Hamburg. Im Abendblatt treten die aussichtsreichsten Direktkandidaten der Wahlkreise gegeneinander an. Den Anfang: machen Kahrs und de Vries.

Sie duzen sich, und sie respektieren sich augenscheinlich: Aber als die Direktkandidaten im Bundestagswahlkreis Hamburg-Mitte, Johannes Kahrs (SPD) und Christoph de Vries (CDU), zum Streitgespräch zusammentrafen, ging es nach kurzen Frotzeleien hart zur Sache.

Herr Kahrs, Herr de Vries, eigentlich ist es bei Ihnen beiden doch ganz einfach: Angela Merkel bleibt Bundeskanzlerin, und Johannes Kahrs holt den Wahlkreis Hamburg-Mitte.

Kahrs: Dass ich den Wahlkreis holen möchte, kann ich unterstützen, aber Frau Merkel muss ich nicht noch mal haben. Drei Legislaturperioden reichen.

De Vries: Ich muss auch widersprechen, aber aus entgegengesetztem Grund: Ich bin sehr zuversichtlich, dass Angela Merkel Kanzlerin bleibt. Natürlich ist der Wahlkreis Mitte traditionell rot, aber ich bin hier angetreten, um zu gewinnen, nicht, um auf Platz zu spielen.

Seit 1965 hatte immer die SPD die Nase vorn. Allerdings stand die SPD bundesweit noch nie so schlecht kurz vor einer Wahl da. Packt Sie manchmal die Angst, dass es im Wahlkreis schiefgehen könnte, Herr Kahrs?

Kahrs: Ich finde, ich mache seit 1998 eine gute Wahlkreisarbeit. Ich habe in 19 Jahren 1000 Berlinfahrten veranstaltet und mache pro Jahr 220 Hausbesuche. Viel mehr kann man nicht machen. Wir haben viel für Hamburg durchgesetzt wie das Deutsche Hafenmuseum und die Rückführung der „Peking“. Bundestrend hin oder her – ich bin also ganz zuversichtlich.

Was schätzen Sie an Ihrem Mitbewerber?

De Vries: Herr Kahrs hat es gesagt. Zusammen mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Rüdiger Kruse erhebliche Finanzmittel nach Hamburg zu steuern, um wichtige Projekte wie das Hafenmuseum anzukurbeln – da hat er schon seine Verdienste.

Kahrs: Er ist nicht schüchtern und zeigt klare Kante. Er sagt ja selbst, dass er eher der konservative Teil der CDU ist. Wenn es mehr von seiner Sorte geben würde, wäre die AfD nicht so stark geworden. Und wir hätten weniger Probleme, einen klaren Wahlkampf gegenüber der CDU zu machen.

De Vries: Ja, das sehe ich auch so (beide lachen). Aber im Ernst: Wir sind die größte und erfolgreichste Volkspartei seit Langem. Das sind wir nur, wenn wir breit aufgestellt sind mit Liberalen, Konservativen und Menschen mit Wirtschaftskompetenz.

Herr Kahrs, es ist Ihr sechster Bundestagswahlkampf. Wie viele CDU-Gegenkandidaten hatten Sie?

Kahrs: Sechs, jedes Mal war es ein neuer.

Und ist Christoph de Vries der härteste?

Kahrs: Sein Vorgänger David Erkalp hat auch schon richtig gerödelt. Und ansonsten unterscheidet es sich ehrlich gesagt wenig, was die Aktivitäten angeht.

Johannes Kahrs ist so etwas wie der Platzhirsch in Hamburg-Mitte. Ist er ein fairer Wahlkämpfer, Herr de Vries?

De Vries: Ich habe mich in den letzten Wochen wirklich geärgert, weil der Kollege Kahrs mit falschen Fakten zum Beispiel in Anzeigen Wahlkampf macht. Er behauptet, dass die CDU die Rente mit 70 will, obwohl die Kanzlerin dem widersprochen hat. Er behauptet, wir wollen Steuergeschenke für Reiche, dabei steht in unserem Wahlprogramm, dass wir Entlastungen für alle wollen. Das hat mit Anstand und Fairplay wenig zu tun. Kein anderer SPD-Kandidat macht das.

Kahrs: Ich mache das, weil es in der Sache so ist. Frau Merkel hat gesagt, sie will die Rente mit 70 nicht. Aber Wolfgang Schäuble hat erklärt, die Rente mit 70 komme. Da glaube ich ihm mehr. Ich habe meine Erfahrungen mit Frau Merkel gemacht. Die CDU lässt alles offen.

De Vries: Aber wir haben doch eine klare Beschlusslage. Es gibt keinen Beschluss für die Rente mit 70, und die Kanzlerin hat sich dagegen ausgesprochen. Es gibt auch in der SPD einen breiten linken Flügel, der die Vermögenssteuer rauf und runter fordert. Damit habt ihr schon x Wahlen verloren. Trotzdem stellen wir uns nicht im Wahlkampf hin und sagen, die SPD fordert die Vermögenssteuer.

Kahrs: Sagt doch auch keiner bei uns.

De Vries: Man muss schon ein bisschen anständig bleiben. Das gilt für die Steuererhöhung genauso. Bei uns steht im Wahlprogramm ganz klar: Steuersenkung für alle. Du schreibst auf deine Zettel, dass wir Steuergeschenke für Reiche wollen. So kann man nicht umgehen.

Kahrs: Die CDU will alle entlasten. Aber das führt dazu, dass die Reichen ganz besonders entlastet werden und die Kleinen ganz wenig bekommen. Man muss sich schon angucken, was aufgeschrieben ist, und vor allem, wie das Ergebnis in der Praxis ist. Deswegen bin ich ganz entspannt, weil es stimmt, was ich sage.

Meine Herren! Mitte ist ein besonderer Wahlkreis. Was bewegt die Menschen mit Blick auf die Wahl hier am meisten?

De Vries: Worauf wir sehr häufig angesprochen werden, ist das Thema Zuwanderung und Flüchtlinge. Mitte hat ja einen besonders hohen Anteil von ­Migranten und durch den rot-grünen Senat viele Flüchtlinge gerade in Billstedt. Das andere Thema ist die innere Sicherheit und besonders die Bedrohung durch den islamistischen Terror. Wir brauchen einen starken Staat.

Kahrs: Du bist für einen starken Staat? Das ist ja super.

De Vries: Also, Johannes, mal im Ernst: Wir haben die SPD nach den Terroranschlägen erst dazu bringen können, bestimmte Maßnahmen zu beschließen. Ich erinnere nur an die technische Überwachung von Schwerverbrechern über Messenger-Dienste. Da hat sich deine SPD lange geweigert und ist erst nach dem Anschlag von Berlin zur Einsicht gekommen.

Und Ihre Eindrücke aus dem Wahlkampf?

Kahrs: Ich weiß aus vielen Gesprächen, dass gerade ältere Menschen ein Pro­blem mit dem Thema Pflege haben. Die sagen, die ambulante Pflege funktioniert nicht, es gibt nicht genug Pflegekräfte in den Krankenhäusern, besonders seitdem die CDU sie privatisiert hat. Wir haben einen Pflegenotstand. Wir müssen Pfleger und Krankenschwestern endlich vernünftig bezahlen. Nur so bekommen wir das in den Griff. Das Gleiche gilt für die Kitas und die Gehälter der Erzieher.

Wie polarisiert ist die Stimmung? Treffen Sie häufig auf Wutbürger?

De Vries: Ich erkenne einen Riesenunterschied zwischen analog und digital. Heute Morgen auf dem Markt in Billstedt waren nur freundliche Menschen, keine Pöbeleien. Aber in sozialen Netzwerken sind gerade AfD-Wähler völlig enthemmt und operieren mit Begriffen wie „Volksverräter“ und „Dreckspack“.

Kahrs: Im Kern sehe ich das auch so. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das, was bei Facebook, Twitter und Instagram geschrieben wird, wirklich echt ist. Dahinter steht ein Apparat von Leuten, die einfach schlechte Stimmung machen. Ich befürchte, dass die AfD sehr stark werden wird. Ich erinnere nur an den Aufstieg von Ronald Schill in der liberalen und weltoffenen Stadt Hamburg.

De Vries: Es lohnt sich, mit den Leuten zu reden und zu versuchen, sie ins demokratische Spektrum zurückzuholen. Es gibt auch völlig Irre, die sich losgekoppelt haben von der Gesellschaft und denken, Deutschland geht morgen unter. Die erreichen wir nicht mehr.

Die Große Koalition hat sich für die SPD einmal mehr nicht ausgezahlt. Die Umfragewerte sind im Keller. Die Konsequenz kann für die SPD doch nur sein, die Führungsrolle in der Opposition anzustreben und so zu neuen Kräften zu gelangen, oder?

Kahrs: Das halte ich für Bullshit-Bingo. Wenn diese These stimmen würde, müssten wir die nächste Landtagswahl in Bayern mit 80 Prozent gewinnen, weil wir da über Jahrzehnte in der Opposition Kraft geschöpft haben. Ich glaube, man regeneriert sich am besten in der Regierung. Deswegen finde ich eine Ampel aus SPD, FDP und Grünen mit dem Kanzler Martin Schulz ganz wunderbar.

Wir führen ein Streitgespräch, Herr Kahrs, hier ist doch keine Märchenstunde.

Kahrs: Ich finde, das ist machbar. Die Umfragen sind in den letzten Monaten rauf- und runtergegangen.

De Vries: Für die SPD nur runter.

Kahrs: 40 bis 50 Prozent sind noch unentschieden. Im Endspurt waren wir immer besser als die CDU.

De Vries: Der SPD geht natürlich die Düse, weil sie weiß, dass sie nicht führende Kraft in Deutschland werden wird.

Kahrs: Übermut tut selten gut, Christoph. Wir müssen nicht führende Kraft werden, wir brauchen die Mehrheit.

De Vries: Ich hoffe, dass die SPD überhaupt führende Kraft wird, wenn sie in die Opposition geht, denn so groß ist der Abstand zur AfD nicht mehr. Du hast es selbst angesprochen.

Kahrs: Ohhhhh.

Herr de Vries, ist es völlig egal, mit wem die Union koaliert, Merkel schafft sowieso alle?

De Vries (lacht): Frau Merkel geht auch öffentlich immer sehr fair und anständig mit den Regierungspartnern um. Ich kann mir dieses Phänomen nicht erklären. Sie ist sicherlich eine sehr starke Kanzlerin und sehr präsent.

Was ist Ihnen in der kommenden Legislaturperiode besonders wichtig?

Kahrs: Auf Bundesebene sind es die Bürgerversicherung und die Streichung des Soli, jedenfalls die ersten zehn Milliarden für die unteren Einkommensgruppen. Mein Herz brennt für die Beseitigung des Pflegenotstands. Im Wahlkreis ist mein Ziel ein Sonderprogramm des Bundes zur Sanierung der Sportanlagen zwischen Borgfelde und Billstedt.

De Vries: Ich bin froh, dass die CDU die Familienpolitik ins Zentrum gerückt hat. Ich setze mich dafür ein, dass wir Eltern ermutigen, wieder viele Kinder zu bekommen. Wir wollen Familien steuerlich entlasten und das Kindergeld um 25 Euro pro Monat erhöhen. Im Wahlkreis geht es mir unter anderem darum, die wieder entstandene offene Drogenszene zu bekämpfen.

Gibt es ein Erlebnis, das Sie motiviert hat, in die Politik zu gehen?

Kahrs: 1982 war ich Schulsprecher an einer Schule in Bremen-Nord. Wir hatten die geistig-moralische Wende, weil die FDP mal wieder die Seiten gewechselt hat, und aus Helmut Schmidt wurde Helmut Kohl. Das fanden wir suboptimal und sind zu mehreren in die SPD eingetreten.

De Vries: Ich war immer ein Anhänger der deutschen Einheit, und die CDU war die einzige Partei, die sich bis zum Schluss zu diesem Ziel bekannt hat. Das andere Thema war die europäische Integration. Mein Ziehvater war der CDU-Europapolitiker Wolfgang Kramer, dessen Kurse ich besucht habe und über den ich dann zur CDU gekommen bin. Die europäische Integration ist das erfolgreichste Friedensprojekt, das wir haben.