Hamburg. 80.000 Flüchtlinge muss sie 2016 unterbringen. Dazu ist Hamburgs Sozialsenatorin (SPD) jedes juristische Mittel recht. Ein Interview.
Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) ist noch keine drei Monate im Amt. Als Nachfolgerin von Detlef Scheele (SPD), der zur Bundesagentur für Arbeit gewechselt ist, hat sie jedoch keine Chance auf die übliche 100-Tage-Schonfrist. Sie ist für das größte Thema der Stadt verantwortlich: die Flüchtlinge. Die Deutsche Presse-Agentur sprach mit ihr über Herausforderungen:
Bis Ende 2016 wird in Hamburg mit bis zu 80.000 Flüchtlingen gerechnet. Kann die Stadt das alles bewältigen?
Melanie Leonhard: Wir haben es mit einer Dimension zu tun, die wir bisher nicht kannten. Wir betreiben inzwischen mehr als 120 Einrichtungen in der Erst- und Folgeunterbringung. Doch wenn man die zugegebenermaßen nicht gut gelaufenen Fälle mit all den anderen vergleicht, dann kann man getrost sagen: Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst wie auch die Ehrenamtlichen leisten wirklich Großartiges.
Warum ist die Suche nach Unterkünften so kompliziert?
Leonhard: In Stadtstaaten ist es viel schwieriger Flächen zu finden. Wir dürfen ja nicht in Konkurrenz zum normalen Wohnungsbau geraten, weil wir sonst Schwierigkeiten an einer anderen Stelle schaffen, die wir gar nicht gebrauchen können. Und die Probleme enden auch nicht damit, dass es Anwohner gibt, die Unterkünfte nicht nur in der vorgeschlagenen Größe ablehnen, sondern überhaupt keine Flüchtlinge in ihrer Nachbarschaft haben wollen.
Wo gibt es noch Probleme?
Leonhard: Hinzu kommen schlicht praktische Schwierigkeiten, Container, Zelte, Betten oder Schlafsäcke zu bekommen. Im August sind über 6000 Menschen nach Hamburg gekommen, im September, Oktober und November waren es jeweils mehr als 10 000. Und da das in anderen Bundesländern nicht anders ist, ist die Konkurrenz um die notwendigen Dinge hoch. Und leider ist es nicht so, dass sich der Markt auf die Nachfrage eingestellt hätte. Da werden dann auch mal Container geliefert, die trotz anderslautender Zusicherung nicht deutschem Recht entsprechen.
Sie meinen die Container aus China, die inklusive aller Nebenkosten mit 31 Millionen Euro Miete zu Buche schlagen, aus Brandschutzgründen aber gar nicht genutzt werden können?
Leonhard: Ja, die Container erfüllen zwar nach der Papierlage alle Anforderungen. So haben wir sie auch bestellt. Doch als die Feuerwehr sie sich angesehen hat, wurde festgestellt, dass sie mangelhaft sind. Nun müssen wir klären, wer ist dafür verantwortlich, lässt sich Ersatz beschaffen, können die Container nachgerüstet werden? Das sind eigentlich normale Dinge, die auch nicht problematisch wären, müssten deshalb nicht Hunderte Menschen noch länger in der Erstaufnahme bleiben. Ohne Nachrüstung können wir die Container jedoch nicht einsetzen: Denn es steht im Raum, dass sie im Falle eines Brandanschlags möglicherweise nicht sicher sind.
Mit der Zahl der neu ankommenden Flüchtlinge steigt nicht nur der Bedarf in der Erstunterbringung, für die die Innenbehörde zuständig ist. Auch auf Ihre Behörde, die für Folgeunterkünfte verantwortlich ist, wächst zeitversetzt der Druck.
Leonhard: Wir können ziemlich genau berechnen, wie viele Plätze wir brauchen. Derzeit befinden sich 18.000 Menschen in der Erstaufnahme, die von uns untergebracht werden müssen. Deswegen fällt es uns auch so schwer, Abstriche zu machen, wenn es in Gesprächen mit Anwohnern um die Frage geht, reichen nicht 500, 300 oder gar 150 Plätze? Auch das Argument, dass nicht so viele Flüchtlinge wie zuletzt kämen, zieht nicht. Die Notwendigkeit an Plätzen bezieht sich auf jene Menschen, die schon in Hamburg sind.
Bei den geplanten Wohnsiedlungen für Flüchtlinge wird immer wieder gesagt, dass das einmal normale Sozialwohnungen werden sollen. Das scheint eher auf Hoffnung als auf Fakten zu fußen.
Leonhard: Auch da gibt es Erfahrungswerte. Etliche Flüchtlinge verlassen die Stadt, sobald sie anerkannt sind. Sie wechseln dann zu Verwandten und Bekannten in anderen deutschen Städten oder gleich in andere EU-Staaten. Gerade bei Syrern, Afghanen, Irakern und Iranern kennen wir das. Hinzu kommt, dass Flüchtlingswohnungen deutlich dichter belegt werden als Sozialwohnungen. Somit findet auch eine Fluktuation aus den Vierteln heraus statt, wenn Bewohner anerkannt werden und in eine eigene Wohnung ziehen. Gleichwohl ist es so, dass es Menschen geben wird, die dort erst im Rahmen der öffentlichen Unterbringung leben, um dann als Sozialwohnungsmieter zu bleiben.
Es hat den Anschein, dass Anwohner klagefreudiger werden. Teilen Sie die Einschätzung?
Leonhard: Ja, es stimmt. In zwei Verfahren ist die Stadt zuletzt vorerst unterlegen. Davor hatten Gerichte aber mehrfach zugunsten Hamburgs entschieden. Das wird gern vergessen. Insgesamt steht das Ganze also noch in einem ausgewogenen Verhältnis. Grundsätzlich ist es aber so, dass jeder Mensch das Recht hat, Gerichte anzurufen. Das macht es für uns nicht einfacher, kann man aber schlecht kritisieren.
Einen glücklichen Eindruck machen Sie aber auch nicht gerade.
Leonhard: Was ich für meine Arbeit zunehmen problematisch empfinde ist, dass wir es in Hamburg immer wieder mit Entscheidungen zu tun gehabt haben, bei denen Gerichte neue bundesgesetzliche Regelungen unserer Ansicht nach nicht ausreichend anerkannt haben. Doch jeder, der sich mit dem Wohnungsbau befasst, weiß, dass das normale Baurecht so viele Klage- und Einspruchsmöglichkeiten zulässt, dass 10 bis 15 Jahre vergehen können bis auch nur ein einziges Haus steht - insbesondere in Stadtteilen, in denen es bisher noch nicht so viele Unterkünfte gibt. Das ist zunehmend schwierig für uns als Stadt.
Manche Anwohner beklagen, dass sie durch das Polizeirecht und die neuen Gesetzen von einer Mitbestimmung abgeschnitten werden.
Leonhard: Das hat damit nichts zu tun. Auch ein Verzicht auf die für den Bau von Flüchtlingsunterkünften geschaffenen Rechtsmittel würde die Zahl der Klagen nicht verringern. Denn so lange die Gemengelage so ist, dass Einzelne sich nicht hinter einem Kompromiss versammeln können oder wollen, so lange ist man nicht vor einer Klage geschützt.
Also was tun?
Leonhard: Ich bestehe als Sozialsenatorin darauf, dass wir alle Stadtteile gleichermaßen in die Verantwortung nehmen. Deswegen werde ich auch jede Beschwerdeinstanz ausschöpfen, die sich mir bietet. Wir müssen das so machen, wenn wir es ernst meinen mit der stadtweiten Verteilung von Flüchtlingen.
Wären nicht Vergleiche besser, etwa wie er bei der inzwischen fast fertigen Flüchtlingsunterkunft im vornehmen Harvestehude?
Leonhard: Derartige Kompromisse sind kaum mehr möglich. Die Gerichte schlagen keine Vergleiche mehr vor. Sie sagen nur noch ja oder nein. Außerdem wird es das auch deshalb kaum mehr geben, weil auch die Kläger nicht mehr sagen, wir sind mit dem Bau einverstanden, sofern die Belegung geringer ausfällt. Einzelne in den Klägergruppen sagen schlicht, wir wollen gar keine Flüchtlingsunterkunft.
Ehrenamtliche tragen in erheblichem Maße zum Funktionieren des Flüchtlingssystems bei. Dafür werden sie stets gelobt. Gleichzeitig haben einige das Gefühl, als billige Helfer missbraucht zu werden.
Leonhard: Nach der dramatischen Lage im Sommer, wo tatsächlich Ehrenamtliche teilweise staatliche Aufgaben übernommen haben, haben wir alle Pflichtaufgaben Fachkräften übertragen. Gleichwohl gibt es ein weites Spektrum von ehrenamtlichem Engagement, das man nie durch den Staat ersetzen könnte - und auch nicht sollte. Denn das ist ja schon der erste Integrationsaspekt, dass sich Bürger darum kümmern, wie man den Alltag von Flüchtlingen einfacher und besser gestalten kann. Umgekehrt ist es auch für die Flüchtlinge wichtig, Kontakte in den Stadtteil zu bekommen und nicht nur zu den Mitarbeitern ihrer Unterkunft. Integration findet außerhalb der Unterkünfte statt.
Es gibt mehrere Programme zur Integration der Flüchtlinge, sei es in den Arbeitsmarkt, sei es zum Erlernen der Sprache oder für die Schule. Wie sieht es mit den Kleinkindern aus?
Leonhard: Die Integration in die Kitas läuft gut. Sprachbarrieren sind kein großes Problem, weil in Hamburg schon immer Kinder aus unterschiedlichsten Ländern leben. Thema sind vielmehr die Mütter. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sie sich nur ganz schwer von ihren Kindern trennen können. Da gibt es echte Verlustängste. Das ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, was die Frauen mitgemacht haben und welch große psychische Anstrengung es für sie sein muss, das Kind auch nur für wenige Stunden abzugeben. Derzeit versuchen wir die Mütter deshalb in die Mutter-Kind-Zentren zu bringen, damit sie dort zunächst gemeinsam mit ihrem Kind erfahren können, was in den direkt angeschlossenen Kitas passiert.
Jüngstes Mitglied der Hamburger Regierung
Melanie Leonhard ist mit 38 Jahren das jüngste Mitglied in der Regierungsmannschaft von Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) und auch noch keine drei Monate im Amt. Sie hat mit dem Ressort Arbeit, Soziales, Familie und Integration den derzeit wohl wichtigsten und schwierigsten Senatorenposten in der gesamten Landesregierung inne - muss sie sich vor allem um die Unterbringung und Integration der mehreren Tausend Flüchtlinge kümmern.
Die gebürtige Hamburgerin gilt als Sozialexpertin, machte sich unter anderem noch als Abgeordnete im Untersuchungsausschuss zum Fall Yagmur einen Namen. Die Mutter eines Sohns wurde 2004 erstmals in die Bezirksversammlung Hamburg-Harburg gewählt, ehe sie 2011 in die Bürgerschaft einzog.