Als Zwölfjähriger kam er als Flüchtling aus der Türkei nach Hamburg. Heute engagiert sich der Politiker Mehmet Yildiz besonders für die Jugendhilfe. Vor allem der Fall der toten Yagmur beschäftigt ihn.

Hamburg. Zweimal im Monat sitzt er mit zehn anderen Bürgerschaftsabgeordneten im Rathaus, um im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss „Yagmur“ die Todesumstände des dreijährigen Mädchens mit türkischen Wuzeln aufzuklären. Es soll um das Versagen der Behörden in diesem dramatischen Fall gehen, aber auch darum, wie es generell um den Kinderschutz in der Hansestadt bestellt ist. Um die Angebote der Jugendhilfe, die Ausstattung der Allgemeinen Sozialen Dienste und die Arbeitsweise der Jugendämter, um den Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) und die Auswahl von Pflegefamilien.

Doch anders als seine Parlamentskollegen kennt der Linken-Abgeordnete Mehmet Yildiz vieles davon aus eigener Anschauung. 1990 kam er als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling mit seinem Bruder aus der Türkei nach Deutschland. Und wuchs in Hamburg selbst in Einrichtungen der Jugendhilfe auf.

Als seine Mutter und sein Vater den damals Zwölfjährigen 1990 in der Türkei zum Flughafen brachten, war der Abschied hart – vor allem für die Eltern. „Ich selbst habe damals noch nicht überblickt, welche Folgen mein Weggang haben würde“, sagt Yildiz heute. Doch was keiner von ihnen wusste: Sie würden sich 16 Jahre lang nicht wiedersehen.

Alles war anders: das Essen, das Wetter, die Kühle der Deutschen

Damals schien es das Beste, die Türkei zu verlassen. Yildiz lebte als jüngstes von sechs Kindern einer kurdischen Familie in Kayseri, einer Stadt in der Zentraltürkei, die nach der Machtübernahme durch die Militärregierung in der Türkei 1980 zunehmend von politischen Auseinandersetzungen geprägt war. In Kayseri gab es viel Widerstand linker Aktivisten und die Junta ging heftig gegen kurdische Separatisten und linke Oppositionelle vor. Viele Männer wurden verhaftet und gefoltert, erzählt Yildiz, viele Lehrer erhielten Arbeitsverbot. An seiner Schule blieb für 130 Schüler nur ein Lehrer. Auch Yildiz’ Vater, der in einer Fleischfabrik arbeitete, war politisch aktiv. Für seine Söhne sah er in Kayseri keine Zukunftsperspektive. So schickte er sie nach Deutschland.

Dass es hart sein würde allein in der Fremde, wurde Yildiz und seinem Bruder erst bewusst, als sie in Hamburg waren. Alles war anders als gewohnt: das Essen, das Wetter, die Kühle der Norddeutschen im Gegensatz zur Kontaktfreudigkeit der Menschen in ihrer Heimat. Die ersten drei Monate verbrachten die Brüder im Heim des Kinder- und Jugendnotdienstes in der Feuerbergstraße, dann kamen sie in eine Jugendwohnung des Rauhen Hauses.

Dort war eine Erzieherin für drei Jugendliche zuständig. Sie wurde für Yildiz in den folgenden Jahren zur wichtigsten Bezugsperson. „Wie eine Adoptivmutter“, sagt er. Die Erzieherin hat nicht nur mit ihnen gekocht, sondern auch an ihrem Leben teilgehabt, Freunde kennengelernt, ist zu Veranstaltungen mitgekommen. „Heute betreut ein Pädagoge fünf Jugendliche“, sagt der 36-Jährige, „da bleibt für so etwas kaum noch Zeit.“

„Ich bin hier fremd, und in der Türkei auch“

Die Politik prägte weiter seinen Lebensweg. Nach heftiger Debatte wurde 1993 das Asylrecht in Deutschland geändert. Jetzt mussten die Brüder Asyl beantragen, vorher war das bis zum 16. Lebensjahr nicht der Fall. Die Folgen waren weitreichend: Sie durften nun nicht mehr zu Besuch in die Türkei reisen, andernfalls hätten sie ihr Verfahren in Deutschland gefährdet. So kam es, dass die Brüder ihre Eltern lange Zeit nicht sahen. „Keiner hatte damit gerechnet, dass wir über Jahre nicht würden zurückkehren können“, sagt er. Das änderte sich erst, als Yildiz 2006 Deutscher wurde.

Er wollte seine Eltern besuchen dürfen – aber nicht für immer in die Türkei zurückkehren. Als ihm 1993 die Abschiebung drohte, begann er im Alter von 14 Jahren eine Ausbildung als Elektroinstallateur, als jüngster Lehrling. Bei Betriebsausflügen außerhalb Hamburgs musste er die Zustimmung der Ausländerbehörde einholen. Als er ausgelernt hatte, durfte er nicht arbeiten. Damals dachte er manchmal: „Ich bin hier fremd, und in der Türkei auch.“ Doch er boxte sich durch, lernte seine spätere Frau kennen, wurde heimisch. Schließlich entschied ein Amtsleiter, dass er einen Aufenthaltstitel erhielt, auch wenn er nie Asyl bekam.

Es sind diese Erfahrungen, aus denen sich bei Yildiz ein lebenslanges Engagement für Migranten und für die Jugendhilfe speist. Ein Engagement, das sehr persönlich gefärbt ist – aber, wie es Tradition ist in seiner Familie, auch politisch. Dabei schlug sein Herz von Beginn an links. Schon früh engagierte sich Yildiz bei der linken Föderation Demokratischer Arbeitervereine (DIDF), deren Mitglieder größtenteils türkischer und kurdischer Herkunft sind.

Der Verein mit seinem ehrenamtlichen Engagement im Jugendhilfebereich wurde für Yildiz zu einer zweiten Familie. Als Auszubildender trat er der IG Metall bei, wurde Mitglied der Hamburger Schülerkammer und wirkte später im DGB-Vorstand mit. Erst als er 1998 als Delegierter zum DGB-Jugendkongress fahren wollte und wegen seines Aufenthaltsstatus nicht hindurfte, wurde seinen Mistreitern klar, dass er Asylbewerber war. Der frühere Hamburger DGB-Chef Erhard Pumm setzte sich damals für ihn ein.

Rahmenbedingungen von Jugendhilfe verbessern

Sein politisches Engagement führt Yildiz 2008 schließlich als zunächst parteiloser Kandidat des DIDF auf der Liste der Linken in die Hamburgische Bürgerschaft – nur zwei Jahre, nachdem er die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt. Dabei hatte der Fachsprecher für Familie, Jugend, Migration und Sport lange mit den etablierten Parteien gehadert. Wenn es um Politik geht, sieht er sich eher als Pragmatiker, denn als Theoretiker.

„Mir geht es nicht nur um den gesetzlichen Rahmen, sondern auch darum, wie er gefüllt wird“, sagt Yildiz. Mehr als vier Jahre lang saß er im Eingabenausschuss der Bürgerschaft und entschied selbst mit über das Schicksal von Flüchtlingen, die teilweise Ähnliches erlebt haben wie er selbst. Bei fast jeder Eingabe, die er bearbeitete, hat er die Menschen selbst kennengelernt, ihre Geschichte angehört. Irgendwann konnte er die Entscheidungen nicht mehr ertragen.

Dabei sieht er seine eigenen Erfahrungen mit der Jugendhilfe eher positiv. Wegen der Menschen, denen er in der Jugendwohnung und im Haus der Jugend begegnete. Wegen der Aufgabe, die er im DIDF fand. Und wegen der Möglichkeit, sich einzubringen und andere zu unterstützen. „Wenn ich als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling die Jugendhilfe nicht gehabt hätte, weiß ich nicht, was aus mir geworden wäre“, sagt er.

Doch die Rahmenbedingungen haben sich aus seiner Sicht seither sehr verschlechtert. Auch um sie geht es im Untersuchungsausschuss, für den 36-Jährigen ein wichtiges Anliegen. Doch den Ausschuss sieht er nach fünf Sitzungen „in einer Sackgasse“. Er übernehme die Aufgabe des Strafgerichts – nämlich die genauen Abläufe und Verantwortlichkeiten aufzuklären, die zum Tod von Yagmur führten. „Hier wird ein Parallelgericht geschaffen“, kritisiert Yildiz. Dem früheren Flüchtling liegt etwas anderes am Herzen: „Wir müssen diskutieren, wie wir die Rahmenbedingungen von Jugendhilfe verbessern können.“