Hamburg. 110.000 Unterschriften hat Boie mit der Aktion “Jedes Kind muss lesen lernen“ gesammelt. Übergabe bei Bildungsministerium.

Die Leseförderung muss wieder stärker in den Fokus der Bildungspolitik rücken, fordern Kirsten Boie und die mehr als 110.000 Unterzeichner ihrer Petition „Jedes Kind muss lesen lernen“. In der Hamburger Erklärung verlangen sie von den Verantwortlichen in Bund und Ländern, sich stärker für die Förderung der Lesekompetenz bei Kindern einzusetzen. Morgen übergibt sie die Unterschriften Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) und dem Präsidenten der Kultusministerkonferenz Helmut Holter (Die Linke).

Woher kam Ihre Motivation für die Petition?

Kirsten Boie: Die internationale Grundschulstudie IGLU hat ergeben, dass in Deutschland eins von fünf Kindern mit zehn Jahren nicht so lesen kann, dass es einen Text auch versteht. Danach wird das Lesen in der Schule aber nicht mehr gelehrt, sondern vorausgesetzt. Diese Kinder werden also ab Klasse 5 massive Schwierigkeiten in allen Fächern haben. Auch eine Berufsausbildung erscheint ziemlich ausgeschlossen, und das in einem Land, das über Fachkräftemangel klagt! Dieses Fünftel der Bevölkerung wird später von Transferleistungen abhängig sein, nicht in die Sozialsysteme einzahlen, obwohl wir ein massives demografisches Problem haben und uns um die Renten sorgen!

Ist Leseförderung mehr Aufgabe der Eltern oder der Bildungsinstitutionen?

Boie: Es wäre ja schön, wenn wir das Thema den Eltern überlassen könnten! Aber viele Eltern sind damit vollkommen überfordert, und sollen wir deren Kindern dann sagen: „Pech gehabt! Du hast dir die falschen Eltern ausgesucht?“ Der Staat hat einen Bildungsauftrag, und dem muss er nachkommen.

Haben Sie das Gefühl, dass die Kultursenatoren und -minister zuhören wenn es um solche Themen geht?

Boie: Zunehmend ja, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob allen inzwischen die Dramatik dieses „leisen“ Themas bewusst ist. Gerade Hamburg hat schon eine ganze Menge unternommen und schneidet im Bundesvergleich verblüffend gut ab: Bei uns sind es nur 14 Prozent der Zehnjährigen, die nicht lesen können, in den anderen beiden Stadtstaaten Bremen und Berlin dagegen 20 bzw. 25 Prozent. Aber auch 14 Prozent sind ja immer noch viel zu viel.

In Berlin betreiben die Auto- oder Pharmaindustrie Lobbyismus. Braucht die Bildungspolitik auch eine Lobby für das Lesen?

Boie: Es gibt hier niemanden, der wirtschaftlich so mächtig wäre wie Autoindustrie oder Pharmakonzerne. Der Börsenverein für den Deutschen Buchhandel, der Dachverband von Verlagen und Buchhandlungen, ist ebenso wie der Autorenverband PEN bei der Übergabe in Berlin dabei. Aber welche Wirtschaftsmacht steht denn dahinter im Vergleich? Eher setze ich auf die Medien.

Müssen Kinder mittlerweile früher Leistung bringen und haben weniger Zeit für Spaß und Fantasie?

Boie: Kinder in Deutschland leben sehr unterschiedlich, eine Kindheit in Eppendorf sieht in der Regel anders aus als eine Kindheit in Wilhelmsburg. Aber die Hauptveränderung für alle ist, dass heute nicht mehr so viel mit anderen Kindern, sondern viel mehr virtuell gespielt wird – Frustrationstoleranz, Konzentrationsvermögen und Selbstmotivation gehen zurück.

Sie besuchen regelmäßig Schulen im ganzen Norden und lesen Kindern aus ihren Büchern vor. Können Sie Unterschiede im Leseverständnis zwischen Stadt und Land feststellen?

Boie: Der Hauptunterschied besteht nicht zwischen Stadt und Land, sondern zwischen Gegenden mit hohem Bildungsstand der Eltern und sogenannten Brennpunktgebieten. Die IGLU-Studie hat gezeigt, dass die Lesefähigkeit am Stärksten von der sozialen Herkunft der Kinder und dem Bildungsstand der Eltern abhängt.

Experten behaupten, dass Kinder mit Leseschwächen in der Grundschule bereits Probleme hätten und es zu diesem Zeitpunkt schon zu spät sei. Ab welchem Alter muss man mit der Leseförderung ansetzen?

Boie: So früh wie möglich! In Hamburg hat sich gezeigt, dass Kinder, die drei oder mehr Jahre eine Kita besucht habe, denen gegenüber, die nur ein Jahr oder gar nicht dort waren, einen Riesenvorsprung haben.

Mehrere Ihrer Geschichten wurden schon verfilmt. Was kann Text was Bild nicht kann?

Boie: In Büchern erfahre ich im Gegensatz zum Film ständig etwas über Gefühle und Gedanken der Figuren. Auch in der Realität muss ich die aus Mimik, Gestik und Verhalten erst erschließen. Dadurch macht die Lektüre von Büchern Kinder empathischer, sie wissen ganz viel darüber, was in anderen Köpfen vor sich geht. Dass Lesen den Wortschatz erweitert, die sprachliche Ausdrucksfähigkeit und die Rechtschreibung fördert, ist ja ohnehin selbstverständlich.

Morgen übergeben Sie der Bildungsministerin Anja Karliczek und dem Präsidenten der Kultusministerkonferenz Helmut Holter die Unterschriften. Was hoffen Sie, wird sich dann verändern?

Boie: Ich hoffe, dass sich ein Bund-Länder-Gremium mit den vielen Studien zum Thema befasst und es zu einem gemeinsamen Beschluss kommt, der sich endlich daran orientiert, was nötig ist und nicht, was finanziell möglich scheint – und dass das Bundesministerium sehr ernsthaft über eine finanzielle Unterstützung nachdenkt