In St. Georg kam es zu schweren Krawallen zwischen Kurden und Salafisten. Cansu Özdemir, die kurdischstämmige Bürgerschaftsabgeordnete der Linken, war vor Ort und kritisiert den Einsatz der Polizei.

Hamburg. Cansu Özdemir, Bürgerschaftsabgeordnete der Linken, hatte eine lange Reise absolviert, als sie von der türkisch-syrischen Grenze am Dienstagabend in Hamburg eintraf. Prompt nahm sie an der Kurden-Demonstration gegen den IS-Staat teil. Die Lage eskalierte, als eine vermummte Gruppe von Salafisten die Kurden in St. Georg mit Messern angriff. "Das ging blitzschnell, vielleicht nur 60 Sekunden. Es gab viele Verletzte", sagt Özdemir. Sie sei entsetzt gewesen über die Schnelligkeit eines solchen Angriffs.

Die Abgeordnete kritisiert nun, dass die Polizei mit zu wenigen Einsatzkräften vor Ort war. "Außerdem hat die Polizei die Gefahr der salafistischen Gruppe unterschätzt, die Anhänger aus ganz Norddeutschland mobilisiert hat", sagte Özdemir dem Abendblatt. Dieser Polizeieinsatz müsse nun kritisch aufgearbeitet werden.

Auch Norbert Müller, Mitglied im Vorstand der Al-Nour-Gemeinde und im Rat der Islamischen Gemeinden, der Schura, erhebt schwere Vorwürfe gegenüber der Polizei. "Wir haben uns von der Polizei allein gelassen gefühlt. Nach meiner Einschätzung waren die Beamten mit der Lageeinschätzung überfordert", sagte er dem Hamburger Abendblatt. Er und andere Gemeindemitglieder hätten die jungen Salafisten aufgefordert zu gehen. Allerdings ohne Erfolg. "Die standen mit dem Knüppel vor uns und haben uns Prügel angedroht", so Müller, der in Hamburg eine Rechtsanwaltskanzlei betreibt. Die Gemeindemitglieder hatten zuvor unter Polizeigeleit die Moschee verlassen.

Gewalttätige Salafisten sollten isoliert werden

Özdemir schätzt die Zahl der in Hamburg lebenden Kurden auf sogar 30.000- 50.000. Die Mehrheit seien sunninitische Muslime und Aleviten; Jesiden und Christen seien in Hamburg nicht so stark unter den Kurden vertreten. Nach Angaben des Senats gibt es keine genaue Zahlen über Kurden in Hamburg. Daten über ethnische Zugehörigkeit würden nicht erfasst.

Linke: Hamburg ist Zentrum für IS-Rekrutierung

Ulla Jelpke, Bundestagsabgeordnete der Linken, sagte dem Abendblatt: "Hamburg hat sich offensichtlich in den vergangenen Jahren zu einer Schwerpunktregion für die Rekrutierung neuer Anhänger für in Syrien kämpfende djhadistische Gruppierungen wie die al-Nusra-Front und den IS entwickelt. Auch eine Reihe von alevitischen Kurden haben sich dort dem IS angeschlossen." Dies habe dazu geführt, dass linke türkische und kurdische Gruppierungen in Hamburg seit einigen Monaten sehr aktiv gegen den IS auftreten und zum Beispiel Demonstrationen und Informationsveranstaltungen organisieren.

Es soll inzwischen Aufrufe von deutschen Djihadisten aus Syrien geben, auch in Deutschland „Feinde“ anzugreifen. Jelpke: "Genau das erleben wir jetzt in Hamburg aber auch in Celle, wo Salafisten Eziden angriffen. Die IS-Anhänger müssen sich dadurch ermutigt sehen, dass die Behörden den IS und seine Vorgänger sehr lange frei gewähren ließen."

Die in Hamburg geborene Politikerin fordert: "Wenn – wie in der Hansestadt – Überfälle auf kurdische Vereine organisiert werden, dann gibt es auch Hintermänner und Rädelsführer. Die müssen ebenso festgestellt und entsprechend strafrechtlich belangt werden, wie diejenigen, die sich hier an Gewalttaten beteiligt haben. Wenn wir heute ein entschiedenes Vorgehen gegen IS-Anhänger in Deutschland einfordern, muss gleichzeitig klar sein, dass sich dies auf keinen Fall gegen den Islam als solchen oder generell gegen Muslime richtet. Es ist vielmehr wichtig, muslimische Gemeinden in den Kampf gegen Djihadisten einzubinden und ihre schon bestehenden Bemühungen zu stärken."

Warum gehen Kurden und radikale Muslime aufeinander los?

Nicht nur in Syrien und im Irak eskaliert die Gewalt. Der Hass zwischen den Konfliktparteien ist längst nach Deutschland herübergeschwappt. In Hamburg gingen am Dienstagabend Hunderte Kurden und Islamisten aufeinander los, in Celle standen mehrere Hundert jesidische Kurden und muslimische Tschetschenen mit Knüppeln und Steinen einander gegenüber. Mindestens 23 Menschen wurden verletzt, zum Teil schwer.

Was ist der Auslöser der Ausschreitungen?

In Syrien rückt die von extremistischen sunnitischen Muslimen gegründete Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) im Moment in kurdische Ortschaften vor. Die in Deutschland lebenden Kurden nehmen starken Anteil am Schicksal der von IS bedrohten Menschen dort. In zahlreichen Städten organisierten sie Proteste gegen IS. Zum Teil wurden dabei auch Slogans gegen die Türkei gerufen. Den Kurden stellten sich radikale Muslime entgegen. Einige der Angreifer dürften in dem Konflikt tatsächlich mit IS sympathisieren, andere lehnen lediglich die Ideologie der meist eher säkular orientierten kurdischen Gruppen ab. Bereits in den vergangenen Wochen hatte es Zusammenstöße der beiden Lager gegeben.

Welche kurdische Gruppierungen gibt es in Deutschland?

In der Bundesrepublik leben rund 800 000 Kurden. Viele von ihnen sind aus politischen Gründen nach Deutschland geflohen. Etwa 13 000 der hier ansässigen Kurden gelten als Anhänger der in der Türkei und auch in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die linksradikale Partei hat auch Ableger im Iran und in Syrien. Vor allem ihre Kämpfer waren es, die in diesem Sommer versuchten, die religiöse Minderheit der Jesiden im Irak vor dem IS-Terror zu schützen. Die Jesiden sind ethnische Kurden. Viele von ihnen flohen in den vergangenen vier Jahrzehnten aus der Türkei und aus dem Irak. Die größte Exil-Gemeinschaft findet sich in Deutschland. Hier leben zwischen 50 000 und 90 000 Jesiden, überwiegend in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.

Wie ist die islamistische Szene in Deutschland aufgestellt?

Der Verfassungsschutz rechnet mehr als 43 000 Menschen dazu. Die Szene ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen. Besonders groß ist der Zulauf bei den Salafisten. Diese radikale Strömung innerhalb des sunnitischen Islam propagiert eine Rückkehr zu den Werten und Lebensweisen der ersten Muslime. Rund 6200 Leute werden der Salafisten-Szene zugeordnet – mit weiter steigender Tendenz. Salafistische Strömungen lassen sich in drei Kategorien einteilen: missionarische Gruppen, politische Gruppen und militante Salafisten, die sich an Gewaltaktionen beteiligen und Terror gegen vermeintliche „Ungläubige“ ausüben.

Und die Tschetschenen?

Militante Islamisten aus Tschetschenien sind seit dem militärischen Sieg der Russen gegen tschetschenische Separatisten als Dschihadisten in andere Konfliktregionen gezogen. Auch in Syrien kämpfen derzeit radikale Muslime aus Tschetschenien in den Reihen der IS-Miliz sowie in anderen militanten Islamisten-Gruppen. Unter den in Deutschland lebenden Tschetschenen sind ebenfalls einige Islamisten.

Wie schätzen die Sicherheitsbehörden die Zusammenstöße ein?

Die Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern haben die Entwicklung im Blick und beobachten die Ausschreitungen mit Sorge. Mit einer näheren Bewertung der Lage halten sie sich bislang aber zurück.