Während ihre Eltern Gülcin und Celal den Prozess um den mutmaßlichen Mörder ihres Sohnes Diren vor Ort verfolgen, halten sich die Schwestern des getöteten 17-Jährigen in Hamburg per Livestream auf dem Laufenden.

Sternschanze/Missoula. Im Prozess gegen den Todesschützen von Diren kommt es wohlmöglich noch am heutigen Mittwoch zu einem Urteil. Der damals 17-jährige Hamburger war während seines Schüleraustauschs am 27. April dieses Jahres in der US-Stadt Missoula erschossen worden, nachdem er nachts in eine offen stehende Garage eingedrungen war. Nachdem die Verteidigung am Montagmittag (Ortszeit) überraschend verkündet hatte, sie habe keine weiteren Zeugen mehr, wurden am gestrigen Dienstag die Schlussplädoyers gehalten. Die Beratungen der Jury dauerten bei Redaktionsschluss noch an.

Direns Mutter, Gülcin Dede, schluchzte, als Staatsanwältin Karla Painter Fotos von der Garage zeigte, wo der junge Mann starb. Direns Vater, Celal, legte seinen Arm um seine Frau, um sie zu stützen. Die Anklägerin betonte in ihrem Schlussvortrag , dass der angeklagte Markus K. Tage vor der Tat Nachbarn gewarnt habe, dass er jemanden verletzen werde, er habe nach Rache getrachtet, nachdem in seinem Haus eingebrochen worden war. „Diren war ein Teenager, der Fehler machte, die Teenager machen. Aber er wurde gewaltsam hingerichtet“, sagte Karla Painter Gerichtsreportern zufolge. Der Schütze habe ein „unbewaffnetes Kind“ erschossen. Außerdem habe es im Geständnis des Angeklagten Widersprüche gegeben. „War tödliche Gewalt nötig?“, fragte Painter und bat die Geschworenen um einen Schuldspruch.

Nach einer kurzen Pause hielt Verteidiger Paul Ryan ebenfalls sein Abschlussplädoyer, er forderte Freispruch. Der 17-jährige Diren habe „nichts Gutes im Schilde geführt“, sagte Ryan. Der Schütze habe nach den zwei Einbrüchen um das Leben seines zehn Monate alten Babys gefürchtet, als der unbewaffnete Teenager in jener Nacht die fremde Garage betrat. Ryan bezog sich nochmals auf die „Castle Doctrine“, die sogenannte „Schloss-Doktrin“, die im US-Staat Montana den Schutz des eigenen Hauses rechtfertigt – im Notfall auch mit tödlicher Gewalt.

Für die Ankläger gab es von Anfang an keinen Zweifel: Der 30 Jahre alte Angeklagte habe den Jungen regelrecht in die Falle gelockt, ihn in der Garage beobachtet, sogar Fotos gemacht. In der Sekunde, bevor die Schüsse fielen, soll die Lebensgefährtin des Angeklagten „Showtime“ gerufen haben. „Notwehr ist absurd.“

Direns Schwestern verfolgt Prozess im Livestream

Die Schwestern von Diren verfolgen den Prozessverlauf stets von zu Hause aus. Wenn morgens um 8 Uhr in Missoula die Verhandlungen beginnen, loggt sich Basak Dede auf der Webseite der örtlichen Zeitung ein und verfolgt im Livestream die Mitteilungen, die Journalisten oft im Sekundentakt aus dem Prozess um ihren Bruder Diren twittern. Parallel dazu liest sie die Kommentare der Facebook-Gruppe, der sie mit ihrer Schwester Esra und einigen Freunden angehört. Eine Freundin von Diren, die gerade einen Schüleraustausch in Florida macht, und zwei weitere Freunde in Hamburg übersetzen dort die Tweets ins Deutsche.

Wenn der Prozess beginnt, ist es Nachmittag in Hamburg. Wenn er endet, mitten in der Nacht. „Ich kann ohnehin nicht schlafen“, sagt Basak. Die 22-jährige Erzieherin hat gerade Urlaub. Da ist es nicht schlimm, wenn sie bis in die frühen Morgenstunden im Internet mitfiebert. Esra, 19, studiert im ersten Semester auf Lehramt und braucht den Schlaf. Um dennoch jeden Tag nach Prozessende mit den Eltern in den USA telefonieren zu können, stellt sie sich den Wecker.

Viel Hilfe und Anteilnahme von Verwandten

Gülcin und Celal Dede sitzen jeden Tag im Gerichtssaal, konfrontiert mit dem Anblick des Mannes, der ihren Sohn erschossen hat. Auf ein Zeichen der Reue oder des Bedauerns haben sie bei Markus K. bislang vergeblich gewartet. „Einmal, am ersten Prozesstag, hat er sogar in die Kamera gelacht. Das fand ich unglaublich frech“, sagt Basak. Dass ihre Eltern trotzdem die Kraft haben, dem Prozess jeden Tag aufs Neue beizuwohnen, macht die Schwestern stolz. „Was Mama und Papa hilft, ist die große Anteilnahme, die die Menschen in Amerika ihnen entgegenbringen“, sagt Esra. Jeden Tag erhielten sie Briefe, die ihr ins Hotel oder an die Staatsanwaltschaft geschickt werden. Auf der Straße und im Restaurant sprächen ihnen Leute ihr Beileid aus. Die Gasteltern von Diren, die schon bei dessen Beerdigung im türkischen Bodrum waren, weichen nicht von ihrer Seite.

Während die Schwestern erzählen, sitzen sie bei Stenzel am Schulterblatt – das heimelige Café ist fast ihr zweites Zuhause. Basak jobbt hier seit sechs Jahren, Mutter Gülcin stand bis zu Direns Tod fünfmal die Woche hinter der Theke. Esra hilft mittlerweile nur sonntags aus. Wie ihre Mutter tragen auch die beiden jungen Frauen Ketten mit einem Anhäger, auf dem „Diren“ eingraviert ist. Auf Basaks Unterarm prangt zusätzlich als zartes Tattoo der krakelige Namenszug, mit dem ihr Bruder einst seinen Kinderpass unterschrieben hat. Der letzte Schwung des „n“ führt aufwärts zu einem kleinen Vogel – so, als würde dieser den Namen Diren in den Himmel ziehen.

Auch die Schwestern erfahren viel Hilfe und Anteilnahme. Verwandte, Nachbarn und Freunde kümmern sich um sie. „Wir sind nie allein, außer beim Frühstück“, sagt Basak. Auf den beiden Facebook-Seiten, die die jungen Frauen mit einem Cousin und mit Freunden nach Direns Tod gegründet haben, melden sich Menschen aus Deutschland und Amerika, hoffen, dass die Geschworenen ein gerechtes Urteil fällen mögen. „Wir hoffen sehr auf Gerechtigkeit für unseren Bruder“, sagen Basak und Esra. Es wäre „keine Freude, aber eine Erleichterung“, wenn der Schütze schuldig gesprochen werden würde. Sie hoffen, dass er eine längere Haftstrafe bekommt. „Er hat es nicht verdient, glücklich mit seiner Familie zu leben“, sagen die Schwestern, „hat er doch unsere für immer zerstört.“