Buchholz. 75 Jahre nach der Kapitulation des Deutschen Reichs sind es junge Leute, die dafür sorgen, dass die Nazizeit nicht vergessen wird.

Als sie Esther Bejarano das erste Mal traf, war Nathalie Döpken 17. Genau zwei Jahre jünger als die Holocaust-Überlebende 1943 bei ihrer Deportation nach Auschwitz gewesen war. Esther Bejarano war nach Heideruh gekommen, der antifaschistischen Begegnungsstätte am Rande der Nordheide, um von den grausamen, unmenschlichen Bedingungen im Konzentrationslager zu erzählen. Das war 2011. Immer wieder ist die Zeitzeugin seitdem nach Buchholz gekommen, das letzte Mal zum Holocaust-Gedenktag am 21. Januar.

Und jedes Mal wieder hat Nathalie Döpken ihren Erzählungen zugehört. Weil nur Zeitzeugen in einer solchen Intensität erzählen können. „Die Erinnerungen aus erster Hand berühren mich tief“, sagt die heute 26-Jährige. „Bejaranos Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus ist beeindruckend.“

Noch sind sie da, in Fleisch und Blut. Sie gehen in Schulen, erzählen den Kindern und Jugendlichen von ihrer eigenen Kindheit und Jugend während des Nationalsozialismus. Doch die Überlebenden des Holocaust, die als Zeitzeugen auftreten, sind heute, 75 Jahre nach Kriegsende, weit über achtzig oder neunzig Jahre alt. In naher Zukunft wird es keine Überlebenden mehr geben. Mit jedem Zeitzeugen, der stirbt, verblasst die Möglichkeit, ihre Erinnerungen aus erster Hand zu hören.

Erinnerungen so authentisch wie möglich bewahren

Nathalie Döpken will dem Vergessen vorbeugen und die Erinnerungen so authentisch wie möglich bewahren. In dem Blog „reflections“ hält die Studentin der Kulturwissenschaften Geschichten von Familien fest, die in der Nazizeit verfolgt wurden. Sie spricht mit Betroffenen, recherchiert in Familienalben und sammelt Erinnerungen und Überliefertes. „Reflections on Family History Affected by Nazi Crimes bietet Menschen, deren Familiengeschichten von Verbrechen der Nazis betroffen war, die Möglichkeit, ihre Geschichte zu teilen, Kontakt miteinander aufzunehmen und zu einer nachhaltigen Zukunft der Erinnerung beizutragen“, sagt Nathalie Döpken.

„Der Blog lädt zuallererst Nachkommen der NS-Verfolgten ein, zu berichten, wie sie mit den Auswirkungen der Verfolgungsgeschichte ihrer Familien umgehen.“ Nichtsdestotrotz seien auch Nachkommen von Familien, die auf der „anderen Seite“ gestanden hätten, gebeten, ihre Geschichte zu erzählen, um ein all umfassendes Verständnis der Auswirkungen der nationalsozialistischen Verbrechen auf das Leben heutiger Generationen zu erreichen. Initiiert wurde das Projekt 2015 vom Freundeskreis KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Inzwischen haben Internationale Angehörigenverbände die Finanzierung übernommen.

Der Zug fuhr auch an Buchholz vorbei

Darüber hinaus will die junge Buchholzerin dazu beitragen, dass auch die nationalsozialistische Vergangenheit ihrer Heimatstadt nicht in Vergessenheit gerät. In der Begegnungsstätte Heideruh in Seppensen recherchiert sie mit Gleichgesinnten und Gleichaltrigen über das Geschehene. Im vergangenen Jahr hielt sie auf dem Stadtfest eine Rede über die Heidebahn, auf deren Strecke durch Niedersachsen hunderttausende Kinder und Jugendliche auf dem Schienenweg in die NS-Vernichtungslager deportiert wurden.

Der Zug fuhr auch an Buchholz vorbei. „Ich will dafür sorgen, dass das Schicksal der Verfolgten nicht in Vergessenheit gerät“, sagt sie. „Und ich will darauf hinweisen, dass Diskriminierung auch heute noch in anderen Formen weiter existiert.“

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Es ist der jungen Heideruh-Mitstreiterin ein Bedürfnis aufzuklären, auch jetzt, 75 Jahre nach dem Sieg der alliierten Armeen und Widerstandsgruppen über das NS-Regime, der als Tag der Befreiung am 8. Mai auch in Buchholz mit einer Gedenkfeier am Denkmal zur Erinnerung an die Naziopfer begangen wird – coronabedingt nur in kleinem Kreis. Bürgermeister Jan-Hendrik Röhse wird dabei sein und Heideruh-Geschäftsführerin Bea Trampenau. Gemeinsam werden sie einen Kranz niederlegen.

Jugendcamps auf dem Waldgrundstück

„Es ist ein Tag, den es zu würdigen und zu feiern gilt“, sagt Trampenau, die seit zehn Jahren die Geschicke von Heideruh, dem geschichtsträchtigen Ort der Begegnung leitet. Die 57-Jährige ist es auch, die Raum für die Auseinandersetzung mit der Geschichte schafft. Die Jugendlichen liegen ihr dabei besonders am Herzen. „Ich habe Esther Bejarano versprochen, dass ich diesen Ort in die Zukunft führe“, sagt sie. „Das bin ich den Zeitzeugen schuldig.“

Also organisiert sie regelmäßig Jugendcamps auf dem Waldgrundstück am Rande der Nordheide, bei dem Jugendliche aus Norddeutschland die Möglichkeit zur Vernetzung und politischen Weiterbildung haben. In den Sommerlagern setzen sich die Jugendlichen vier Tage lang mit Themen wie Antifaschismus und Gedenken auseinander.

Darüber hinaus gibt es eine Jugendgruppe, die regelmäßig vor Ort zusammenkommt. Gemeinsam werden geschichtliche Themen aufgearbeitet und politische Kampagnen gegen Rechtsextremismus thematisiert.

„Es ist wichtig, aufzuklären

„Es ist wichtig, aufzuklären“, findet Nathalie Döpken – und ist damit nicht allein. Es gibt viele wie sie, die in Heideruh an der Geschichte arbeiten, die Fragen stellen und Vergangenes nicht einfach hinnehmen wollen. Doch viele von ihnen wollen nicht öffentlich auftreten, weil sie Angst haben vor den Mitgliedern der rechtsextremen Szene. Vor jenen, die hartnäckig die Vergangenheit leugnen und den Holocaust immer noch als Lüge bezeichnen.

Oliver Neumann ist einer von den jungen Engagierten in Heideruh, die wie Nathalie Döpken die deutsche Geschichte aufarbeiten. Oliver heißt eigentlich anders. Doch seinen richtigen Namen möchte er nicht nennen. „Wir thematisieren den Faschismus und die Nazigräuel, weil genau das all die Jahrzehnte zuvor versäumt worden ist“, sagt der 28-Jährige.

„Ein Prozess von Entnazifizierung hat doch nie wirklich stattgefunden. Unsere Eltern haben sich nie ernsthaft mit der Vergangenheit auseinandergesetzt und das Handeln ihrer eigenen Eltern hinterfragt.“ Also stellt er Fragen und sucht nach Antworten. In den Geschichtsbüchern und Archiven. Und bei den letzten Zeitzeugen, von denen es nur noch wenige gibt.

Oliver und Nathalie sind sich einig, dass jetzt die Generation der Enkel und Urenkel die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit übernehmen muss. „Wir müssen dafür sorgen, dass über das Gewesene weiterhin gesprochen wird“, sagt Nathalie Döpken. Das sei heute wichtiger denn je. „Die Vorfälle in Halle und Hanau haben gezeigt, dass die rechte Ideologie weiter im Vormarsch ist und sich gewalttätig ausdrückt. Dem müssen wir unbedingt die Erfahrungen aus unserer Geschichte entgegensetzen.“