Hamburg. Das Abendblatt fragt immer freitags die Menschen, worüber sie sich ärgern oder freuen. Teil 14: Straßensozialarbeiter René Clair.

Am Vormittag hat René Clair wieder einmal ein Dutzend Gäste in seinem Büro mit der angrenzenden kleinen Küche bewirtet. Es gab Kaffee und Brötchen, Milch und Marmelade. Einmal in der Woche treffen sich hier die Familien aus der Nachbarschaft im Stubbenhof in Neuwie­denthal. Zum Frühstücken und zum Klönen. Es geht um Schönes und um Schulden, um Süchte und um Sehnsüchte. Um die kleinen Probleme des Alltags, und manchmal auch um größere Schicksalsschläge, mit denen die Menschen alleine nicht mehr fertig werden. Und deshalb kommen sie hierher.

Offene Kinder- und Jugendarbeit in Hamburg

René Clair, verheiratet, eine Tochter, ist ein fröhlicher Mann. Seine gute Laune ist ansteckend. Manchmal spricht er so schnell, dass man arg aufpassen muss, an seinen Gedanken dranzubleiben. Der 54-Jährige ist seit 25 Jahren als Sozialarbeiter im Viertel tätig. Er weiß, was die Menschen bewegt. Aber heute geht es einmal um ihn. Denn in dieser Reihe kommen ganz normale Hamburger zur Sprache.

Was bewegt Sie gerade, Herr Clair?

René Clair: Mich hat vor knapp drei Wochen die Rede des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton beim Trauerakt für Altbundeskanzler Helmut Kohl sehr bewegt. „Wir alle werden früher oder später in einem solchen Sarg liegen“, hat er gesagt. Und dass es darum ginge, an etwas teilzunehmen, das größer ist als wir. Das größte Geschenk, dass Kohl hinterlassen habe, sei eine Lektion gewesen: dass es am wichtigsten ist, was wir unseren Kindern hinterlassen. Freiheit, Frieden und Sicherheit, damit sie ihre eigenen Träume verfolgen können. Sie sollen daran glauben können, dass sie Großes erreichen können, indem sie etwas aufbauen – und nicht einreißen. Das hat mich auch deshalb so bewegt, weil es sehr viel mit unserer täglichen Arbeit hier in Neuwiedenthal zu tun hat.

Inwiefern?

Clair: Weil auch ich mich als Straßensozialarbeiter am Ende fragen muss: Was haben wir bewirkt und wo sind die positiven Spuren, die wir hinterlassen? Es geht im Leben eben nicht um Macht, Geld und Einfluss, sondern darum, den Menschen unter die Arme zu greifen. Ihnen eine Perspektive in manchmal sehr schwierigen Lebenslagen aufzuzeigen. Es geht nicht um Alleingänge, sondern um Zusammenarbeit. An solch einer Welt arbeiten wir hier auch.

Wie sieht das konkret aus?

Clair: Wir nehmen die Leute an die Hand. Wir sprechen sie auf der Straße an und warten nicht, bis sie zu uns kommen. Das ist der falsche Plan, das funktioniert nicht. Außerdem führen wir keine Akten. Bei uns läuft nichts hinter dem Rücken der Besucher. Darauf kann sich jeder verlassen, der mit seinen Problemen zu uns kommt. Nur so können wir das Vertrauen aufbauen, das wir für unsere Arbeit brauchen. Prävention ist alles, mit Reaktion erreicht man nichts.

Mit welchen Problemen kommen die Leute?

Clair: Das ist ein weites Feld. Wir sind hauptsächlich für junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren da, sehen das aber nicht so eng. Die Jugendlichen haben Fragen zu Schule und Ausbildung, Konflikte mit den Eltern, Probleme mit Drogen oder Polizei, Schwierigkeiten im Umgang mit Behörden, Schulden und Hartz IV. Wir helfen den Menschen – ohne sie zu entmündigen. Wir haben aber auch die Erwartung, dass Verabredungen eingehalten werden. Wir ­respektieren ganz unterschiedliche Lebensverläufe und Kulturen und wollen jedem seine Würde bewahren.

Vor Jahren galt Neuwiedenthal als sozialer Brennpunkt. Es gab viel Stress mit Jugendgangs. Wie würden Sie den Stadtteil heute beschreiben?

Clair: Als ein Quartier im positiven Sinne. Es gibt hier so etwas wie eine internationale Haltung. Das heißt, egal woher die Menschen kommen, sie sind willkommen, wenn sie sich an die Regeln halten. Es sind aber auch viele Millionen Euro von der Stadt in zahlreiche Einrichtungen und die Sanierung der Wohnhäuser und Grünanlagen geflossen. Und trotzdem gibt es hier Kinder, die kommen zur Welt und haben keine Chance.

Das macht Sie nach wie vor wütend.

Clair: Ja, wenn auch die Gründe der Chancenungleichheit sehr unterschiedliche sind. Was mich außerdem umtreibt, ist, dass einige Politiker meinen, mit der Schaffung der Ganztagsschulen sei die offene Kinder- und Jugendarbeit überflüssig ...

... weil die Kinder ja jetzt am Nachmittag in der Schule betreut werden ...

Clair: ... das Gegenteil aber ist der Fall. Die Kinder und Jugendlichen wollen auch mal frei haben, einfach nur abhängen. Und das ist ihr gutes Recht. Bevor sie das aber irgendwo auf der Straße oder in den Büschen machen, sollen sie lieber zu uns kommen. Das sehen auch alle Fachleute so. Darüber sollten die verantwortlichen Politiker ebenfalls nachdenken, bevor sie weiter Geld und Personal reduzieren, Straßensozialarbeiterstellen abbauen, Häuser der Jugend oder Einrichtungen wie zuletzt das Spielhaus in Sandbek schließen. Unser aller Arbeit sorgt auch für gesellschaftlichen Frieden in den Quartieren der Stadt.

Was macht Neuwiedenthal liebenswert?

Clair: Die Bewohner. Die vielen Ehrenamtlichen. Die Zusammenarbeit der sozialen Einrichtungen. Und dass hier alles so grün ist. Heute ist es so, dass immer mehr Menschen, die vor zehn oder 20 Jahren weggezogen sind, wieder hierher zurückkehren.

Was könnte besser laufen?

Clair: Die Kommunikation mit den Behörden. Es ist absurd, dass man als Bezirksamtsmitarbeiter nicht direkt mit den Kollegen vom Jobcenter telefonieren kann, um im Gespräch auf dem kurzen Dienstweg etwas zu klären, wenn es zum Beispiel um fehlende Unterlagen bei Hilfe suchenden Menschen geht. Stattdessen werden wir an ein Callcenter verwiesen. Mit der Folge, dass uns dann oft nur der Klageweg bleibt. Das wäre völlig überflüssig, wenn man direkt mit den Mitarbeitern reden könnte.

Wie halten Sie das aus, täglich mit Leid, Schulden, Krankheiten und Streitereien zu tun zu haben?

Clair: Manchmal denkt man, das ist alles ein bisschen viel. Aber meine Familie gleicht einiges aus. Und dazu kommt die Musik, ich leite verschiedene Chöre. Ganz wichtig ist auch, dass man die täglichen „Katastrophen“ nicht mit nach Hause nimmt. Das ist sicher keine gute Idee.