Hamburg. Der langjährige Chefredakteur und Herausgeber dieser Zeitung starb mit 81 Jahren. Ein Journalist wie das Blatt – weltoffen und liberal.
In der Redaktion des Hamburger Abendblatts gibt es eine Porträtgalerie. Sie zeigt die ehemaligen Chefredakteure. Alle Gemälde sind mit einem kleinen Schild gekennzeichnet, auf dem nicht mehr steht als ein Name und ein Zeitabschnitt. Die Bilder sollen an die Menschen erinnern, die diese Zeitung einmal geführt haben. Auf einem steht: Peter Kruse 1989–2001. Zwölf Jahre als Chefredakteur, denen noch zwei Jahre als Herausgeber folgten. Von dem Gemälde blickt ein nachdenkliches Gesicht. Es zeigt einen Menschen, der offensichtlich eher introvertiert ist, vorsichtig, bedacht im Urteil. Auch die Freundlichkeit in den Augen hinter der charakteristisch großen Brille ist eher abwartend, zurückhaltend. Der Gesichtsausdruck und die eingefangene Körperhaltung drücken Offenheit und Neugier aus. Peter Kruse ist jetzt im Alter von 81 Jahren gestorben.
Zwölf Jahre Chefredakteur – ist das eine Ära? Sie sind zunächst nur ein Teil des Ganzen. Denn beim Abendblatt arbeitete der Journalist Peter Kruse seit 1976, ab 1979 war er bereits stellvertretender Chefredakteur. Tatsächlich also hat er als Mitglied der Chefredaktion und als Herausgeber beim Abendblatt mehr als 24 Jahre an maßgeblicher Stelle gewirkt – fast ein Vierteljahrhundert. Das Abendblatt gilt als eine Institution in Hamburg. Es informiert nicht nur, es ist wie diese Stadt: weltoffen, liberal und bürgerlich – bildungsbürgerlich. Dazu hat Peter Kruse in den vielen Jahren seines Wirkens entscheidend beigetragen.
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Peter Kruse war ein Berliner Hanseat oder ein hanseatischer Berliner
Peter Kruse war Berliner. Wer ihn beim Abendblatt kennenlernte, hielt ihn ohne Weiteres für einen Norddeutschen, allerdings ohne die sprachliche Breite dieser Landstriche. Die Liebe zu Berlin offenbarte sich erst, wenn das Gespräch auf seine Geburtsstadt kam. Und dann konnte er auch durchaus in das Idiom seiner Kindheit fallen. Kruse entwickelte eine seltene Dualität: Er war ein Berliner Hanseat oder ein hanseatischer Berliner. Ihm kam entgegen, dass sich in Hamburg viele Menschen mit Bürgersinn finden. Menschen also, die Gesellschaft und Staat zwar nicht kritiklos, aber positiv annehmen und bereit sind, sich dafür zu engagieren. Kruse hat bürgerliches Engagement gelebt, in vielfältiger Ausprägung.
Zuvorderst war er einer der prägnantesten Kommentatoren der Zeitung, die er führte. Es war ihm wichtig, nach innen wie nach außen Meinung als Leitlinie zu geben. Er war niemand, der sich vorschnell oder gar leichtfertig eine Meinung bildete. Sie war immer Ergebnis ausführlichen Nachdenkens, häufig einer nicht weniger ausführlichen Diskussion mit Mitgliedern der Abendblatt-Redaktion. Diese Meinung vertrat der damalige Chefredakteur dann argumentativ und fest. Das erwartete er auch von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Beim Abendblatt von Peter Kruse gab es nur eine Linie: die des Verstandes
Kruse hatte Spaß an der Meinung – und Spaß daran, sie mit anderen Meinungen zu messen, intellektuelle Auseinandersetzung eben. Meinungen, die von seiner eigenen abwichen, hatten die gleiche Gültigkeit – sofern sie begründet waren. Mit Peter Kruse als Chefredakteur gab es beim Abendblatt auch Leitartikel gegen Atomkraft und mit kritischen Tönen zur Elbvertiefung. Wohl wissend, dass sie in der Öffentlichkeit als Ansicht der gesamten Zeitung interpretiert werden konnten. Es war Teil der intellektuellen Vielfalt und des liberalen Diskurses, auf die Kruse großen Wert legte.
Der Umgang mit den einzelnen Mitarbeitern der Abendblatt-Redaktion war durch große Freiheiten gekennzeichnet. Das Hamburger Abendblatt gehörte damals zum Axel-Springer-Konzern, dessen Blätter im Ruf standen, einer stramm konservativen Linie zu folgen, die von oben vorgegeben und in den jeweiligen Chefredaktionen strikt umgesetzt würde. Nicht beim Abendblatt des Chefredakteurs Peter Kruse. Dort gab es nur eine Linie: die des Verstandes. Das konnte, durfte und sollte sehr wohl zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.
Nur eines tolerierte der Chefredakteur nicht: Uninformiertheit oder Meinungen, die nur auf Hörensagen oder einem irgendwie allgemeinen Gefühl beruhten. Differenziertes Denken war für Kruse die hervorragende Notwendigkeit und Grundvoraussetzung im Journalismus. „Er denkt stets“, hieß es über ihn.
Seine Reden zum Neujahrsempfang wurden in jedem Jahr mit Spannung erwartet
Die bürgerlich-liberale Linie, die er als Chefredakteur nach innen beim Abendblatt lebte, trug er auch nach außen in die Stadt. Seine Reden zum Neujahrsempfang wurden in jedem Jahr mit Spannung erwartet. Sie waren geprägt von einem feinen Humor und setzten – vor allem – eine Agenda für das zu erwartende Jahr. Unter dem Chefredakteur Peter Kruse wurde der Neujahrsempfang zu dem prägenden gesellschaftlichen Ereignis, das er heute noch ist.
Kruse nutzte den Neujahrsempfang, um den von ihm gelebten Bürgersinn zu fördern und, wenn nötig, auch von anderen Menschen einzufordern. Es kam nicht von ungefähr, dass Bürgermeister Henning Voscherau, kurz nachdem er das Amt von Klaus von Dohnanyi übernommen hatte, seine Lösung für die besetzten Häuser in der Hafenstraße unter vier Augen mit Peter Kruse besprach, wie der es in seinem Buch „Mein Deutschland“ schildert. Dass diese Lösung – Neubebauung des Hafenrands mit Sozialwohnungen, Ausbau der Schule und Kinderbetreuung, dafür Wohnrecht der Besetzer – dann im Abendblatt erstmals einer breiten Öffentlichkeit präsentiert wurde, half mit Sicherheit, die Gespräche voranzubringen und eine Eskalation zu vermeiden.
Der Berliner hat den Mauerfall am 9. November 1989 verpasst – in Berlin
Peter Kruse machte das Abendblatt zu einer modernen Großstadtzeitung. Springer-Vorstand Mathias Döpfner nannte es bei Kruses Verabschiedung als Chefredakteur eine „der modernsten Regionalzeitungen Deutschlands“. Eingedenk des Abendblatt-Mottos „Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen“ legte Kruse als Chefredakteur großen Wert darauf, den Einfluss seiner Zeitung zu nutzen, um zu helfen, wo Hilfe notwendig war. Abendblatt-Aktionen und Stiftungen wie „Von Mensch zu Mensch“ oder „Kinder helfen Kindern“ wurden von ihm intensiv gefördert und sind bis heute Institutionen in der Stadt.
Er, der Berliner, hat den Mauerfall am 9. November 1989 verpasst – in Berlin. Kruse wartete damals abends nach Terminen im Springer-Verlag auf dem Flughafen Tegel auf seine Maschine zurück nach Hamburg. Es gab keine Mobiltelefone mit News-App, und in den Flughäfen wurden die neuesten Meldungen auch nicht auf Bildschirmen gezeigt. Kruse flog also in aller Seelenruhe die kurze Strecke zurück nach Hamburg, während wenige Kilometer von ihm entfernt die Grenze aufging – wovon er erst nach seiner Landung erfuhr.
Hilfsaktionen für St. Petersburg und die Partnerstadt Dresden
Als im Winter 1990 St. Petersburg vor einer Hungerkatastrophe stand, initiierten das Abendblatt und der Arbeiter-Samariter-Bund eine bis dahin beispiellose Hilfsaktion. Die Hamburger packten rund 650.000 Pakete mit Lebensmitteln, um den Menschen in der russischen Stadt zu helfen. Bürgermeister Henning Voscherau schob persönlich Wagen mit Paketen für die Hilfslieferungen über den Rathausmarkt. „Ein Paket für St. Petersburg“ wurde zum Synonym der Hilfe in einer neuen Zeit. „Etwa 60.000 Menschen in St. Petersburg und Hamburg haben damals Kontakt gefunden“, erinnerte sich der damalige ASB-Geschäftsführer Knut Fleckenstein später.
Zwölf Jahre später ist es wieder eine Notsituation, die Fleckenstein und Kruse zusammenführt. Im Hochsommer 2002 regnen sich tagelang Wolken über dem Erzgebirge und dem Riesengebirge ab. Als Folge verwandeln sich zunächst die Gebirgsbäche in reißende Ströme. Danach baut sich auf der Elbe eine Flutwelle auf, die Dörfer mitreißt und Dresden unter Wasser setzt. Fleckenstein bittet Kruse, zu diesem Zeitpunkt bereits Herausgeber, und Chefredakteur Menso Heyl, zu Spenden für die Partnerstadt an der Elbe aufzurufen. „Hamburg hilft den Flutopfern“ steht tags darauf auf Seite 1 des Abendblatts. Am Ende spenden die Norddeutschen rund 13 Millionen Euro für Dresden und die Flutopfer.
Grenzenlose Enttäuschung über ein fehlgeschlagenes Zeitungsprojekt
Peter Kruse hat die Vereinigung von Ost und West immer als eines der einschneidendsten Erlebnisse seines Berufslebens bezeichnet. Er gehörte zu den Chefredakteuren, die sich intensiv dafür einsetzten, die Zeitungslandschaft in den damals neuen Bundesländern neu zu gestalten. Beim Abendblatt wurden Teams gebildet, die nach Schwerin oder Leipzig gingen, um den Kolleginnen und Kollegen technische Hilfe zu leisten und beim Aufbau einer Redaktion zu helfen, die frei von staatlicher Gängelung arbeiten konnte. Kruse erlebte dabei auch persönlich, wie schwierig es sein konnte, den schmalen Grat zwischen Hilfestellung und einem Verhalten zu gehen, das als Gängelung empfunden wurde.
1990 bot sich eine Chance, die Peter Kruse keinesfalls auslassen wollte. Der damalige Dresdner Oberbürgermeister bot ihm an, für seine Stadt eine Zeitung wie das Hamburger Abendblatt zu gründen. Ein „Dresdner Abendblatt“. Es gab Räume, auch Personal für die Redaktion hätte sich bestimmt gefunden, die Technik war da, sogar eine Druckerei gab es. Alles Weitere beschreibt Peter Kruse in seiner Abschiedsrede 2003 und seinem Buch „Mein Deutschland“: „Ich flog sofort nach Hamburg zurück, schrieb nachts ein Papier, das ich am nächsten Morgen dem Zeitungsvorstand gab. Auf die Antwort warte ich heute noch. Meine Enttäuschung war grenzenlos – und das im Hause Springer, dem die Einheit so sehr am Herzen lag.“ Tatsächlich bekam später Gruner + Jahr den Zuschlag.
Peter Kruse selbst lebt nun nicht mehr. Seine Ära – im besten Wortsinne – endete 2003. Sein journalistisches und bürgerlich-liberales Credo war vielen Vorbild und Leitlinie für die eigene Arbeit. Es wirkt auch heute noch, fast 20 Jahre nachdem er den Stab des Chefredakteurs weiterreichte. So hat Peter Kruse dem Abendblatt und der Stadt weit mehr hinterlassen als ein Gemälde.