Hamburg. Nach dem Tod von Yagmur und Tayler hat eine Kommission die Jugendhilfe auf Schwachstellen untersucht und gibt 69 Empfehlungen.

Mehr Mittel für Kinder- und Jugendarbeit und eine Entlastung der Jugendamtsmitarbeiter, die Verpflichtung zur Fortbildung von Familienrichtern und eine Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz: 69 Empfehlungen an den Senat für einen besseren Schutz der Kinder hat die Enquetekommission „Kinderschutz und Kinderrechte weiter stärken“ nach zweijähriger Arbeit vorgelegt.

Nach dem Tod von Jessica und Lara-Mia, von Chantal, Yagmur und Tayler, die alle im Blick des Jugendamts waren, hat die Bürgerschaft vor zwei Jahren die Einsetzung einer Expertenkommission beschlossen, in der auch Mitglieder aus den sechs Fraktionen sind. Jetzt hat sie ihren Abschlussbericht vorgelegt, der noch bis zum 17. Dezember von den Parteien ergänzt werden kann.

„Ich bin erstaunt und froh, dass wir ein einstimmiges Ergebnis hinbekommen haben“, sagte Uwe Lohmann (SPD). Es gebe viele Empfehlungen, bei denen es sich lohne, genauer hinzusehen, um vielleicht noch nachzubessern. „Eine Aufgabe für die nächsten Jahre.“

„Minimalkonsens aller Beteiligten an vielen Stellen“

Philipp Heißner (CDU) wies darauf hin, dass der Bericht mit der Personalausstattung, der Regeleinhaltung oder der Dokumentation „die bekannten Probleme in Hamburgs Jugendämtern“ aufgreife. Viele davon könnten nur durch „entschlossenes Senatshandeln“ gelöst werden. An vielen Stellen stelle der Bericht den Minimalkonsens aller Beteiligten dar. „Umso wichtiger, dass dieser nun auch wirklich umgesetzt wird.“

Sabine Boeddinghaus (Linke) sagte: „Wir begrüßen die Ergebnisse ausdrücklich.“ Diese zielten auf die Akzeptanz der Beratungs- und Hilfsangebote für junge Menschen und ihre Familien und auf die dafür notwendigen Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter.

Die Kommission sollte das System der Jugendhilfe in Hamburg auf Schwachstellen untersuchen. Was kann im Jugendamt und bei Eltern, in Pflegefamilien, bei freien Trägern und in der Justiz optimiert werden, um Kinder besser zu schützen und ihnen ihr Recht auf Würde und Entwicklung zu garantieren?

Im Grunde geht es um die zentrale Frage: Wie kann sichergestellt werden, dass in Fällen von Vernachlässigung oder Missbrauch das betroffene Kind und sein Wohl zu jeder Zeit Mittelpunkt der Fallbearbeitung sind? Dafür wurden in den verschiedenen Bereichen konkrete Empfehlungen gemacht.

Die wichtigsten Empfehlungen der Kommission

Kinderrechte Von Armut betroffene Kinder, so die Kommission, haben häufig schlechteren Zugang zu Bildungs- oder Freizeitangeboten, werden in ihrer Entwicklung weniger gefördert und sind öfter gefährdet. Die Kommission empfiehlt dem Senat, „gerade mit Blick auf Kinder in sozial belasteten Gebieten“ alternative Angebote der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zu entwickeln. Und sie empfiehlt die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz, da der bisherige Text des Grundgesetzes die besondere Stellung von Kindern und Jugendlichen nicht hinreichend zum Ausdruck bringe. Kinder seien „keine kleinen Erwachsenen“, sondern „Rechtspersönlichkeiten mit eigenen von der Verfassung geschützten Rechten“.

Elternarbeit Die Arbeit mit Eltern ist in der Jugendhilfe ein zentrales Element für die Realisierung von Kinderrechten. Notwendig seien für die Mitarbeiter „ausreichend Zeit, kommunikative Fähigkeiten und eine ausreichende Vorbereitung der Gespräche“. Die Kommission empfiehlt „die Förderung der Elterngruppenarbeit“ und neue Formate wie etwa Apps, um Eltern über ihre Rechte und Möglichkeiten in der Erziehungsarbeit zu informieren. Und: Bei auftretenden Konflikten mit dem Jugendamt „soll den Eltern die Möglichkeit gegeben werden, sich von Personen, denen sie vertrauen begleiten zu lassen“.


Jugendamt
Ganz wichtig ist der Kommission, dass die rund 450 Jugendamtsmitarbeiter in Hamburg – allein zwischen 2014 und 2016 wurden 75 neue Stellen geschaffen – wieder mehr Zeit für ihre eigentliche Aufgabe haben: den Kontakt zu den Familien. „Das Verhältnis zwischen Beratung und Verwaltung soll neu gewichtet werden.“ Eine Online-Befragung unter den Mitarbeitern ergab eine hohe Belastung bei Kinderschutzfällen oder durch die notwendige Dokumentation der einzelnen Fälle. Hier hält die Kommission „umfassende Entlastungen für unbedingt erforderlich“. Zur Verbesserung und Fehlervermeidung sollten „in jeder Abteilung Fall-Tandems“ gebildet werden, um Zweifel oder Probleme gemeinsam zu beraten. Außerdem sollten die Stellen der bezirklichen Kinderschutzkoordinatoren personell aufgestockt werden, die dann „standardmäßig bei der Gefährdungseinschätzung und kollegialen Beratung mit hinzugezogen werden“ und „im Einzelfall auch Ansprechpartner für Eltern und Kinder sein könnten“. Angeregt wird außerdem eine Kampagne, um das Jugendamt „als attraktiven Arbeitgeber“ zu präsentieren.


Jugendhilfeinspektion
Als in Hamburg vor fünf Jahren die Jugendhilfeinspektion eingeführt wurde, sollte diese Fachaufsicht sowohl durch regelmäßige, als auch durch Einzelfallprüfungen die Qualität der Jugendhilfe verbessern. Intern war aber schnell von der Jugend­hilfe-Inquisition die Rede. Ihre Arbeit stieß laut Kommission unter den Mitarbeitern „vorwiegend auf Misstrauen und Ablehnung“. Deshalb sei es notwendig, die Akzeptanz dieser Fachaufsicht zu stärken. Dazu könne auch ein neuer Name beitragen: „Es soll geprüft werden, ob eine andere Bezeichnung diese komplexe Aufgabenstellung angemessener ausdrückt.“

Computersystem Im Mai 2012 wurde in den Jugendämtern das Softwareprogramm JUS-IT eingeführt, dessen Kosten sich am Ende auf rund 150 Millionen Euro steigerten. Dieses Computerprogramm, schnell als „digitale Elbphilharmonie“ verspottet, stand von Anfang an in der Kritik: zu teuer, zu zeitaufwendig, zu kompliziert, stöhnten die Mitarbeiter. Laut Kommission gibt es auch sechs Jahre nach der Einführung weiterhin „erhebliche Zweifel“ an der Eignung und Nutzbarkeit des Dokumentationssystems. Nach wie vor bestehe „dringender Optimierungsbedarf hinsichtlich noch nicht behobener Fehler“, sodass Anwender sich teils durch sogenannte „Umgehungslösungen“ behelfen müssten. Die Kommission empfiehlt jetzt ein System, dass nicht „durch administrative und sozialrechtliche Aufgaben überfrachtet ist“. Es müsse sogar geprüft werden, „ob die Entwicklung eines alternativen Dokumentationssystems notwendig ist“.

Fehlerkultur In der Jugendarbeit ist es unstrittig, dass Fehler nicht nur von einzelnen Fachkräften begangen werden, sondern auch systemisch bedingt sind. Das Ziel der Fehlervermeidung könne nur durch Fehleroffenheit ermöglicht werden. Die Kommission stellt fest, dass Fehler im Kinderschutz nicht völlig vermeidbar sind. Sie empfiehlt in Einzelfällen, „innerhalb kollegialer Beratungen gegensätzliche Perspektiven auf den Fall regelhaft miteinzubeziehen“.


Justiz
Voraussetzung für einen professionellen Kinderschutz sind sozialpädagogische und juristische Fachkenntnisse bei allen Beteiligten. Die Familienrichter, die etwa über das Sorgerecht oder auch die Fremdunterbringung von Kindern entscheiden, haben ein Recht auf, aber bisher keine Pflicht zur Fortbildung. Das will die Enquete-Kommission ändern – und zwar bundesweit. Sie empfiehlt dem Hamburger Senat „die Vorlage eines Gesetzesentwurfs zur Verpflichtung von Fortbildung für Richter, zumindest in Familiendezernaten.“ Die verfassungsrechtlich verbürgte richterliche Unabhängigkeit stehe einer solchen Regelung auch nicht entgegen, sondern erfordere geradezu die entsprechende fachliche Qualifikation, heißt es.


Ombudsstellen
Sie sind neutrale Anlaufstellen für Familien bei Konflikten mit dem Jugendamt. Im Bezirk Mitte existiert seit Oktober 2015 ein Pilotprojekt. Die Mitglieder der Ombudsstellen arbeiten ehrenamtlich, ihr Engagement wird von der Kommission ausdrücklich gewürdigt. Sie rät aber gleichzeitig, die Anbindung von Ombudsstellen an die Bezirksämter und die einseitige Festschreibung auf die Ehrenamtlichkeit zu überprüfen und zu reformieren, „um die Neutralität und die Niedrigschwelligkeit dieser Anlaufstelle zu erhöhen“.


Inobhutnahmen
Was passiert mit Kindern, die vom Staat aus den Familien genommen und in einem Heim untergebracht werden? Auch in Hamburg steigen, wie im Bundesgebiet, die Zahl der Inobhutnahmen, die Dauer der Fremdunterbringung bei Säuglingen und Kleinkindern sowie die Fälle, bei denen nicht oder kaum mit der Herkunftsfamilie gearbeitet wird. Und es steigt die Zahl der Fälle, bei denen „über eine langen Zeitraum keine Perspektivklärung erfolgt“. Die Kommission sorgt sich, dass die Fremdunterbringung zu weiteren Schädigungen des Kindes führen kann. Sie empfiehlt dem Senat, systematische Erkenntnisse über den Verlauf von Inobhutnahmen zu erheben, insbesondere, „ob und wie Sekundärschädigungen auftreten“. Es solle überprüft werden, wie Inobhutnahmen weniger belastend gestaltet werden können.