Hamburg. Bei ihren Vorgesetzten gilt Derya Yildirim als „unbezahlbares Vorbild“. Ihre Kollegen schätzen ihre Hartnäckigkeit.
Wenn es die Frau nicht „in echt“ gäbe, die Polizei könnte kaum ein besseres Profil des prototypischen Migranten in Uniform am Reißbrett entwickeln – streng genommen eines Menschen mit Migrationshintergrund, denn Derya Yildirim ist in Hamburg als Kind türkischer Einwanderer geboren: klug, redegewandt mit Hang zum leichten Hamburger Slang, den Menschen zugewandt, hartnäckig, hilfsbereit, gut aussehend.
Die Antwort auf die Frage, als was sie sich sehe – als Deutsch-Türkin oder als Deutsche mit Migrationshintergrund – sagt viel über die 40-Jährige aus: „Ich bin Hamburgerin. Eine sehr, sehr stolze Hamburgerin. Mein Herz schlägt für diese Stadt.“ Diese Hamburgerin ist jetzt von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) – neben anderen Frauen – für ihre Integrationsarbeit ausgezeichnet worden.
„Frauen stärken“ – das hatte sich die Bundeskanzlerin in diesem Jahr mit dem Integrationspreis vorgenommen. Wenn sich Frauen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland zu Hause fühlten, wenn sie die grundlegenden Werte teilten, dann hätten es auch die Kinder leichter, sich gut zu entwickeln, hatte Merkel betont. „In der Integrationsarbeit stellen Frauen die Mehrheit dar“, hat die Kanzlerin gesagt, um dann Kurt Tucholsky zu zitieren: „Es gibt keinen Erfolg ohne Frauen.“
Anerkennung der Migrationsgeschichte der Hamburger Polizei
Eine dieser Frauen ist Derya Yildirim, 40 Jahre alt, Kommissarin, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Wenn sie von der Einladung ins Kanzleramt erzählt, spricht sie noch etwas schneller als sonst, damit alles in der verbleibenden Zeit gesagt werden kann.
Stolz sei sie bereits 2019 gewesen, als sie bei Europol in Den Haag einen Vortrag über ihre Biografie und die Arbeit der Einstellungsstelle der Hamburger Polizei halten durfte. „Die Einladung der Bundeskanzlerin war aber sicher das Highlight.“
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Sie empfindet das nicht nur als persönliche Auszeichnung, sondern auch als Anerkennung der Migrationsgeschichte der Hamburger Polizei. Womit sich Frau Yildirim dieses „Highlight“ – der Deutsche Beamtenbund hatte sie für den Wettbewerb der Kanzlerin vorgeschlagen – verdient hat? „Die Migranten bei der Polizei, also die Bewerber und die Nachwuchskräfte, mit dem Herzen zu begleiten und an den Problemfällen hartnäckig festzuhalten, ihnen zu helfen und das Maximum für sie gemeinsam mit dem Team herausgeholt zu haben – diese Hartnäckigkeit hat mich vermutlich ausgezeichnet“, sagt die Polizistin. „Ich bin sehr stolz – erst auf die Nominierung, dann auf die Einladung ins Kanzleramt. Das erreicht zu haben, ist einfach toll.“
Schon mit fünf Jahren will Yildirim Polizistin werden
Dass sie Merkels Integrationspreis dann doch nicht gewonnen hat, stört Yildirim nicht weiter. Der ging übrigens an eine andere Hamburgerin: die aus Syrien geflüchtete Bjeen Alhassan. Sie hilft anderen geflüchteten Frauen mit einer digitalen Lernplattform.
Schon mit fünf Jahren ist Derya Yildirim klar, was sie später einmal werden will – Polizistin. 1995, mit 16, reicht sie dann die erste Bewerbung ein. Doch sie ist schlecht vorbereitet, fällt durch die Bewerberprüfung – ihr schriftliches Deutsch reicht nicht aus. Ein zweiter Anlauf in Schleswig-Holstein scheitert ebenso. Statt bei der Polizei landet Derya Yildirim bei der Bahn. Ihr Glück: Bei einer Fahrkartenkontrolle lernt sie zufällig einen Einstellungsberater der Polizei kennen. Gecoacht von ihm und ihrer Schwester, die mit ihr Rechtschreibung und Orthografie paukt, schafft Yildirim den Test dann doch noch. Nach der Ausbildung arbeitet sie bei der Bereitschaftspolizei, als Zivilfahnderin im Rauschgiftdezernat und als Streifenpolizistin in Bahrenfeld, bevor sie 2012 in der Einstellungsstelle der Polizei beginnt.
Es erst im dritten Anlauf zur Polizei geschafft zu haben – ist das der Antrieb, es anderen Bewerbern später leichter zu machen? „Ich habe mich immer zurück erinnert. Wie war es für mich damals zu scheitern? Woran hat’s gelegen? Was hätte ich anders, also besser machen können? Und das hat mir bei der Arbeit mit den jungen Migranten geholfen. Vor dem Hintergrund meiner eigenen Biografie habe ich mich sehr stark mit dem Menschen hinter der Bewerbung beschäftigt, vor allem mit den Fällen, in denen mir das Bauchgefühl sagte, dass er oder sie mehr Aufmerksamkeit benötigt als andere Bewerber.“
Yildirim ist ein authentisches Vorbild, wenn es um das Thema Integration geht
Bei der Hamburger Polizei arbeiten fast 11.000 Frauen und Männer. In der Belegschaft sind inzwischen 79 Nationalitäten vertreten. Im Jahr 2020 wurden fast 500 Bewerber eingestellt, darunter sind rund 17 Prozent Menschen mit ausländischen Wurzeln. Es könnten deutlich mehr sein, aber in dem aufwendigen, monatelangen Bewerbungsverfahren scheitern immer noch viele Migranten. Führungskräfte nennen vor diesem Hintergrund Derya Yildirim ein „unbezahlbares, weil authentisches Vorbild“, wenn es um das Thema Integration geht und darum, junge Leute zur Polizei zu holen.
„Ich hatte einen super zuverlässigen Bewerber, der hat alles geliefert, was nötig war. Als ich ihm dann sagte, dass ich noch ein Passbild von ihm benötige, fing er an, mich zu vertrösten. Er ging nicht mehr ans Telefon, ließ eine Frist verstreichen.“ Viele andere hätten den Deckel geschlossen, die Bewerbung abgeheftet, Feierabend. Yildirim aber blieb dran – und erfuhr, dass der Familie schlicht das Geld für vernünftige neue Fotos fehlte. „Die familiäre Situation war sehr, sehr problematisch. Ich wusste aber, das ich an ihm festhalten musste.“
Solchen Schicksalen sei sie in den acht Jahren in der Einstellungsstelle immer wieder begegnet. So gab es einen jungen Migranten, der unbedingt zur Polizei wollte – nur waren die Eltern wegen ihren Erfahrungen mit der Polizei ihres Heimatlandes strikt dagegen. Obwohl er bereits erwachsen war, durfte also keine Post der Polizei im Briefkasten zu Hause landen, erfuhr Yildirim über ihr Netzwerk. Der Mann schämte sich, unter dem emotionalen Druck der Eltern zu stehen. „Aber er wollte trotzdem zu uns.“ Man habe dann einen „Schlachtplan entwickelt“: Es gingen keine Brief mehr zu ihm nach Hause, es wurde überlegt, welche Familienmitglieder eine Brücke zu den Eltern bauen könnten.
Die Geschichte ihrer Familie hat Derya Yildirim stark geprägt
Parallel ging das monatelange Auswahlverfahren weiter, ohne dass die Eltern etwas wussten. Schließlich kam es zum Kontakt mit dem „Familienoberhaupt“. „Wir haben die Familie emotional abgeholt, haben sie besucht, sind auf die Sorgen eingegangen, haben versucht zu erklären, dass die Hamburger Polizei nicht mit der in der alten Heimat vergleichbar ist.“ Yildirim „knackte“ das Familienoberhaupt. „Neulich habe ich den jungen Mann in Uniform wieder getroffen. Das hat mich schon stolz gemacht.“ Auch in einem anderen Fall musste sich der Bewerber mit Yildirims Hilfe erst aus dem Elternhaus lösen. Es gab aber auch Fälle, in denen sie nicht helfen konnte.
Die Geschichte ihrer Familie hat Derya Yildirim stark geprägt. Die Eltern: ganz einfache Leute irgendwo aus der türkischen Provinz. Der Vater kam Mitte der 60er-Jahre als „Gastarbeiter“ nach Hamburg, die Mutter folgte Jahre später. Die Eltern haben nie wirklich Deutsch gelernt, wollten sie doch irgendwann zurück in die alte Heimat – was sie übrigens bis heute nicht geschafft haben. Aber es war ihnen umso wichtiger, dass die Kinder hier einen gemischten Freundeskreis finden, sich hier integrieren, dass sie die Sprache der neuen Heimat in Wort und Schrift lernen zu beherrschen.
„Viele Migranten gerade in der zweiten Generation sind hin- und hergerissen. Die Fragen, wer man ist, wo man hingehört, wo das Zuhause ist, diese Fragen stellen sich viele. Aber ich wurde von meinen Eltern anders erzogen. Beide sind Analphabeten, aber sie haben mir und meinen Geschwistern immer mit auf den Weg gegeben: ,Ihr seid in Deutschland zu Hause. Das ist euer Land. Ihr müsste die Sprache beherrschen.‘“ Und so war zum Beispiel türkisches Fernsehen bei Familie Yildirim verboten. „Hamburg ist mein Leben. Hier ist mein Zuhause. Ich spüre nicht ansatzweise eine Zerrissenheit.“
Hamburger Fall sorgte bundesweit für Aufregung
Nach acht Jahren in der Nachwuchsrekrutierung der Polizei arbeitet Yildirim jetzt im deutschlandweit einmaligen Institut für „transkulturelle Kompetenz“. Das ist angedockt an die Akademie der Polizei und soll die „Auszubildenden und Studierenden der Polizei qualifizieren, Polizisten im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen weiterbilden und Wissen über Kulturen, Religionen und Denkweisen“ weitergeben. Eine weitere wichtige Aufgabe des Instituts: Netzwerkarbeit, also Kontakte in Migrantenorganisationen, Kulturkreise, Moscheen aufzubauen und zu pflegen.
Wie wichtig diese Kontakte sind, zeigt ein Hamburger Fall, der bundesweit für Aufregung im Netz sorgte, ein Einsatz, der medial nur schiefgehen konnte: acht Polizisten gegen einen Teenager mit türkischem Migrationshintergrund. Das Ganze gefilmt und ins Netz gestellt in den Wochen, als landauf und landab über Rassismus bei der Polizei und Racial profiling diskutiert wurde. Was war passiert? An der Straße Kohlhöfen nahe dem Großneumarkt, wo übrigens Derya Yildirim aufgewachsen ist, war ein 15-Jähriger wiederholt mit einem E-Scooter auf dem Bürgersteig unterwegs, als er vom Bürgernahen Beamten gestoppt wurde.
Statt sich auszuweisen, wie aufgefordert, oder mit zur Wache zu kommen, schlug der Junge um sich – ein erfolgreicher Amateurboxer, wie sich später herausstellte. Der deutlich älter aussehende Jugendliche, der Polizei wegen Gewalttaten und Diebstahls längst bekannt, wurde schließlich von gleich mehreren Beamten unter Kontrolle gebracht. Das Ganze sah im Netz überhaupt nicht gut aus für die Polizei.
"Dieses gegenseitige Vertrauen aufzubauen ist jahrelange Arbeit“
So kamen Frau Yildirim und das Institut für „transkulturelle Kompetenz“ ins Spiel. Die türkische Gemeinde suchte, erschüttert von den Aufnahmen im Internet, mit einem „immens hohen Gesprächsbedarf“ den Kontakt zu den ihr bekannten Stellen und Menschen bei der Polizei. Polizeipräsident Ralf Martin Meyer traf sich mit Vertretern zum Dialog, in dem es auch darum ging, deutsches Recht zu vermitteln. Die Lage beruhigte sich. Vermutlich vor allem durch die Netzwerkarbeit des Instituts für „transkulturelle Kompetenz“ kam dieser Austausch zustande.
Die türkischstämmige, männerdominierte Community sucht den Kontakt zur Polizei – und landet bei einer Frau? Funktioniert das? „Diese Netzwerke entstehen nicht von heute auf morgen. Dieses gegenseitige Vertrauen aufzubauen ist jahrelange Arbeit“, sagt Frau Yildirim.
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Einmal in den vielen Jahren sei sie in eine Situation gekommen, in der sie sich als Frau und Polizistin unwohl gefühlt habe, erzählt sie und erinnert sich an einen Vorgang auf einer Polizeiwache: Nach einem guten Dialog mit Imamen und Vorständen aus Islamverbänden war es für sie „selbstverständlich“, sich mit einem Handschlag zu verabschieden. Für sie schon, für einige Gesprächspartner keineswegs. Immerhin verabschiedeten sie sich dann mit der Hand auf der Brust und mit einer leichten Verbeugung von der Polizistin. „Das war für mich dann wieder in Ordnung“, sagt Yildirim.
Rassismus in der Gesellschaft nimmt zu
Mit den Kollegen hatte die türkischstämmige Frau von Anfang an keine Probleme. „Aber ich erinnere mich an einen der ersten Einsätze, bei denen ich allein auf Fußstreife war“, sagt Yildirim. „Ganz selbstbewusst“ sei sie durch Bahrenfeld gelaufen, als sie einem jungen Mann mit Kampfhund ohne Maulkorb begegnete. Das war wenige Monate, nachdem zwei Kampfhunde in Wilhelmsburg einen Jungen zerfleischt hatten. Bei der Kontrolle wurde der Hundebesitzer „sehr, sehr beleidigend“. Einem „Kanaken in Uniform“ zeige er seinen Ausweis nicht. „Damit musste ich erst einmal klar kommen. Ich bin in Hamburg geboren, spreche Hamburgisch.
Den ein oder anderen komischen Blick hatte ich vorher mal wahrgenommen, aber ich wurde nie zuvor mit Rassismus konfrontiert“, sagt die Polizistin. „Das war ein Kulturschock und hat ziemlich lange nachgewirkt.“ Wie sie aus der Bedrohungslage gekommen ist? „Erst einmal habe ich meine vor Aufregung zitternde Stimme wieder in den Griff bekommen, dann hat mir aber auch ein Zivilfahnder geholfen, der in der Nähe war und das zufällig mitbekommen hat.“
Ob sie eine Zunahme von Rassismus wahrnehme? Bei der Polizei oder im gesellschaftlichen Miteinander? „Bei der Polizei? Nein“, entgegnet sie sofort. „In der Gesellschaft aber schon“, sagt Yildirim und erzählt von einer Begegnung im Supermarkt. Sie sei von einer älteren Frau beschimpft worden. „Ihr ging es an der Tiefkühltruhe wohl nicht schnell genug. Da wurde sie sehr beleidigend. ,Verpisst euch in euer Land zurück. Was wollt ihr hier? Geht in die Türkei‘ ist dabei gefallen. Ich habe meinem sehr westlich erzogenen Sohn die Ohren zugehalten.“ Anfeindungen wie diese erschüttern die Hamburgerin nachhaltig.
"Statt mich zu fragen, versuchen Kollegen, bloß nichts falsch zu machen.“
„Wir wissen, dass wir leider in keiner idealen Welt leben und dass Rechtsextremismus, Rassismus, Hetze und Angriffe leider heute zum Alltag gehören. Viele von Ihnen haben das bei ihrer Integrationsarbeit sicherlich auch erlebt.“ Das sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel den Frauen, die sie ins Kanzleramt eingeladen hatte. Nicht nur Frau Yildirim wird sich angesprochen fühlen.
Von Kollegen sei sie noch nie rassistisch beleidigt oder angegangen worden. „Nicht ein Mal!“ Sie habe sich aber immer wieder mit Vorurteilen auseinandersetzen müssen. Keine, die böse gemeint gewesen seien, aber man sei immer mal wieder „in einer Schublade“ gelandet. „Das war während meiner Ausbildung vor 20 Jahren, als deutlich weniger Migranten bei der Polizei waren, noch ausgeprägter als heute.“ Kurz vor Weihnachten habe beispielsweise eine andere Auszubildende sie gefragt: „Und, wie funktioniert Weihnachten bei euch so?“
Eine erst neulich von einer Kollegin gestellte Frage lautete: „Haben deine Kinder auch deutsche Freunde?“ „Wenn ich das höre, frage ich mich schon, was in diesen Köpfen abgeht“, sagt Frau Yildirim. Sie lacht, wenn sie von einem anderen Beispiel erzählt: „Beim Grillnachmittag erzählte der Kollege stolz, dass er extra für mich Pute besorgt hat. Statt mich zu fragen, versuchen Kollegen, bloß nichts falsch zu machen.“
Zumindest einen Satz müsse sie sich heute kaum noch anhören: „Du sprichst aber gut Deutsch.“ Yildirims Standardantwort darauf: „Du auch!“