Hamburg. In 27 Prozent der Familien wird kein Deutsch gesprochen. Von der Leseförderung sollen auch starke Grundschüler profitieren

Lautes Lesen mit der ganzen Klasse im Chor und ein systematisches Lesetraining zu festen Zeiten in allen Fächern außer Sport – das sind die wichtigsten Merkmale einer neuartigen Leseförderung insbesondere für Kinder in einem schwierigen sozialen Umfeld. In Hamburg ist ein Modellprojekt mit diesen Methoden nach Angaben der Schulbehörde bisher so erfolgreich verlaufen, dass es nun von 20 auf mindestens 50 Grundschulen in der Hansestadt ausgeweitet werden soll – auf freiwilliger Basis. Damit profitiere künftig mehr als jede vierte Hamburger Grundschule von dem Programm, sagte Schulsenator Ties Rabe (SPD) am Mittwoch im Rathaus.

Die meisten der 50 teilnehmenden Schulen sind Einrichtungen mit dem Sozialindex KESS 1 („stark belastete soziale Lage der Schülerschaft“) und KESS 2 („eher stark belastete soziale Lage der Schülerschaft“). Langfristig solle die Leseförderung aber möglichst an sämtlichen Hamburger Grundschulen verankert werden, sagte Rabe.

Leseförderung kann auch starke Schüler weiterbringen

Zwar profitierten von dem Programm besonders jene Kinder, die in „schriftfernen Lebensumständen“ aufwachsen und Kinder, die eine zusätzliche Leseförderung benötigen. Doch selbst starke Schüler könne die Leseförderung weiterbringen. Das bestätigte der aus Köln angereiste „Lesepapst“ Prof. Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache. „Das schöne an diesem Trainingsprogramm ist, dass es bei allen Grundschülern wirkt, auch unabhängig davon, welche Herkunftssprache sie zu Hause sprechen.“

Becker-Mrotzek ist Sprecher des Trägerkonsortiums der Initiative „Bildung durch Sprache und Schrift“ (BiSS), die dem Leseprojekt zugrunde liegt. BiSS, ein gemeinsames Vorhaben von Bund und Ländern, war in Hamburg im Jahr 2015 gestartet – als Reaktion darauf, dass zwei Studien den Hamburger Grundschülern bei der Lesefähigkeit einen Platz im Mittelfeld im Bundesvergleich zugewiesen hatten, wie Rabe sagte. Sehr viel schlechtere Lesefähigkeiten zeigten sich bei Hamburger Grundschülern in sozialen Brennpunkten.

Das Projekt wurde zunächst an sechs Grundschulen erprobt

Um die Lesefertigkeiten von Grundschülern zu erfassen, wird häufig das Salzburger Lese-Screening eingesetzt. Demnach sollten Kinder zu Beginn der zweiten Klasse mindestens 20 Sätze in drei Minuten lesen können. Tests in Hamburg-Wilhelmsburg ergaben allerdings, dass Kinder an der dortigen Grundschule Kirchdorf im Durchschnitt nur 14,4 Sätze in drei Minuten lesen konnten. Schüler der Grundschule Wilhelmsburg schafften sogar nur 11,5 Sätze.

Daraufhin wurde an zunächst sechs Grundschulen, darunter die Grundschule Kirchdorf, die BiSS-Leseförderung in den Klassen 2 bis 4 drei Jahre lang erprobt und wissenschaftlich begleitet. Ein Ergebnis an der Grundschule Kirchdorf: Bis zur Mitte der zweiten Klasse können die Schüler nun im Durchschnitt 20 Sätze in drei Minuten lesen, was fast dem Soll entspricht. Schulleiter Christian Gronwald sagte: „Vielen Kindern mit Sprachschwierigkeiten fehlen die Vorläuferfähigkeiten. Sie kommen zur Schule und haben in ihrer Entwicklung bis zu eineinhalb Jahre Rückstand. Ihre Eltern lesen ihnen nicht vor.“ Die Schule müsse das auffangen. Das BiSS-Projekt leiste hier „Großartiges“.

Wegen des Erfolgs an den sechs Modellschulen wurde das Projekt ab 2018 um 14 weitere Grundschulen ausgebaut. Nun kommen 30 weitere Schulen dazu.

Grundschulleiter Christian Gronwald: „Lesen ist knallharte Arbeit“

„Lesepapst“ Michael Becker-Mrotzek erklärte, die Forschung zeige, wie wichtig eine feste Einbindung des Lesens in den Unterricht und häufige Wiederholungen seien, um die Lesefähigkeiten der Schüler langfristig zu verbessern. „Lesen ist knallharte Arbeit“, sagte Christian Gronwald. Die von ihm geleitete Grundschule Kirchdorf war für ihre Leseförderung mit dem Hamburger Bildungspreis 2019 ausgezeichnet worden, den das Abendblatt und die Haspa vergeben. Leseübungen finden an der Schule fünfmal pro Woche von 8.50 bis 9.10 Uhr statt. Die Empfehlung des BiSS-Projekts sieht vor, mindestens dreimal pro Woche mindestens 20 Minuten zu lesen.

Die Grundschule Kirchdorf setze vor allem auf das chorische Lesen, sagte Gronwald. Der Lehrer lese vor, die Schüler schauten auf den Text und murmelten mit, der Lehrer gucke, wo die Finger der Schüler am Text sind und korrigiere.

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Lautes Lesen sehr wichtig für den Erfolg der Förderung

Dieses laute Lesen, das in verschiedenen Varianten möglich sei, mache neben dem regelmäßigen Üben den Erfolg der BiSS-Leseförderung aus, sagte Forscher Michael Becker-Mrotzek: „Beim Lernvorgang werden mehrere Sinne angesprochen: Man sieht die Wörter – und die Wörter, die man noch nicht selber lesen kann, hört man direkt.

Über diese Verbindung von Hören und Lesen verbessert sich die Leseflüssigkeit.“ Leseflüssigkeit nennt man die Fähigkeit, Wörter und Sätze ohne große Anstrengung automatisiert entziffern zu können, dabei zu verstehen, was man liest und so am Ende des Satzes nicht zu vergessen, was am Anfang stand.

Die Behörde gibt 1000 Euro pro Jahr für Bücher

Um an dem Projekt teilnehmen zu können, müssen Schulen einen Projektkoordinator benennen und ein Konzept erstellen. Die Behörde finanziert jeweils eine zusätzliche Lehrerwochenstunde und gibt 1000 Euro pro Jahr für Bücher.

Die Opposition kritisierte Rabes Ankündigung. CDU-Politikerin Birgit Stöver nannte es „mehr als irritierend, dass bisher offenbar keine systematische Leseförderung an Hamburgs Grundschulen stattgefunden hat“. Sabine Boeddinghaus von der Linksfraktion sagte, dass trotz großen Bedarfs nicht alle Schulen von der Förderung profitierten. Der Senat hätte früher ein Förderprogramm entwickeln müssen, sagte FDP-Politikerin Anna von Treuenfels-Frowein. „Dass dies nun endlich angegangen wird, ist ein Schritt in die richtige Richtung.“