Hamburg. Zum 15. Seiteneinsteiger-Festival wünscht sich dessen Chefin vollen Literatur-Einsatz aller Eltern. Und was hält sie von Handys?

Am 23. Oktober beginnt das 15. Seiteneinsteiger-Lesefest. Für die Leseförderung ganz junger Hamburger leistet es unschätzbare Dienste: Der ausrichtende Verein führt 3000 Einzelveranstaltungen im Jahr durch. Ein Interview mit Seiteneinsteiger-Chefin Nina Kuhn.

Hamburger Abendblatt: Wie wichtig ist außerschulische Literaturvermittlung?

Nina Kuhn: Sie hat vor allem einen großen Vorteil: Anders als die Schulen ist sie nicht an Lernpläne und enge Zeitrahmen gebunden, sondern kann die Lust aufs Lesen sehr kreativ, spielerisch und frei vermitteln, ohne Notendruck und organisatorische Zwänge. Ein wichtiger Fokus unserer Arbeit liegt dabei auf der Begegnung: Wir laden interessante Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Sachbuch-Autoren, Comiczeichner und andere Buchkünstler aus dem In- und Ausland ein und stellen immer wieder fest, dass der persönliche Kontakt ein wichtiger Hebel für das Wecken von Interesse und Neugierde ist.

Haben Sie den Eindruck, dass das mit Leistungsdruck verbundene Lesen in Schulen bisweilen kontraproduktiv ist?

Kuhn: Ein gewisser Leistungsdruck gehört zu unserem Schulsystem, das ist richtig. Und ein wichtiger Aspekt des Lesenlernens ist nun mal das regelmäßige Üben über Jahre hinweg. Ohne geht es nicht. Dennoch denke ich, dass guter Deutschunterricht so vielseitig gestaltet werden kann, dass die Liebe zu Geschichten, zu Literatur auch dort geweckt wird. Von Vorteil ist, wenn die Lehrerin oder der Lehrer selbst Leser sind und selbst Freude an der Beschäftigung und Vermittlung von Literatur haben. Wir haben mit so vielen tollen Deutschlehrern zu tun, ich habe größten Respekt vor ihrer Arbeit.

Hamburg ist die deutsche Kinder- und Jugendbuchhauptstadt. Ausruhen darf man sich als Literaturvermittler darauf aber nicht. Welche Impulse werden gebraucht?

Kuhn: Tatsächlich befinden wir uns in Hamburg gerade in einer fruchtbaren Phase, worüber wir sehr froh sind. Nicht zuletzt durch die von Kirsten Boie 2018 ins Leben gerufene Hamburger Erklärung ist ein erfrischender Ruck durch die Behörden und die Stiftungsszene gegangen. Kirsten Boies dringliche Forderung, dass jedes Kind lesen lernen muss, weil wir sonst sehr bald mit größten gesellschaftlichen Problemen konfrontiert sind, findet in Hamburg Gehör.

Inwiefern?

Kuhn: Viele der großen wie kleinen Stiftungen in Hamburg haben Bildungs- bzw. Leseförderungs-Schwerpunkte. Auch die Hamburger Verlage setzen sich sehr für die Leseförderung ihrer Stadt ein. Wir haben mit dem breiten Angebot der Hamburger Bücherhallen eine Leuchtturm-Situation, die ihresgleichen sucht. Hamburg arbeitet auch in der Leseförderung erfolgreich in Netzwerken: viele Kinder- und Jugendbuchautoren haben sich zu der Vereinigung „Elbautoren“ zusammengeschlossen, die außerschulischen Leseförderer treffen im Lesenetz regelmäßig zum Austausch und zur Qualifizierung zusammen. Nicht umsonst gilt Hamburg als Modellregion für Kinder- und Jugendkultur.

Sie sind also wunschlos glücklich?

Kuhn: Fast. Wenn ich dennoch Wünsche äußern darf, dann wünsche ich mir für die Leseförderung eine enge Zusammenarbeit zwischen Kultur-, Schul- und Sozialbehörde und darüber hinaus einen regelmäßigen Leseförder-Jourfixe, an dem Behördenvertreter und die wichtigsten Player der Stadt zum Austausch zusammenkommen.

Wie steht es Ihrer Meinung nach um Lesefähigkeit der Hamburger Kinder und Jugendlichen?

Kuhn: Seit der IGLU-Studie wissen wir, dass fast jedes fünfte Kind in Deutschland am Ende der vierten Klasse nicht sinnentnehmend lesen kann und dass hier die gesamte Gesellschaft gefordert ist. Die gute Nachricht: Hamburg ist das einzige Bundesland, das die Lesekompetenz seiner Schülerinnen und Schüler zwischen 2011 und 2016 verbessern konnte. So können laut IGLU in Hamburg „nur“ 14 Prozent der Zehnjährigen nicht sinnentnehmend lesen – im Gegensatz zu den knapp 19 Prozent bundesweit. Natürlich sind 14 Prozent noch viel zu viel. Dennoch: Wir sind überzeugt, dass die Hamburger Leseförder-Initiativen hier ihre Wirkung zeigen – und nehmen den Aufwärtstrend unbedingt als Motivation, mit vereinten Kräften am Ziel 0 Prozent zu arbeiten.

Und was ist mit der Lesebegeisterung?

Kuhn: In Zeiten von Computerspielen, Youtube und Netflix ist es eine wichtige, spannende und manchmal nicht einfache Aufgabe, die Lesebegeisterung bei Kindern und Jugendlichen immer wieder neu zu entfachen. Daher lade ich alle Eltern und Lehrer ein, das vielfältige Angebot unserer Stadt zu nutzen, Veranstaltungen zu besuchen, die Bücherhallen zu erkunden, sich in Buchhandlungen beraten zu lassen, Buchillustration im Kinderbuchhaus zu entdecken, an literarischen Spaziergängen oder dem Bilderbuch-Picknick der „Leselotte“ in der Hafencity teilzunehmen, nur um ein paar wenige Beispiele zu nennen.

Was denken Sie, wenn Sie Kinder beobachten, die mit Handy und Tablet hantieren? Haben Sie da den Reflex, die Eltern auf den Wert der guten, alten Bücher hinzuweisen?

Kuhn: Natürlich. Und ich muss nicht weit gucken. Auch bei uns zu Hause konkurrieren Buch und Tablet. Gleichzeitig hat der selbstverständliche Kontakt der Jugendlichen mit allem Digitalen auch eine sehr nützliche Seite, nämlich ein digitales Grundverständnis, das glücklicherweise über Computerspiele hinausgeht. Da das Digitale in erster Linie von schnellen Bildern lebt, halte ich den Aspekt des vertieften Lesens für besonders wichtig, hier werden Konzentrationsfähigkeit geschult, Empathie, Fantasie, Wissen – nicht zuletzt wünsche ich allen Kindern das Glück der Entdeckung, wenn sie zwischen zwei Buchdeckeln in völlig neue Welten eintauchen dürfen.

Welches ist denn das perfekte Alter, in dem man junge Menschen mit Büchern anfixen kann? Und gibt es ein Alter, an dem man sagen kann: Wer jetzt noch nicht eingestiegen ist, der tut es auch künftig nicht mehr?

Kuhn: Mit unserem hamburgweiten Projekt „Buchstart“ haben wir ja ein klares Zeichen gesetzt: Eltern, guckt schon mit euren Babys regelmäßig Bücher an, lest euren kleinen – und größeren! – Kindern am besten täglich vor, integriert Bücher selbstverständlich in den Alltag, schafft eine angenehme Atmosphäre. Viele Eltern sind überrascht, wie sie allein mit diesen wenigen und einfachen Maßnahmen, die in der Regel Kinder wie Erwachsene auch noch glücklich machen, die Sprachentwicklung optimal fördern und die Kinder für ihren späteren Bildungsweg bestens unterstützen können. Was gelesen wird, sollen die Kinder am besten mitauswählen. Bitte keine Scheu beim Vorlesen von Comics, Sach- oder Witzebüchern! Und zu Ihrer letzten Frage: Natürlich ist es leichter, Kinder bis zum Ende der Grundschulzeit für Bücher zu begeistern als Jugendliche. Aber diese aufgeben? Niemals!