schlummern. Das Publikum an diesem verregneten Vormittag scheint aber überwiegend aus dem migrantisch geprägten Billstedter Zentrum zu kommen. Die meisten huschen schnell vorbei, viele nehmen aber die Flyer mit dem Kugelschreiber dran und bedanken sich. Die blauen Luftballons kommen bei Kindern gut an. Traubenzucker-Bonbons auch.

Passant fordert Armin Laschet gegen Markus Söder auszutauschen

Offene Ablehnung, wie auf St. Pauli, wo de Vries’ Team mit Eiern beworfen wurde, gibt es so gut wie gar nicht. Längere Gespräche oder aufmunternde Zustimmung allerdings auch kaum. Ein Mann spricht den Kandidaten auf seine Haltung zum Mindestlohn an. Den sieht de Vries kritisch: Ein staatlich verordneter Lohn entmachte die Gewerkschaften, außerdem zahle die Industrie jetzt schon oft über Tarif. Sein Steckenpferd, die Innenpolitik, ist leider kein Thema – sonst würde de Vries kritisieren, dass aus seiner Sicht zu wenig gegen Linksextremismus getan werde und seine Partei dafür gesorgt habe, dass 220 Bundespolizisten mehr in Hamburg stationiert sind.

Immerhin: Auch auf den Kanzlerkandidaten spricht ihn heute nur ein Passant an. Er sei noch unentschlossen, sagt der Mann, würde aber wohl Union wählen, wenn diese Laschet noch gegen Markus Söder austauschen würde. So kurz vor der Wahl, „das geht nicht“, sagt de Vries. „Aber so wie der sich aufführt, kann ich den nicht wählen“, beharrt der Mann. De Vries dreht bei, spricht über die Schwächen von Olaf Scholz und warnt wieder vor dem Abschwung unter Rot-Grün-Rot. Da habe er recht, räumt der Passant ein. Ganz überzeugt wirkt er aber noch nicht. Er hat ja noch zwei Wochen zum Nachdenken.

Wahlkreis in Daten:

Im Wahlkreis 18 (Hamburg-Mitte) leben 365.638 Menschen, von denen 243.543 wahlberechtigt sind. Das Gebiet umfasst den Bezirk Mitte ohne Wilhelmsburg, dafür Barmbek-Nord, Barmbek-Süd, Dulsberg, Hohenfelde und Uhlenhorst (Bezirk Nord). Der Wahlkreis weist in Hamburg die höchste Arbeitslosenquote auf (7,4 %) und den zweithöchsten Ausländeranteil (21,9 %).