Am Abend verzeichnete die Polizei Gruppen mit Messern und Schusswaffen in St. Georg. Rund 1300 Beamte waren im Einsatz. 46 Personen wurden vorläufig festgenommen und in HVV-Bussen weggebracht.

Hamburg. Nach einer friedlichen Demonstration von mehr als 1000 Kurden ist es am Mittwochabend zu Zwischenfällen gekommen. Nach dem offiziellen Ende des Protests gegen die Angriffe der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) auf kurdische Städte in Syrien zog ein Teil der Demonstranten weiter in den Stadtteil St. Georg, wo sie nach Polizeiangaben Flaschen und auch einige Steine warfen. Mindestens ein Mensch sei am Kopf verletzt und ins Krankenhaus gebracht worden. Nähere Angaben zu dem Vorfall konnte ein Sprecher am späten Abend noch nicht machen.

Es seien eine Schusswaffe sowie Messer, Macheten, Teleskopstangen und Sturmhauben bei Demonstranten sichergestellt worden, teilte ein Polizeisprecher am Donnerstag mit. Gegen mehrere Teilnehmer wird ermittelt. Das Landeskriminalamt prüft den Verdacht des Verstoßes gegen das Waffengesetz und des Landfriedensbruchs.

46 Teilnehmer wurden vorläufig festgenommen, 18 kamen in Gewahrsam. Gegen zwei Demonstranten lag ein Haftbefehl vor, einer davon war zur Abschiebung vorgesehen, wie der Sprecher mitteilte. Die übrigen seien wieder auf freiem Fuß. Zudem seien mehrere Platzverweise ausgesprochen worden. Die Betroffenen seien türkischer, syrischer und deutscher Staatsbürgerschaft und im Alter von 18 Jahren bis 38 Jahren, ergänzte der Sprecher.

Die Polizei war am Mittwoch mit fast 1300 Beamten im Einsatz, davon knapp 260 aus anderen Bundesländern. Sie begleiteten und kontrollierten kleinere Gruppen, die sich durch St. Georg und Altona bewegten. „Durch starke Polizeipräsenz und zahlreiche Überprüfungen konnten Auseinandersetzungen weitgehend unterbunden werden“, erklärte der Sprecher.

Am Steindamm in der Nähe des Hauptbahnhofs, wo es in der Nacht zuvor schon zu schweren Zusammenstößen mit mutmaßlichen Islamisten vor einer Moschee gekommen war, sammelten sich nach Schätzung eines dpa-Fotografen mehrere Hundert Kurden. Es wurden lautstark Parolen gerufen. Mindestens ein Geschäft sei attackiert worden. Gegen 23 Uhr beruhigte sich die Lage wieder.

An der zunächst friedlichen Demonstration durch Altona zur Sternschanze hatten insgesamt etwa 1300 Menschen teilgenommen, unter denen nach Polizeiangaben auch rund 120 Angehörige des linken Spektrums waren. Die Demonstranten forderten Unterstützung für die bedrängten Kurden in Syrien und Freiheit für Abdullah Öcalan, den Chef der in der Türkei verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.

Entsetzen über Krawalle

In der Nacht zum Mittwoch war es in St. Georg zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Kurden und radikalen Muslimen gekommen. 14 Menschen waren verletzt worden, vier von ihnen schwer. Wie ein Sprecher am Mittwochmorgen sagte, hatten sich nach einer Demonstration gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zunächst etwa 75 mutmaßliche Kurden in St. Georg in der Nähe der Al-Nour Moschee versammelt. Später wuchs die Gruppe auf 400 Personen an.

Dort stellten sich ihnen laut Polizei etwa 400 „radikale Muslime“ entgegen. Dabei handelte es sich vermutlich um Salafisten. Diese Angaben konnten zunächst nicht bestätigt werden. Zwischen einzelnen Mitgliedern der Gruppen habe es „gewalttätige körperliche Auseinandersetzungen“ gegeben. Dabei habe die Polizei auch Wasserwerfer eingesetzt. Polizeibeamte wurden nicht verletzt.

Hamburgs Innensenator Michael Neumann (SPD) verurteilte die Auseinandersetzungen: „Gewalttätige Ausschreitungen werden wir in Hamburg nicht tolerieren“, sagte Neumann der Nachrichtenagentur dpa. Blockaden und Krawalle lösten keine Probleme, Konflikte müssten gewaltfrei geregelt werden. Gleichzeitig betonte Neumann: „Uns eint die Sorge um die Menschen in Syrien und im Irak. In Deutschland kann jeder dieser Sorge Ausdruck verleihen, in Deutschland kann jeder friedlich demonstrieren.“

Ein auf Youtube veröffentlichtes Video zeigt Ausschnitte der Auseinandersetzungen in St. Georg.

Muslime und Kurden demonstrieren Einigkeit

Nach den blutigen Auseinandersetzungen haben Schura (Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg), kurdische Verbände und Al-Nour-Moschee Geschlossenheit demonstriert. Auf einer kurzfristig angesetzten Pressekonferenz verurteilten am Mittwoch Repräsantanten dieser Institutionen die gewalttätigen Übergriffe der Anhänger des „Islamischen Staates“.

Samir El-Rajab, Imam der Al-Nour-Moschee, vor er es zu den nächtlichen Krawallen kam, sagte: „Extreme Jugendliche dürfen unsere interreligiöse Arbeit nicht zunichte machen. Wir wollen Hand in Hand für Frieden sorgen.“ Die Konflikte, die die arabischen Staaten in Atem halten, würden jetzt nach Deutschland übertragen. „Wir“, fügte der aus Beirut stammende Imam hinzu, „distanzieren uns gegen alles, was gegen die Kurden stattfindet.“

Schura-Vorstandsmitglied Norbert Müller unterstrich die Bereitschaft der Hamburger Muslime, einer weiteren Eskalation entgegen zu wirken. Vertreter der Kurden wie Hasan Özkan vom Kurdischen Kulturzentrum kritisierten, dass die Weltöffentlichkeit sein Volk im verzweifelten Kampf um die nordsyrische Stadt Kobane im Stich lasse.

Zuvor hatten sich Verantwortliche der muslimischen Religionsgemeinschaften in Hamburg, der kurdischen Vereine und der Polizei zu einem Runden Tisch getroffen. „Alles sind sich einig, dass es in Hamburg keine Streitigkeiten zwischen Muslimen und Kurden gibt“, heißt es in einer Erklärung des Islamischen Zentrum Al Nour mit Sitz am Kleinen Pulverteich. Die Auseinandersetzung zweier Gruppe störten das „friedliche Miteinander in der Hansestadt“. Die freundschaftlichen Beziehungen zu allen Nachbarn am Steindamm sollten auf künftig erhalten bleiben.

Salafisten nutzen soziale Netzwerke

Die kurdischstämmige Hamburgerin Cansu Özdemir hat die Übergriffe selbst miterlebt. Die Bürgerschaftsabgeordete der Linken war am Dienstag gerade von einer langen Reise entlang türkisch-syrischen Grenze in Hamburg eingetroffen. Prompt nahm sie an der Kurden-Demonstration gegen den IS-Staat teil. Die Lage eskalierte, als eine vermummte Gruppe von Salafisten die Kurden mit Messern angriff. „Das ging blitzschnell, vielleicht nur 60 Sekunden. Es gab viele Verletzte“, sagte Özdemir dem Abendblatt.

Sie sei entsetzt gewesen über die Schnelligkeit eines solchen Angriffs. Die Abgeordnete kritisiert nun, dass die Polizei mit zu wenigen Einsatzkräften vor Ort war. „Außerdem hat die Polizei die Gefahr der salafistischen Gruppe unterschätzt, die Anhänger aus ganz Norddeutschland mobilisieren konnte.“

Wie Rechtsanwalt und Schura-Vorstand Norbert Müller sagte, hätten sich die salafistischen Jugendlichen über die sozialen Netzwerke organisiert, nachdem es einen Tag zuvor zu einer Schlägerei zwischen Kurden und Extremisten gekommen sei. Einige der Salafisten hätten in der Krawall-Nacht die Moschee betreten. Sie seien mit Schlagstöcken und Messern gewaffnet gewesen. Müller: „Wir wurden bedroht.“ Obwohl die Polizei verständigt worden sei, habe es lange gedauert, bis die Beamten eintrafen. Zunächst hätten sie sogar Zweifel geäußert, ob es sich wirklich um Salafisten handeln würde. Bis Muslim Müller auf die Parolen der Salafisten-Gruppe verwies. Sie skandierten: „Kobene bleibt islamisch.“

Mit deutlichen Worten wandte sich das Islamische Zentrum Al-Nour gegen das Gerücht, eine muslimische Frau sei mit einem Messer so schwer attackiert worden, dass sie verstorben sei. „Das ist eine Lüge“, erklärten die muslimischen Repräsentanten. Es gebe offenbar Gruppen, die eine weitere Eskalation heraufbeschwören wollten.

Bundespolitik in Sorge

Der Innenexperte der CDU im Bundestag, Wolfgang Bosbach, mahnte nach den aktuellen Ausschreitungen zwischen Kurden und islamistischen Gruppen zu einem harten Durchgreifen von Polizei und Justiz. „Es ist leider nicht das erste Mal, dass Konflikte, die ihre Ursachen in anderen Ländern oder in der unterschiedlichen religiösen Überzeugung der rivalisierenden Gruppen haben, mit Gewalt auf unseren Straßen ausgetragen werden“, sagte Bosbach dem Hamburger Abendblatt. Die gleiche Problematik habe Deutschland schon Mitte der 90er Jahre bei den sogenannten Kurden-Krawallen erlebt. Diese Konflikte würden „viel zu häufig auf dem Rücken der Polizei ausgetragen, die bei der Streitschlichtung schnell zwischen die Fronten gerät“. Bosbach hob hervor: „Wer Gewalt ausübt, kann sich nicht auf Demonstrationsfreiheit berufen. Und deshalb ist es wichtig, dass Sicherheitsbehörden und Justiz konsequent gegen jene vorgehen, die hier Gewalt in unsere Städte tragen, ganz gleich, welche Nationalität oder Religionszugehörigkeit sie haben.“

Volker Beck, innenpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, kritisierte die Bundesregierung von Union und SPD scharf. „Sowohl die Bundesregierung als auch die meisten Bundesländer haben es versäumt, Präventionsprogramme gegen Islamisten auszuarbeiten“, sagte Beck. Der deutsche Staat hätte „relativ viel Geld, wenn auch nicht genug, gegen Rechtsextremismus in die Hand genommen, aber im Kampf gegen radikale Islamisten machen wir präventiv praktisch nichts“. Volker Beck hob hervor: „Wir müssen den Zustrom zu diesen radikalen Gruppen stoppen, indem wir massiv in die Stärkung demokratischer Gesinnung in diesen Milieus investieren.“

Gleichzeitig rief Beck die Kurden in Deutschland zur Mäßigung auf. „Die Kurden in Deutschland sind angesichts der Bedrohung durch den IS in Syrien verzweifelt. Aber die kurdischen Vereine müssen jetzt mäßigend auf ihre Mitglieder und Anhänger einwirken“, sagte der Grünen-Politiker.

Angesichts der Ereignisse fordert die aus Hamburg stammende Bundestagsabgeordnete der Linken, Ulla Jelkpe: „Wenn Überfälle auf kurdische Vereine organisiert werden, dann gibt es Hintermänner und Rädelsführer. Die müssen ebenso festgestellt und entsprechend strafrechtlich belangt werden, wie diejenigen, die sich an Gewalttaten beteiligen.“ Die Übergriffe von dschihadistischen Salafisten auf vermeintliche Gegner wie Kurden, syrische Kurden und Jesiden seien „eine Gefahr für das friedliche Zusammenleben hier im Land.“

Nach Angaben des Bundesinnenministeriums soll es in den vergangenen Jahren im Zuge des Syrien-Krieges etwa 70 angemeldete und spontane Demonstrationen von islamistischen Gruppen in Deutschland gegeben haben. Die Teilnehmerzahlen variierten zwischen 30 und mehr als 1000 Demonstranten. Die meisten davon verliefen friedlich, dennoch sei es immer wieder auch zu Gewalt auf den Kundgebungen gekommen.

25.000 Kurden sollen in Hamburg leben

Der Hamburger SPD-Bürgerschaftsabgeordete Ali Simsek sagte, die Kurden hätten angesichts ihres Kampfes gegen den IS-Terror Sympathien und Vertrauen in der deutschen Öffentlichkeit gewonnen – nicht zuletzt auch in Hamburg. "Sie spielen inzwischen eine enorm wichtige Rolle. " Die Kurden in Deutschland hätten aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und seien gut organisiert. Wichtig sei es nun , dass die gesamte Gesellschaft entschlossen gegen religiös motivierten Extremismus vorgehe. Die Zahl der in Hamburg lebenden Kurden wird auf 25.000 geschätzt. Laut Verfassungsschutzbericht liegt die Zahl der PKK-Anhänger bei 600.

Bereits am Montagabend haben rund 300 Kurden vor dem Hamburger Rathaus gegen den IS-Terror demonstriert. Die Demonstration war unangemeldet, die Teilnehmer forderten den Eingriff Deutschlands gegen die IS-Terrormiliz.

In Deutschland sollen eine Million Kurdinnen und Kurden leben. Die Kurdische Gemeinde Deutschland e.V. zeigt sich solidarisch mit der Bevölkerung in der umkämpften syrischen Grenzstadt Kobane und unterstützt friedliche Protestkundgebungen in Deutschland. Der Vorsitzende Ali Ertan Toprak stellt angesichts der Ereignisse in Syrien eine „wachsende Wut und Ohnmacht unter Kurdinnen und Kurden in Deutschland und anderswo fest.“ Die Gemeinde fordert ein schnelles Eingreifen der internationalen Koalition gegen IS, um ein erneutes Massaker und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern.