Hamburg. Die neue Serie: Wer als Favorit für das Direktmandat gilt und wem sonst noch gute Chancen bei der Wahl eingeräumt werden.

In Wahrheit ist das natürlich kein Thema, das man gut im Wahlkampf zuspitzen kann – oder sollte. Aber das will Till Steffen auch nicht. Stattdessen sucht der grüne Direktkandidat für den Bundestagswahlkreis Eimsbüttel an diesem bewölkten Septembermittag das offene Gespräch mit den zwei Dutzend Menschen, die sich auf dem Joseph-Carlebach-Platz in einem Halbkreis um ihn und den großen Grünen-Schirm herum aufgestellt haben.

Hier, zwischen Talmud-Tora-Schule, Uni und Abaton im Grindelviertel stand einst die größte Synagoge Norddeutschlands – bis sie 1938 von den Nationalsozialisten geschändet und 1939 zerstört wurde. Die jüdische Gemeinde möchte sie wieder aufbauen, aber nicht alle finden das gut, weil ein Wiederaufbau in den Augen der Skeptiker wirken könnte, als seien damit die Wunden geheilt oder das barbarische Unrecht vergessen gemacht.

Till Steffen (Grüne) auf dem Joseph-Carlebach-Platz
Till Steffen (Grüne) auf dem Joseph-Carlebach-Platz © Unbekannt | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Diese Diskussion sei wichtig, entgegnet Steffen den Kritikern des Neubaus – und fügt einen Satz hinzu, mit dem sich wohl alle Anwesenden anfreunden können: „Wir wollen, dass Jüdinnen und Juden sich in Deutschland wohlfühlen und jüdisches Leben wieder sichtbar wird.“ Die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank, die Steffen hier heute unterstützt, betont, dass es beim Wiederaufbau der Synagoge „nur noch um das Wie“ gehe – „und nicht mehr um das Ob“. Philipp Stricharz, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, sieht das ähnlich.

Wahlkreis Eimsbüttel: Niels Annen (SPD) liegt vorne

Gemeinsam zieht das Wahlkampfgrüppchen ein Stück durch das jüdisch geprägte Viertel – und lässt sich vor der Talmud-Tora-Schule, dem Café Leonar und den Kammerspielen historische Hintergründe erläutern. Auf die Frage, ob dies denn ein passendes Thema für eine Wahlkampfveranstaltung sei, sagt Steffen: „Ich habe keine Angst vor Komplexität.“ Aber klar: Auch der 48-Jährige weiß, dass andere Themen die Bundestagswahl entscheiden. Wohnen, Klima, Verkehr, soziale Spaltung – darauf werde er oft angesprochen.

Als Ex-Justizsenator und in der Partei bundesweit geschätzter Rechtsexperte hat sich Steffen auch etwas anderes auf die Fahnen geschrieben, etwas Großes: den „ökologischen Umbau des Rechtssystems“. Klimaschutz braucht schließlich auch ein juristisches Fundament. Auch den Kampf gegen Hasskommentare im Internet hat der Rechtsanwalt zu seiner Sache gemacht.

Der Wahlkreis Eimsbüttel in Daten

  • Im Wahlkreis 20 (Eimsbüttel) leben 269.118 Menschen, 192.732 Wahlberechtigte.
  • 29,7 Prozent der Einwohner haben Migrationshintergrund – zweitniedrigster Anteil unter Hamburgs Wahlkreisen nach Nord.
  • Mit 5403 Einwohnern/Quadratkilometer ist der Wahlkreis am dichtesten besiedelt. 
  • Die durch- schnittliche Wohnfläche liegt mit 41,2 Quadratmetern im Mittelfeld, die Arbeitslosigkeit ist mit 5,2 Prozent die zweitniedrigste.

Zwar liegt SPD-Konkurrent Niels Annen in den Prognosen zuletzt klar vorne. Aber der Grüne gibt sich optimistisch. Seine Kinder wüchsen hier auf, er sei tief im Quartier verwurzelt und wisse, was in Berlin für Eimsbüttel zu bewegen sei. Etwa die Frage, warum an gefährlichen Straßen die Höchstgeschwindigkeit nur gesenkt werden könne, wenn dort bereits schwere Unfälle passiert seien. Das will er ändern helfen, wenn er es nach Berlin schafft. Seine Chancen sind passabel: Steffen ist mit Platz 2 auch auf der grünen Landesliste abgesichert.

Auch hier zähle der Klimaschutz zu den wichtigsten Themen

Ein paar Kilometer weiter nordwestlich und ein paar Stunden früher steht Niels Annen am Tibarg. In der Niendorfer Fußgängerzone geht es etwas bürgerlicher zu als im Univiertel. Das merke man auch an den Themen, sagt Annen. Während es den Menschen in Kern-Eimsbüttel nicht schnell und weit genug gehen könne mit dem Klimaschutz, gebe es hier auch Ängste vor einem rasanten Politikwechsel und Folgen für Arbeit, Wohlstand und sozialer Sicherheit.

Auch hier zähle der Klimaschutz zu den wichtigsten Themen – aber es gehe auch viel um Wohnen, Arbeit, Renten und Verkehrsthemen. Kernaufgabe für die SPD sei es, „die Klimaziele zu erreichen und Industrieland zu bleiben“, sagt Annen. Eines müsse man als Wahlkämpfer wissen: „Die Themen an Infoständen sind andere als bei Twitter.“ Soll wohl heißen: Wer die hitzigen Debatten in den sozialen Medien für die ganze Realität hält, macht einen schweren Fehler.

Wahlkreis 20 Eimsbüttel 2017 NEU
Wahlkreis 20 Eimsbüttel 2017 NEU © Thomas Kühn | Frank HasseHamburger Abendblatt

An diesem Morgen wird der 48-Jährige aber auch mit einem Thema konfrontiert, das ihn seit Wochen umtreibt: Afghanistan. Eine Frau bittet um Unterstützung für ihre Familie, die dort zurückgeblieben sei. Annen betont, dass man alles tue, was möglich sei. Als Staatsminister im Auswärtigen Amt wird der SPD-Mann von der Konkurrenz mit dafür verantwortlich gemacht, dass auch Deutschland vom Sieg der Taliban überrumpelt wurde und Ortskräfte schutzlos zurückließ. Daran erkenne man, was Annen in Berlin leiste, wenn es darauf ankomme, höhnen seine Gegner: nicht viel.

Union ist auf historisches Umfragetief gesackt

Annen selbst sieht das natürlich anders. Die vergangenen vier Jahre seien gute Jahre gewesen. Eimsbüttel habe den Autobahndeckel bekommen, und er habe für die Finanzierung der großen Sportanlage an der Hagenbeckstraße gesorgt. Künftig gehe es etwa um den Bau der U 5. Das Geld werde knapper, deswegen brauche Eimsbüttel einen gut vernetzten Lobbyisten in Berlin – womit Annen sich selbst meint, schließlich ist er in der SPD bestens verdrahtet.

Haustürwahlkampf mit Rüdiger Kruse (CDU)
Haustürwahlkampf mit Rüdiger Kruse (CDU) © Roland Magunia/Funke Foto Services | Roland Magunia

Und dass seine Partei die nächste Regierung führt, scheint ja plötzlich nicht nur denkbar, sondern wahrscheinlich. Den Aufschwung spüre man im Wahlkampf, so Annen. Das Interesse sei enorm – und den Gegnern merke man angesichts der jüngstem Umfragen ihre Nervosität an. Ihn erinnere das an den Schröder-Wahlkampf 2005, als die SPD rasant aufgeholt habe, sagt er – und vergisst kurz, dass Schröder damals trotzdem verlor.

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Nicht ganz so gut wie für Annen läuft es für den dritten Eimsbüttler Direktkandidaten, dem Chancen auf das Mandat eingeräumt werden. 2009 gewann CDU-Mann Rüdiger Kruse überraschend den Wahlkreis. Jetzt aber ist die Union auf ein historisches Umfragetief gesackt, und seine Parteifreunde haben ihn nur auf den nicht so aussichtsreichen vierten Platz der Landesliste gewählt. Der 60-Jährige kämpft diesmal weitgehend für sich allein – ohne die Partei.

Rüdiger Kruse (CDU) verteilt Flyer und lädt zu „After Work“-Runden

Kruse hat die Kampagne „1 Stimme für 17 Ziele“ entworfen, in der die CDU kaum vorkommt. Seine Plakate werden durch bunte Symbole grundiert, die für die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN stehen. Das CDU-Logo ist nur verschämt am Rand zu sehen. Das ist riskant, denn man kann die Plakate nicht sofort zuordnen. Mancher könnte sie für Werbung einer Splittergruppe halten. Kruse aber hofft, mit der Kampagne zum Nachdenken anzuregen. Nachhaltigkeit bedeute, dass Klimaschutz nicht isoliert funktioniere, sagt er. Man brauche auch sichere Arbeit, gute Bildung und vieles mehr. Damit zielt er auf die in Eimsbüttel starke Gruppe der sozial und ökologisch Engagierten. Klassische CDU-Wähler würden ihn sowieso wählen, hofft Kruse.

Um seine Pläne unters Volk zu bringen, hat er sein Büro an der Lappenbergsallee in „Wahlkampflounge“ umbenannt und lädt dort zu „After Work“-Runden. Morgens verteilt er Flyer an Bahnstationen, abends fährt er im bunten E-Mobil durch den Bezirk, läuft durch Straßen, klingelt an Türen und überreicht mit einem trockenen „Moin, ich bin ihr Bundestagsabgeordneter“ seine Prospekte. Wahlkampf ist ein mühsames, nicht immer nachhaltiges Geschäft – aber da haben es die anderen ja auch nicht besser.

Für den Haustürwahlkampf wählt die CDU Gegenden mit Einfamilienhäusern. An diesem kühlen Septemberabend läuft Kruse mit jungen Männern von der Jungen Union und der Bürgerschaftsabgeordneten Silke Seif durch kleinbürgerlich geprägte Straßen in Schnelsen. Das Echo an den Türen ist verhalten. Immerhin. 2017 sei es schlimmer gewesen, so Kruse. Damals waren viele CDU-Wähler mit Merkels Flüchtlingspolitik nicht einverstanden. Heute hingegen kann Kruse wieder auf Merkel-Freund und Altbürgermeister Ole von Beust setzen, der mit ihm nun von den Plakaten lächelt. Vielleicht hilft das bei der Zuordnung.

Wie schnell die Stimmung kippen kann, haben die letzten Wochen gezeigt

SPD-Mann Annen könnte davon profitieren, dass Kruse einen an grünen Themen orientierten Wahlkampf mache, glauben einige. Aber wer weiß das schon dieser Tage. Wie schnell die Stimmung kippen kann, haben die letzten Wochen gezeigt. Da muss man sich auch mal Mut machen, um den Wahlkampfstress durchzuhalten.

 Bei der Bundestagswahl 2017 habe er nur 2,9 Prozentpunkte hinter Annen gelegen, sagt Kruse trotzig, als er endlich seine bunten Flyer unters Schnelsener Bürgervolk gebracht hat – und damals seien die Grünen schwächer gewesen als heute. Da gehe also noch alles am 26. September. Natürlich weiß er: Das sagen sich alle. Die anderen auch.