Hamburg. Unklar ist, ob Ex-Wachmann im KZ Stutthof klar war, dass er Beitrag zum tausendfachen Mord leistete. Das sagt ein Psychiater.

Er sah das Leid, er sah den Tod. Er sah die Schinderei und das Grauen. Hoch oben von seinem Wachturm aus hatte der frühere SS-Mann Bruno D. einen genauen Überblick, was im Konzentrationslager Stutthof an furchtbaren Dingen geschah. Doch ob der Mann, der damals 17 beziehungsweise 18 Jahre alt war, eingesehen hat, dass er mit seinem Wachdienst einen Beitrag zu dem Unrecht um ihn herum geleistet hat, könne heute nicht wirklich beurteilt werden, erklärte ein Sachverständiger im Prozess gegen Bruno D. Es sei möglich, dass der damalige KZ-Wachmann eine eher unbestimmte Einstellung zu seinen Aufgaben hatte, nach dem Motto: „Man sagt mir das, und ich mache es so und finde mich damit ab.“

Es könne ebenfalls sein, dass seine Bewachungs-Tätigkeit bei Bruno D. keinen Gewissenskonflikt ausgelöst habe, erläuterte Stefanos Hotamanidis, Facharzt für Jugendpsychiatrie. „Er hat einen Dienst zu verrichten und hat das nicht hinterfragt.“ Es sei auch nicht auszuschließen, dass der heute 93-Jährige bei seinem Dienst im Konzentrationslager Dinge erlebt hat, die ihn so sehr belasten, dass er darüber nicht reden könne.

Stutthof-Prozess: Bruno D. wollte sich nicht erinnern

Vielleicht seien „gewisse Erinnerungslücken wichtig“, um das „psychische Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Es gibt Elemente, die wir für unser inneres Gleichgewicht zurechtlegen.“ Auch ein Gerontopsychiater erklärte als Sachverständiger, bei einem Menschen könnten sich Erinnerungen im Laufe der Zeit verändern. „Manche Situationen biege ich mir so zurecht, dass ich es ertragen kann, sie ein Leben lang mit mir herumzutragen“, sagte der Experte. So könnten Ereignisse „zurechtgestutzt“ werden.

Der Angeklagte hatte wiederholt im Prozess betont, er habe „nur auf dem Turm gestanden“ und nie seine Waffe eingesetzt. „Ich habe niemandem ein Leid angetan“, hatte er beteuert. Man habe auf dem Wachturm gestanden und „die ganze Zeit gehofft“, dass nicht wieder etwas Schlimmes passiert.

„Die Bilder des Elends und des Grauens haben mich mein ganzes Leben verfolgt.“ Er habe im KZ „viele Leichen gesehen" – aber er habe nicht gewusst, wie die Menschen gestorben seien. „Alles, was ich nicht mehr erinnern wollte, das wird jetzt wieder aufgewühlt", sagte Bruno D. zum Prozessauftakt. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Hamburger Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vor. Durch seinen Wachdienst von August 1944 bis April 1945 soll er „die heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt“ haben. Zu seinen Aufgaben habe es gehört, die Flucht, Revolten und die Befreiung von Gefangenen zu verhindern.

Jugendpsychiater: Angeklagter hatte „verzögerte Entwicklung“

Der Jugendpsychiatrische Sachverständige Hotamanidis hat im vergangenen Jahr den Angeklagten exploriert. Bruno D. sei in einer leistungsorientierten Familie aufgewachsen, in der ihm auch als Erziehungsprinzip mitgegeben worden sei: „Bloß nicht mit dem anderen anlegen.“ Und: „Du bist schuld, wenn die anderen dir was antun.“ Bei dem damals Jugendlichen habe sich mit der Zeit ein Einzelgängertum entwickelt.

Auch was seine Eigenständigkeit betrifft, habe Bruno D. in seiner Jugendzeit eine eher „verzögerte Entwicklung“ gehabt. Als er 1944 als damals 17-Jähriger zum Kriegsdienst eingezogen wurde, habe er als gelernter Bäcker auf einen Einsatz beispielsweise in einer Küche oder als Schlachter gehofft. Doch als ihm mitgeteilt wurde, dass er als Wachsoldat im Konzentrationslager Stutthof eingesetzt werde, habe Bruno D. sich wegen seiner norm- und befehlsorientierten Erziehung damit abgefunden. Der Angeklagte hatte gesagt: „Ich wollte da gar nicht hin, aber ich musste da hin.“ Er könne, sagte der Sachverständige, „nicht eindeutig bejahen oder verneinen, ob ihm bewusst war, dass er dadurch, dass er auf Turm steht, Unrecht begeht.“

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Auch wenn Bruno D. im Verfahren gesagt hat, ihm sei klar gewesen, dass es ein Verbrechen war, Menschen grundlos umzubringen, sei dies nicht eindeutig auszulegen, betonte der Jugendpsychiager. „Es ist durchaus möglich, dass er damals gedacht hat, das ist in Ordnung. 75 Jahre später kann man schlecht beurteilen“, was vielleicht an Einsichten später hinzugekommen sei. Warum Bruno D. sich an manche Dinge sehr präzise erinnert und an andere, vielleicht sehr schlimme, aber nicht, sei aus Sachverständigen-Sicht nicht aufzuklären. „Jeder versucht auf seine Art, etwas Unerträgliches zu ertragen.“