Hamburg. Verfassungsschutz warnt vor zunehmenden Koranverteilungen. Pädagogen für präventive Aufklärungsarbeit fehlen.
Die drei Gestalten hinter dem Tapeziertisch sind jung, 15 Jahre, 16 vielleicht. Ihr Bart wächst noch dürr um das Kinn, sie recken Bücher in die Hitze, pflücken Gleichaltrige aus dem Passantenstrom. „Guten Tag, komm ruhig näher“, sagen sie, wenn der Blickkontakt erwidert wird.
Der edle Koran werde hier verteilt, wie sie sagen. Sie plaudern ein wenig: über den Islam, die einzig wahre Religion, über ihren Propheten Mohammed, dem sie nacheifern. Die Koranstände sind ein Schauspiel, das sich inzwischen in jeder Woche in Hamburg ereignet. Unter Sicherheitsbehörden gelten die Verteilungen als Menschenfängerei, als Rekrutierungspunkt für zukünftige Dschihadisten.
Der Hamburger Verfassungsschutz ist alarmiert. „Salafisten organisieren mittlerweile nicht nur sonnabends, sondern in manchen Wochen auch freitags oder an anderen Tagen diese Stände“, sagt Amtsleiter Torsten Voß. „Es gab Wochen, in denen wir vier oder fünf Info-Stände hatten.“ Seit 2012 schätzt der Geheimdienst die Zahl insgesamt auf mehr als 200 dieser Aktionen. Allein 2014 waren es bereits 50 solcher Stände, die angemeldet wurden. Dazu kommen Verteilaktionen ohne Stand, für die keine Genehmigungen erforderlich sind.
Vor allem zwei Gruppen sind es, die bei den Koranverteilungen mitmischen. Neben dem „Deutschsprachigen Islamkreis im Norden“, der hinter der „Lies-Kampagne“ steckt, nennt der Verfassungsschutz die Gruppe „Siegel der Propheten“. Zudem gibt es mit „Hamburg Dawah Movement“ und „Jesus im Islam“ zwei weitere salafistische Gruppen, die in der Stadt missionieren.
Die Aktivitäten sind klar auf den Bereich Hamburger Innenstadt fokussiert – bis Ende Juni organisierten die jungen Männer allein im Bezirk Mitte 54 Stände. 26 sind schon genehmigt, sechs Anträge bis Ende August liegen vor. Auch das Bezirksamt Mitte stellt fest: Die Koranstände werden mehr.
Für den Verfassungsschützer Voß ist eindeutig, dass es sich um eine gefährliche Entwicklung handelt. „Diese Stände sind keine harmlosen Info-Stände, sondern sie sind salafistisch geprägt – es sind Islamisten, die versuchen, über die Koranverteilung vor allem mit jungen Leuten ins Gespräch zu kommen“ Einige Hamburger Dschihadisten, die später in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind, standen nach den Erkenntnissen der Behörden zuvor selbst hinter den Tapeziertischen oder gelangten so in die radikale Szene. Und doch sind Polizei und Geheimdienst machtlos: Sofern sie den Koranverteilern keine Verfassungsfeindlichkeit nachweisen können, gilt in Deutschland Meinungsfreiheit. Auch direkte Verbindungen zwischen Terrorgruppen wie dem „Islamischen Staat“ und den Koranverteilern in der City konnte bisher keine Behörde nachweisen.
Mittlerweile sind 270 gewaltbereite Salafisten in Hamburg ausgemacht (siehe unten). Die Szene hat eine klare Struktur und eine Zielgruppe. „Es handelt sich um vorwiegend jüngere Erwachsene, die aus vielerlei Gründen Brüche in ihrer Biografie haben, Stress zu Hause, in der Familie, in der Schule oder am Arbeitsplatz, die auf die eine oder andere Weise nicht in der Gesellschaft angekommen oder verankert sind“, sagte Voß. Salafisten bieten ihnen Orientierung und scheinbar einfache Antworten auf Konflikte im Leben. Deshalb sei es wichtig, präventive Arbeit dagegenzusetzen, auch unter Einbindung von Religionsvertretern. Eine Einschätzung, die auch Experten außerhalb des Geheimdienstes teilen.
Mit einem neuen Beratungsnetzwerk startet der Senat nun eine groß angelegte Offensive und gewann dafür mit dem Bremer André Taubert einen hochangesehenen Islamismusexperten. Nach zähen Verhandlungen sind alle großen muslimischen Verbände und die alevitische Gemeinde in die Präventionsarbeit eingebunden – bundesweit ist das einzigartig. Zudem engagieren sich Vereine und Ehrenamtliche in dem Netzwerk. Die zentrale Beratungsstelle „Legato“ dient als Ansprechpartner für Muslime und deren Angehörige. Stehe die Ausreise eines jungen Menschen in den Dschihad bevor, oder sei er schon ausgereist, habe das oberste Priorität, sagt Petra Lotzkat, Leiterin des Amtes für Arbeit und Integration der Sozialbehörde.
Noch sind die Experten der Beratungsstelle jedoch nicht voll einsatzbereit. „Derzeit wird das Team aufgebaut“, sagt Petra Lotzkat. 3,75 Stellen sind vorgesehen, von denen aktuell nur 1,25 Stellen besetzt sind. „Wir suchen nach Sozialpädagogen, doch der Markt ist leer gefegt“, sagt Lotzkat. Dies liege vor allem daran, dass Fachkräfte in die Betreuung der großen Zahl von Flüchtlingen eingebunden sind. Wann die avisierten Stellen besetzt werden, sei derzeit noch nicht absehbar.