Hamburg. Die Hamburgerin kämpft darum, den Teufelskreis von überforderten Eltern und vernachlässigten Kindern zu durchbrechen.
Das Bild führt in die Irre. Heidi Rosenfeld hat für den Fotografen in der Hängeschaukel in dem großen Aufenthaltsraum im siebten Stock eines etwas heruntergekommenen Gebäudes in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs Platz genommen. Hier, mitten in der City, hat der Verein AugenBlicke seinen Sitz. Die Arbeitshaltung von Heidi Rosenfeld ist sonst nicht so entspannt. Seit zehn Jahren kämpft die Hamburgerin mit ihren Mitstreiterinnen darum, den Teufelskreis von überforderten Eltern und vernachlässigten Kindern zu durchbrechen. Eine Herkulesaufgabe.
Eine Woche zuvor war der Aufenthaltsort von Heidi Rosenfeld wesentlich repräsentativer. Großer Festsaal im Hamburger Rathaus, 200 Gäste und viele warme Worte auf der Veranstaltung anlässlich der dritten Verleihung des Yagmur-Gedächtnispreises. Preisträger des Jahres 2017: AugenBlicke e. V.
Das Rampenlicht mag sie eigentlich nicht
Heidi Rosenfeld mag das eigentlich nicht so gerne. Das Rampenlicht, plötzlich im Mittelpunkt zu stehen, alle Augen auf sie gerichtet. Andererseits bedeutet ihr dieser Preis eine Menge. „Es ist eine große Wertschätzung unserer Arbeit. Wir sind gerührt und stolz. Und wir fühlen uns gesehen und verstanden in dem, was wir tun“, sagt sie.
Sie tun das nunmehr seit zehn Jahren. Mehr oder weniger unbemerkt von der Öffentlichkeit kümmern sich Heidi Rosenfeld und ihr engagiertes Team vor allem um Frauen, die eine schwere Kindheit erlebt haben. Mit Gewalterfahrungen, Misshandlungen, sexuellen Übergriffen und Vernachlässigung. Und nun stehen diese Frauen plötzlich selbst als Mütter vor der gewaltigen Herausforderung, einem kleinen Menschen verlässlich und liebevoll zur Seite zu stehen. Tag und Nacht, ein Leben lang.
Sie betreuen rund 45 Familien
Als sie damals angefangen haben, „waren wir zu dritt“, sagt Heidi Rosenfeld. Heute hat AugenBlicke e. V. elf Mitarbeiter. Sozialpädagoginnen, Psychologinnen, Therapeutinnen, Traumaexpertinnen. Die Kinderschützerinnen betreuen rund 45 Familien. Der Bedarf an Hilfe und Unterstützung ist ständig gewachsen.
Jetzt aber wollen sie es bei dieser Größenordnung belassen. Denn der Betreuungsschlüssel garantiert das, was Heidi Rosenfeld am wichtigsten ist. „Ich kenne jede Familie. Ich bin bei allen Hilfeplangesprächen dabei. Und hier geht keine Akte raus, ohne dass ich sie gelesen habe“, sagt die 59 Jahre alte Diplom-Sozialpädagogin, die aus einer sicheren beruflichen Stellung zusammen mit ihrem Mann vor zehn Jahren den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt hat.
„Sicherer emotionaler Hafen“
Ihr Team ist dann zur Stelle, wenn die Anforderungen des täglichen Lebens den Eltern über den Kopf wachsen und die Kräfte einfach nicht mehr reichen. Sie arbeiten nach dem STEEP-Programm. Das wurde in den USA entwickelt, setzt oft schon während der Schwangerschaft an und hat als zentrales Ziel die Bindung zwischen Eltern und Kind. „Sie prägt den Menschen bis ins Erwachsenenalter und ist mitverantwortlich für die Gestaltung aller späteren Beziehungen“, sagt Heidi Rosenfeld. Die Bindungsperson ist der „sichere emotionale Hafen“ für einen Säugling. Durch Angst, etwa bei Trennung, werde das Bindungssystem aktiviert, durch körperliche Nähe wieder beruhigt. „Und erst, wenn das Bindungssystem beruhigt ist, kann der Säugling die Umwelt erkunden.“
Zurückschauen, um vorwärts zu kommen
Was ist die größte Herausforderung bei ihrer täglichen Arbeit mit problematischen Familien? „Hilfe gelingt nur, wenn man in Beziehung kommt. Und Beziehung braucht Zeit“, sagt Heidi Rosenfeld. Wenn aber Familien gar keinen Hilfebedarf sehen und vom Jugendamt gezwungen werden, sich bei ihnen vorzustellen, sei es schwierig, überhaupt eine Beziehung aufzubauen.
Zurückschauen, um vorwärts zu kommen, so beschreibt Heidi Rosenfeld die Arbeit von AugenBlicke in Kurzform. „Wir fragen die Frauen, was war in eurer Kindheit gut, und was möchtet ihr an eure Kinder weitergeben?“
Viele Widerstände
In seiner Laudatio hat Helge Adolphsen, der ehemalige Hauptpastor vom Michel, hervorgehoben, dass AugenBlicke seit zehn Jahren gegen viele Widerstände und mit erheblichem finanziellen Risiko des Gründerehepaares Rosenfeld ein hervorragendes Beratungs- und Hilfsangebot entwickelt hat. „Mit dem Erfolg, dass vielen Kindern die Trennung von ihren Müttern erspart geblieben ist. Und diese sich gesünder entwickeln konnten als ihre Mütter.“ Aus einem sicheren Job auszusteigen und sich mit AugenBlicke selbstständig zu machen, zeuge von Zivilcourage. „Ein wichtiger Baustein des Yagmur-Erinnerungspreises.“
Einige Jugendämter, hat Adolphsen gesagt, seien regelrecht „Fan“ von AugenBlicke. „Aber es gibt auch andere Jugendämter“, so Adolphsen, „für die müssen Beratungen nach drei Monaten Erfolg haben.“ Dafür aber stehe Heidi Rosenfeld nicht zur Verfügung. „Satt, sauber, trocken – das reicht eben nicht“, sagt die Preisträgerin, die die Auseinandersetzung mit Behörden nicht scheut.
Eltern, die andere aufgegeben haben
Dafür legt sie sich immer wieder ins Zeug. Mit Einzel- und Paargesprächen. Mit Gruppenarbeit, leckerem gemeinsamen Frühstück und Hausbesuchen. Und mit Videofilmen, die den Umgang der Eltern mit ihren Kindern zeigen und die sie sich hinterher gemeinsam anschauen. „Was man sieht, glaubt man auch“, sagt Heidi Rosenfeld.
Sie glaubt an Eltern, die andere schon aufgegeben haben. Wie viele Beziehungsabbrüche sie durch ihre zehnjährige Arbeit verhindert hat, kann sie nicht sagen. Mütter feinfühliger zu machen für die Bedürfnisse ihrer Babys ist keine messbare Größe. Sie hat Hunderten von Müttern und Vätern geholfen, sich in ihre Kinder hineinzuversetzen und deren Bedürfnisse zu verstehen. „Mitgefühl empfinden.“ Sie haben damit schon oft die vorschnelle Abgabe von Kindern in Pflegefamilien verhindert. „Dagegen arbeiten bei AugenBlicke alle an“, hat Helge Adolphsen im Rathaus gesagt. Und darauf darf man sich dann doch schon mal einen Moment in der Schaukel ausruhen.