2015 kamen fünf mal mehr Flüchtlinge als im Vorjahr. Es gab große Hilfsbereitschaft, Zuspruch, aber auch Kritik. Eine Analyse.
Das Jahr 2015 war noch jung, als in Hamburg der erste flüchtlingspolitische Paukenschlag zu vernehmen war. Am 23. Januar entschied das Verwaltungsgericht der Hansestadt, dass der Umbau des ehemaligen Kreiswehrersatzamts an der Sophienterrasse zu einer Flüchtlingsunterkunft dem Bebauungsplan widerspricht und stoppte alle Bauarbeiten.
Die lautstarken Proteste ließen nicht lange auf sich warten. Sogar der sonst in solchen Dingen eher zurückhaltende Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) ließ es sich nicht nehmen, der Öffentlichkeit – wider besseres Wissens, denn er ist ja selbst Jurist – kundzutun, man werde dieses Urteil auf keinen Fall akzeptieren. Später sollte das Oberverwaltungsgericht das Urteil bestätigen. Bezirksamt und Anwohner einigten sich innerhalb kurzer Zeit geräuschlos auf einen Kompromiss.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts fiel in eine Zeit, in der zwar die Flüchtlingskrise in anderen Teilen der Welt schon einige Jahre vor sich hin waberte, aber das in der Mitte Europas gelegene Deutschland nicht viel davon mitbekam – auch dank des sogenannten Dublin-III-Abkommens, wonach über den Asylanspruch eines Flüchtlings in dem Land entschieden wird, in dem dieser EU-Boden betrat. In jener Zeit war das vor allem Italien.
Kommentar: Flüchtlinge müssen integriert werden
Hamburg hatte daher eher mit dem seit Jahren ungelösten, aber angesichts des Wohlstands der Stadt nicht weiter schmerzenden Problems geringer Abschiebequoten zu tun. Von rund 7000 abgelehnten Asylbewerbern erhielten die meisten – rund 5000 – aus verschiedenen Gründen die Duldung. Insofern schienen die Reaktionen auf das Urteil der Verwaltungsrichter in Sachen Sophienterrasse unverhältnismäßig angesichts des in Hamburg weit verbreiteten Desinteresses am Schicksal von Flüchtlingen.
Allerdings verdeutlichte das Urteil schon damals, was Hamburg in der zweiten Jahreshälfte ausmachen sollte: eine von Herzen kommende Hilfsbereitschaft seiner Einwohner. So gründete sich beispielsweise in Harvestehude kurzerhand eine Bürgerinitiative für Flüchtlinge. Was sich auch zeigte: Die öffentliche Verwaltung war in Teilen überfordert und schwergängig, die Beamten nahmen lieber die Niederlage vor Gericht in Kauf als auf Kritiker zuzugehen und nach Kompromissen zu suchen.
Die eigentliche Flüchtlingskrise begann in Hamburg im Spätsommer
Wann genau der Flüchtlingsstrom anzuschwellen begann, lässt sich an der offiziellen Statistik ablesen. Bis einschließlich Mai pendelte die Zahl der Flüchtlinge, die sich in Hamburg meldeten, um die 2000. Die meisten Asylbewerber stammten aus den Balkanstaaten und hatten kaum Aussicht darauf, dass ihr Asylantrag positiv beschieden würde. Viele von ihnen konnten sich aber darauf verlassen, in der Hansestadt geduldet zu werden.
Einen ersten sprunghaften Anstieg der Flüchtlingszahlen auf 3404 verzeichneten die Behörden im Juni, was zu diesem Zeitpunkt aber offenbar nur wenige beunruhigte. Im Sommer steigt die Zahl der Asylbewerber jedes Jahr, da die Bedingungen der Flucht – beispielsweise über das Mittelmeer – zu diesem Zeitpunkt deutlich günstiger sind als im Winter.
Doch in diesem Jahr war es anders. Die Dynamik hielt an, auch weil die Finanzmittel der Vereinten Nationen für Flüchtlingslager im Libanon und in Jordanien um die Hälfte gekürzt wurden. Zu Hunderttausenden machten sich Flüchtlinge Richtung Europa auf den Weg. Im Juli kamen davon in Hamburg 5709 und im August 6676 an.
Die Zivilgesellschaft reagierte als erstes auf die Herausforderungen
Als Erstes reagierte die Zivilgesellschaft auf den anschwellenden Flüchtlingsstrom. In mehreren Stadtteilen bildeten sich Initiativen, die den staatlichen Aufnahmeeinrichtungen unter die Arme griffen. Unbürokratisch wurde Kleidung gespendet, Essen organisiert, Betreuung sichergestellt. Ein Aufruf des Abendblatts führte beispielsweise dazu, dass sich an einem einzigen Tag etwa 10.000 Hamburger meldeten und spendeten. Weil staatliche Stellen Seife, Hygieneartikel oder Babynahrung nicht heranschaffen konnten, ging mancher Hamburger einfach in die Drogerie und kaufte die Sachen, um sie dann zu spenden. Andere boten Flüchtlingen an, bei ihnen zu übernachten, damit sie ein Dach über den Kopf hatten. Wieder andere kümmerten sich um Flüchtlingskinder oder unterstützten Asylbewerber bei Behördengängen. Alles freiwillig und ohne Bezahlung.
Die positive Stimmung in der Stadt war in jenen Tagen mit der Hand zu greifen. Abseits von politischen Debatten zählte allein die Tat. Die Hilfsbereitschaft kannte kaum Grenzen. Auseinandersetzungen gab es dagegen in der Politik. Der Bezirksamtsleiter von Mitte, Andy Grote (SPD), bemängelte beispielsweise die mangelnde Kommunikation zwischen seinem Amt und der Innenbehörde. Anlass war die Entscheidung, ohne Rücksprache 500 Flüchtlinge auf einem ehemaligen Parkplatz der Internationalen Gartenschau unterzubringen.
Auch wenn das aus heutiger Sicht eher kleinkariert wirkt, so warf diese Debatte ein Schlaglicht auf die mangelnde Zusammenarbeit der Behörden in jenen Tagen. Zwar traf sich in regelmäßigen Abständen eine sogenannte Lenkungsgruppe, in der unter anderem die sieben Bezirksamtsleiter sowie die Staatsräte aller Behörden über die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen berieten.
Andererseits galt vor allem die Zusammenarbeit zwischen der Sozial- und der Innenbehörde in den Sommermonaten, als die Flüchtlingskrise sich fast täglich verschärfte, von Eitelkeiten und Missmanagement geprägt. Das hatte mit den unterschiedlichen „Behördenkulturen“ zu tun, aber auch eine strukturelle Ursache: Die Innenbehörde musste sich um die Erstaufnahme von Asylbewerbern und die Sozialbehörde um die Folgeunterbringung von Flüchtlingen kümmern. Der Streit ging zulasten der Flüchtlinge, wie auch die Opposition kritisierte.
Die Sozialdemokraten lehnten lange Zeit einen Flüchtlingskoordinator ab
Beispielhaft für das teilweise zögerliche Verhalten des SPD-geführten Senats war das Ringen darum, ob Hamburg einen Flüchtlingskoordinator benötigt oder nicht. Die Vorsitzende der oppositionelle FDP-Bürgerschaftsfraktion, Katja Suding, forderte bereits Anfang August einen Integrationsbeauftragten mit direktem Zugang zum Ersten Bürgermeister Olaf Scholz. Es sollte jedoch bis zum 11. Oktober dauern, bis die Staatsräte den 56-jährigen Volkswirt und langjährigen Leiter des Amtes für Zentrale Dienste in der Sozialbehörde, Anselm Sprandel, ins Amt des Flüchtlingskoordinators beriefen.
Bis dahin hatte die Flüchtlingskrise allerdings schon dramatische Ausmaße angenommen. Im September kamen 10.100 Flüchtlinge nach Hamburg, im Oktober sollten es 10.437 werden. Zählt man die 9588 Flüchtlinge im November hinzu, summiert sich die Gesamtzahl der Asylbewerber, die sich in Hamburg meldeten, in den ersten elf Monaten dieses Jahr auf 55.046. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2014 lag deren Zahl bei 11.475. Man kann also von einer Verfünffachung sprechen.
Die ersten Flüchtlinge ziehen ein
Was dieser massive Anstieg bedeutete, lässt sich an einem Beispiel illustrieren: den finanziellen Ausgaben für Flüchtlinge im September. Für sechs Standorte gab der Senat allein in diesem einen Monat fast 50 Millionen Euro aus. Darunter war die Fläche der Erstaufnahmeeinrichtung am Bargkoppelstieg, für die die Stadt 12,75 Millionen Euro überwies. 1500 Schlafplätze in einem festen Gebäude und in Wohncontainern wurden dort geschaffen. Die Einrichtung an der Friesenstraße mit 600 Plätzen kostete 11,5 Millionen Euro, das frühere Monteurwohnheim an der Eiffestraße 11,1 Millionen Euro.
Vom Frühherbst an spielte aber Geld keine Rolle mehr. Anfang September beschloss die Bürgerschaft, die für dieses Jahr vorgesehenen Ausgaben für die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen zu verdoppeln. Statt rund 152 Millionen Euro wurden etwa 300 Millionen Euro bewilligt. Einige Wochen später wurden die Ausgaben für 2015 und 2016 auf rund 570 Millionen Euro erhöht. Zum Vergleich: 2015 sind für die Kinderbetreuung rund 662 Millionen Euro vorgesehen.
Bürgermeister Olaf Scholz betonte wiederholt, dass Hamburg aufgrund der zusätzlichen Ausgaben für Flüchtlinge keine Schulden machen müsse. Dahinter steckt seine strategische Entscheidung, dass die Flüchtlingskrise das „normale“ Leben der Hamburger nicht beeinträchtigen soll. Deshalb werden in der Hansestadt – anders als beispielsweise in Berlin – Flüchtlinge nicht in Turnhallen untergebracht. Weder der Schulsport, noch die Hunderte Sportvereine sollen durch Flüchtlinge beeinträchtigt werden. Diese Strategie dürfte mit dazu beigetragen haben, dass die Flüchtlinge in Hamburg nach wie vor willkommen sind.
Trotzdem änderte sich die Stimmung in der Stadt im Herbst merklich, aber ohne sich gegen die Neuankömmlinge zu richten – anders als beispielsweise in Sachsen. Während die Bereitschaft vieler Menschen ungebrochen blieb, Asylbewerbern zu helfen, wuchs der Unmut über die Verwaltung. Ehrenamtliche Helfer beklagten wiederholt, sie fühlten sich nicht ausreichend unterstützt.
Flüchtlinge: Impressionen aus Hamburg und Europa
Die Stimmung in der Stadt änderte sich im Herbst – Ärger über Behörden
In den Stadtteilen wiederum wuchs der Ärger über das unabgesprochene Vorgehen der Behörden bei der Errichtung von Flüchtlingsunterkünften in Wohngebieten und Grünanlagen. Gleiche mehrfach erfuhren Nachbarn erst von den Plänen der Verwaltung, als mit dem Aufbau der Flüchtlingsunterkunft begonnen wurde. Interessen von Anwohnern und deren Bereitschaft zur Mitwirkung wurden, so schien es, kaum berücksichtigt.
Bezeichnend war die Klage, dass Anwohner auf den Informationsveranstaltungen in den Quartieren von den Behördenvertretern zumeist vor vollendete Tatsachen gestellt oder in Sitzungen von Bezirksversammlungen gar als ausländerfeindlich diffamiert wurden. Gespräche mit Bürgerinitiativen wurden zumeist erst dann geführt, wenn diese vor Gericht klagten.
Die Politik bemühte sich gar nicht erst darum, das schönzureden. Man könne über das Wie der Integration sprechen, aber nicht darüber, wo Flüchtlingseinrichtungen angesiedelt und wie viele Flüchtlinge darin untergebracht würden, sagte SPD-Fraktionschef Andreas Dressel. Hamburgs Flüchtlingskoordinator Anselm Sprandel erklärte, er sei nicht bereit, sich mit den Bürgerinitiativen auf einen „Teppichhandel“ einzulassen.
Ausdruck dieser Entfremdung zwischen Bürgern und Verwaltung war die in den letzten Wochen des Jahres zunehmende Bedeutung von Verwaltungsrichtern. Sie sind in den Augen so mancher Hamburgerinnen und so mancher Hamburger inzwischen die letzte Instanz, an die sie sich wenden können, um Gehör zu finden.
Gleich drei Mal entschied das Verwaltungsgericht im Herbst, dass die Errichtung von Flüchtlingsunterkünften allein auf der Grundlage des Gesetzes über Ordnung und Sicherheit (SOG) gegen geltendes Recht verstößt. Die Stadt habe in jedem Fall das Baurecht zur berücksichtigen, auch wenn dieses nach seiner Änderung im Oktober großzügige Ausnahmen beim Bau von Flüchtlingsunterkünften zulasse, urteilten die Richter.
Die Stadt plant einzigartiges Programm: 5600 Wohnungen für Flüchtlinge
Das wird die Stadt vor allem bei dem Wohnungsbauprogramm beachten müssen, das bislang einzigartig in Deutschland ist. Um Asylberechtigten, die aller Voraussicht nach dauerhaft in Hamburg bleiben werden, eine langfristig angelegte Unterkunft anbieten zu können, will die Stadt innerhalb von ein bis zwei Jahren rund 5600 Sozialwohnungen für Flüchtlinge errichten. Zuständig dafür ist die Stadtentwicklungsbehörde.
Die Wohnungen werden im Standard von Sozialwohnungen errichtet, aber zunächst als Flüchtlingsunterkünfte deklariert. Damit nutzen die Beamten die Ausnahmeregelungen im Baurecht, die Flüchtlingsheime privilegieren. Später, in etwa drei Jahren, sollen diese Unterkünfte in „normale“ Wohnungen umgewandelt werden. Dieses Vorgehen, das von Befürwortern als „alternativlos“ beschrieben wird, hat für die Behörde gleich mehrere Vorteile. Zum einen dürfen in Flüchtlingsunterkünften im Durchschnitt doppelt so viele Menschen untergebracht werden als in Sozialwohnungen. Zum anderen können die Beamten auf Flächen zugreifen, zum Beispiel Naturschutzgebiete, die für Wohnungsbau normalerweise tabu sind.
Nicht zuletzt, das kristallisierte sich in den vergangenen Wochen als Ursache für wachsenden Unmut in der Nachbarschaft heraus, kann die Stadt die sonst üblichen und umfangreichen Mitspracherechte der unmittelbaren Anwohner umgehen. Daran ändert auch die Zusage wenig, dass normale Bebauungsplanverfahren in den kommenden Jahren „nachgereicht“ werden sollen. Kritiker verweisen darauf, dass dann bereits auf Jahrzehnte hinaus gültige Tatsachen geschaffen worden seien.
Kritik an diesem Vorhaben entzündete sich auch an der hohen Belegungsdichte. Ursprünglich sollten die 5600 Wohnungen für bis zu 23.000 Flüchtlinge in sieben, auf die Bezirke verteilten, größeren Unterkünften entstehen. Der Stadtsoziologe Prof. Jürgen Friedrich warnte vor der Gefahr von Getto-Siedlungen. Dort würde die Integration der Neuankömmlinge sehr erschwert. Inzwischen deutet sich an, dass die Stadt deutlich kleinere Wohnsiedlungen errichten will.
Bürgerinitiativen engagieren sich in mehreren Stadtteilen
In mehreren Stadtteilen haben sich inzwischen Bürgerinitiativen gebildet, die mit konkreten Integrationsangeboten auf die Behörden zugehen, sich aber dagegen wehren, dass Hunderte Flüchtlinge an einzelnen Standorten ohne Rücksicht auf die Interessen der Anwohner untergebracht werden sollen. Da ist ein politisches Bewusstsein entstanden, das beides will: Integration und gute Nachbarschaft.
Die Regierungsparteien reagieren auf diese Initiativen bislang mit Hinhalten. So verkündeten SPD und Grüne nach einem Gespräch mit Vertretern der Bürgerinitiative „Gemeinsam in Poppenbüttel“, die Bürger hätten die Aufstockung der Flüchtlingsunterkunft von 170 auf 300 Wohneinheiten akzeptiert. Das war mitnichten so. Bei einem Treffen mit Vertretern der Bürgerinitiative Neugraben-Fischbek wiederum lehnte Sozialsenatorin Melanie Leonhard die Reduzierung der Unterkunftsplätze im Süden ab. „An der Platzzahl ändern wir nichts“, sagte ihr Sprecher.
Das letzte Wort dürften in einigen Fällen die Verwaltungsrichter haben. In Klein Borstel muss das Verwaltungsgericht entscheiden, ob die Errichtung einer Unterkunft für 700 Flüchtlinge auf dem Gelände des Anzuchtgartens des Ohlsdorfer Friedhofs gegen den Bebauungsplan verstößt. In Lemsahl-Mellingstedt wies das Oberverwaltungsgericht am Tag vor Weihnachten eine Beschwerde der Stadt gegen einen Belegungsstopp für die Unterkunft Fiersbarg zurück. Und so endet das Jahr, wie es begonnen hat – mit einem Richterspruch.