Hamburg. Das Hamburger Abendblatt fragt freitags die Menschen, worüber sie sich ärgern oder freuen. Teil 16: Katja Doerry.
Katja Doerry wartet vor dem Haupteingang der Universitätsklinik Eppendorf. Hier wird die 31-jährige Hamburgerin in drei Wochen ihren Dienst antreten. Als Assistenzärztin im fünften Ausbildungsjahr in der neuen Kinderklinik des UKE, die im September eröffnet wird. „Sozusagen meine normale Tätigkeit“, sagt sie. Man sieht der jungen Frau die Freude auf ihren neuen Arbeitsplatz an.
Doch zuerst sprechen wir über eine eher unnormale Tätigkeit und eine ganz andere Welt, aus der Katja Doerry gerade wieder nach Hamburg zurückgekehrt ist. Sechs Wochen lang war sie als Ärztin für die Organisation German Doctors in Bangladesch im medizinischen Hilfseinsatz und hat in der Hauptstadt Dhaka große und kleine Patienten behandelt.
Was bewegt Sie gerade, Frau Doerry?
Katja Doerry: Immer noch die Gedanken an die Zeit in Bangladesch. Ich habe noch viele Bilder im Kopf und zahlreiche Erinnerungen an die Menschen und Kollegen, die ich dort getroffen und mit denen ich zusammengearbeitet habe.
Was hat Sie am meisten beeindruckt?
Doerry: Die unglaublich vielen Menschen im Stadtbild. Bangladesch ist eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt. In Dhaka, mit 17 Millionen Einwohnern eine der am rasantesten wachsenden Megastädte auf dem Globus, gibt es kaum noch freies Gelände. Und für die Ärmsten der Armen bleibt kein Platz. 30 bis 40 Prozent der Menschen leben in Elendsvierteln. Manche Slums sind direkt neben den Eisenbahnschienen, das ist unvorstellbar. Alle zehn Minuten braust da ein Zug vorbei. Lärm, Gewusel, Gestank, Verkehr – das sind die Bilder, die mir sofort einfallen.
Wie sieht das Leben in diesen Slums aus?
Doerry: In einer vielleicht acht Quadratmeter großen Hütte leben manchmal sechs Personen. Nicht selten werden Hütten auf Stelzen erbaut, um den Raum über den stinkenden Abwasser-Seen zu nutzen. Unter diesen hygienischen Verhältnissen entstehen zahlreiche Krankheiten. Jeden Tag bin ich mit einem ärztlichen Kollegen und unserem sechs- köpfigen lokalen Team zu einer anderen von insgesamt sieben verschiedenen Slum-Ambulanzen gefahren.
Und dort?
Doerry: Eine der Wellblechhütten haben wir als Praxis benutzt. Wir haben immer alle Medikamente mitgebracht. Das Wartezimmer war immer voll, keinen Meter von den Eisenbahnschienen entfernt und nur durch eine Plane von der Sonne geschützt. Es gab häufig Stromausfall, sodass wir bei 35 Grad ohne Ventilator in der Hütte arbeiten mussten. Für eine bessere Sicht haben wir während der Behandlungen Stirnlampen benutzt. Wir behandeln nicht nur schwere Erkrankungen wie Tuberkulose. Es sind oft die gut behandelbaren Erkrankungen, die vor Ort dramatische Folgen haben können. Zum Beispiel eine Lungenentzündung oder ein Magen-Darm-Infekt.
Welche Krankheiten sind die häufigsten?
Doerry: Hautkrankheiten, chronische Lungenkrankheiten, Infektionskrankheiten. Eine ganz häufige Diagnose ist auch „whole body pain“, also Ganzkörperschmerz. Dahinter steckt meist eine Depression über die gesamte Lebenssituation. Da kann man im Grunde gar nichts machen, weil man ja die Gesamtsituation, in der diese Menschen leben, nicht ändern kann. Man kann ihnen nur ein paar freundliche Worte mit auf den Weg geben. Ich war also nicht in einem akuten Krisen- und Katastrophengebiet tätig, sondern in einer permanenten Katastrophe. Man kann hier niemanden aus dem Elend befreien. Aber das Leben wieder ein bisschen lebenswerter machen – das kann man als German Doctor schon.
Haben Sie auch Erfolgserlebnisse?
Doerry: Ja, etwa wenn ich Menschen, die jahrelang an einer Hautkrankheit gelitten haben, mit einer einfachen Salbe sofort helfen kann.
Andere fahren in ihrer Freizeit an den Strand, warum sind Sie in die Slums gefahren?
Doerry: Weil ich das Gefühl habe, dass ich in meinem Leben schon sehr viel geschenkt bekommen habe. Eine tolle Kindheit, eine tolle Familie. Und dass jetzt der richtige Zeitpunkt gewesen ist, einmal etwas zurückzugeben.
Wie sehr hat sich durch Ihren Aufenthalt in Bangladesch der Blick für die Realität in Hamburg verändert?
Doerry: Das fängt bei den Kleinigkeiten an. Man freut sich sehr, dass warmes Wasser aus der Dusche kommt. Dass man in einem Haus wohnt, in dem Fenster und Türen geschlossen werden können. Außerdem, und das geht wahrscheinlich jedem so, der aus einem ähnlichen Land zurückkehrt: Man fragt sich bei vielen Dingen, über die sich die Leute hier aufregen, mein Gott, ist das jetzt wirklich so ein großes Problem? Ich kenne da nämlich jetzt Menschen auf diesem Globus, die haben ganz andere Sorgen. Die haben zum Beispiel nicht das Geld für die Taxifahrt, um ihr Kind ins Krankenhaus zu bringen, obwohl die Gefahr besteht, dass es den Tag nicht überlebt.
Warum wollen Sie Kinderärztin werden?
Doerry: Das stand für mich schon sehr früh fest. Ich arbeite sehr gerne mit Kindern, weil sie einem eine direkte Rückmeldung geben, weil sie ehrlich sind und weil sie meistens, trotz ihrer Krankheiten, unheimlich fröhlich sind. Das ist in Hamburg nicht anders als in Bangladesch. Man kann Kindern schon mit kleinen Dingen ein Lächeln ins Gesicht zaubern.
Wie machen Sie das?
Doerry: Ich hatte immer Seifenblasen dabei, und wenn ich mich in den Pausen vor das Zelt gesetzt habe, kamen immer 20 oder 30 Kinder angerannt und haben sich über die Seifenblasen gefreut. Mit Seifenblasen kann man Kindern überall auf der Welt ein Lächeln entlocken. Da geht bei mir das Herz auf. Das zaubert dann auch mir ein Lächeln ins Gesicht. Und für einen Moment kann ich die schlimmen Bedingungen um mich herum vergessen.
Welche Erfahrungen nehmen Sie mit aus dem sechswöchigen Aufenthalt?
Doerry: Dankbarkeit darüber, dass ich hier zur Welt gekommen bin. Und die Frage, warum hat jemand entschieden, dass ich in Deutschland zur Welt gekommen bin und nicht in Bangladesch? Wo Frauen ganz, ganz oft auch häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Und auch die Idee, dass ich so etwas wahrscheinlich noch mal machen werde. Aber erst einmal freue ich mich jetzt ganz besonders auf die Arbeit in der neuen Kinderklinik des UKE.