Künftig müssen alle Kinder bei Verdacht auf Misshandlung im Kompetenzzentrum der Rechtsmedizin untersucht werden. Das schreibt eine Vereinbarung vor, die in Kürze geschlossen werden soll.
Die Verletzungen, die die Ärzte am Kinderkompetenzzentrum der Hamburger Rechtsmedizin zu sehen bekommen, sind erschütternd: Kinderrücken, übersät mit Striemen eines Gürtels oder Kabels. Ein Gesicht, auf dem noch der Abdruck einer schlagenden Hand samt den Spuren eines Rings zu sehen sind. Hämatome, Bissverletzungen und sogar die Spuren eines Föns, dessen Hitze auf der Haut ein rundes Muster hinterlassen hat. Doch das sind lediglich die offensichtlichen Zeichen von Kindesmisshandlung. Weit gefährlicher sind häufig die Verletzungen, die vom Laien nur schwer als Spuren von Missbrauch oder Vernachlässigung zu erkennen sind – weil sie ohne Folgen bleiben. Und das betroffene Kind ohne Schutz.
Schwer fällt es allzu oft auch den Sozialarbeitern der Jugendämter, die sich vor Ort in den Bezirken um problematische Familien kümmern, richtig einzuschätzen, ob ein Kind tatsächlich gefährdet ist oder nur unglücklich gestürzt, wie Eltern in solchen Fällen gern behaupten. Schließlich sind die Mitarbeiter dieser sogenannten Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) keine Mediziner. Deshalb sollen sie sich schon jetzt in Zweifelsfällen an die Spezialisten vom Kinderkompetenzzentrum wenden, um das Kind untersuchen zu lassen.
Doch in der Praxis tun sie dies viel zu selten. Erst kürzlich hat der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), Professor Klaus Püschel, vor dem Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft beklagt, dass die Jugendämter in sehr unterschiedlichem Maße mit seinem Kinderkompetenzzentrum zusammenarbeiten, je nach dem Willen einzelner Mitarbeiter.
Das soll sich jetzt ändern – und es ist eine wichtige Konsequenz aus dem Tod der dreijährigen Yagmur, deren Mutter angeklagt ist, dem Kind fortgesetzt Gewalt angetan und es schließlich im Dezember vergangenen Jahres totgeschlagen zu haben. Die Sozialbehörde von Senator Detlef Scheele (SPD) hat aktuell eine Kooperationsvereinbarung mit dem Kinderkompetenzzentrum erarbeitet, die der „Welt am Sonntag“ exklusiv vorliegt, und die Zusammenarbeit sehr viel verbindlicher gestalten soll.
Ermessensspielraum der Sozialarbeiter wird kleiner
Das bedeutet: Künftig müssen die Sozialarbeiter die Experten der Rechtsmedizin in allen Fällen von Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahren einschalten, „bei denen der Verdacht besteht, dass sie vernachlässigt, misshandelt, sexuell missbraucht worden sind, die selbst verletztendes Verhalten zeigen und/oder Verletzungen mit ungeklärten Ursachen zeigen“. Sie sollen sich ebenso wie das Familieninterventionsteam (FIT) und der Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) an die Mediziner wenden, wenn Kinder „Verletzungen ungeklärter/zweifelhafter/strittiger Ursache aufweisen und/oder der allgemeine Gesundheitszustand durch medizinische Diagnostik gesichert werden muss“, wie es im Text der Vereinbarung heißt. Das gilt insbesondere dann, wenn „eine Vernachlässigung vermutet wird und der pflegerische und/oder Ernährungszustand sowie der körperliche Entwicklungsstand des Kindes als nicht ausreichend beurteilt wird“, eine zurückliegende Gewaltanwendung nicht ausgeschlossen werden kann und der Verdacht besteht, dass das Kind oder der Jugendliche nicht altersgerechte Medikamente oder schädliche Substanzen erhalten hat.
Mit anderen Worten: Der Ermessensspielraum der Sozialarbeiter, ob sie ein Kind oder einen Jugendlichen im Verdachtsfall fachkundig untersuchen lassen oder nicht, wird sehr viel kleiner. „Unser Ziel ist es, die ASD-Mitarbeiter darin zu stärken, die richtigen Entscheidungen zu treffen“, sagt Sozialsenator Scheele. Tatsächlich arbeiten Jugendamtsmitarbeiter in einem schwierigen Spannungsfeld: Um den Familien helfen und sie unterstützen zu können, wie es ihr Auftrag ist, müssen sie zu ihnen ein Vertrauensverhältnis aufbauen. Gleichzeitig sind sie auch dafür verantwortlich, durch kritische Wachsamkeit und Kontrollen sicherzustellen, dass kein Kind gefährdet ist – und den Erklärungen und Ausflüchten der Eltern im Zweifelsfall nicht zu viel Glauben schenken.
„Es ist extrem wichtig, dass wir eine Richtlinie haben, die klar und vor allem verbindlich vorgibt, wie alle Beteiligten im Umgang mit Kindesmisshandlung und -vernachlässigung handeln müssen“, sagt die Rechtsmedizinerin Dragana Seifert, die das Kinderkompetenzzentrum leitet. Rechtsmediziner seien der Objektivität verpflichtet und könnten mit ihrer Diagnose entscheidend dazu beitragen, einen Verdacht zu bestätigen oder im besten Fall auch zu entkräftigen. „Ein Jugendamtsmitarbeiter zieht ein Kind oft nicht aus und sucht nicht am ganzen Körper nach Verletzungen oder auch Narben von früheren Gewalteinwirkungen“, sagt die Gerichtsmedizinerin. „Es gibt Narben, die so typisch sind für Kindesmisshandlungen, dass sie nichts anderes sein können. Wenn wir sie entdecken, dann lässt sich feststellen, dass es nicht nur eine frische Verletzungen gibt, die sich vielleicht auch anders erklären ließen, sondern das Kind bereits früher misshandelt worden sein muss. Dies kann entscheidend sein für den weiteren Umgang mit dem Fall.“
Auch spätere Kontrolluntersuchungen sind möglich
Zudem sei eine Kinderärztin des Kinderkompetenzzentrums darin geschult, nicht nur die körperlichen Anzeichen von Kindesvernachlässigung zu erkennen, sondern auch die daraus resultierenden Entwicklungsverzögerungen. „Das ist auch deshalb wichtig, weil Kindesvernachlässigung den bei weitem größten Anteil der Fälle ausmacht.“
Dragana Seifert begrüßt die Kooperationsvereinbarung; Kinderschutz ist ihr eine Herzensangelegenheit. Die Vereinbarung werde mit Sicherheit dazu führen, dass das Kompetenzzentrum künftig sehr viel mehr Untersuchungen mache. „Jedes Kind muss vorgestellt werden, nicht nur schwerwiegende Fälle“, ist sie überzeugt.
So sollen die Jugendamtsmitarbeiter das Kinderkompetenzzentrum unter Umständen auch dann einschalten, wenn die Sorgeberechtigten nicht einverstanden sind. Widersprechen die Eltern einer medizinischen Untersuchung, und ist das Familiengericht nicht schnell genug entscheidungsfähig, kann das Jugendamt das Kind in Obhut nehmen und die Untersuchung veranlassen, wenn diese „wegen einer dringenden Gefahr für das Wohl des Kindes unaufschiebbar“ ist. Vorgesehen ist außerdem, dass auch Geschwisterkinder im Kinderkompetenzzentrum untersucht werden sollen.
Ist eine „potenzielle weitere Gefährdung des Kindes nicht auszuschließen“, müssen die Jugendamtsmitarbeiter zudem spätere Kontrolluntersuchungen in die Wege leiten – das ist ein wichtiger Punkt, der bei Yagmur versäumt wurde. Denn obwohl Rechtsmedizinerin Seifert bei der Dreijährigen Ende Januar 2013 – gut zehn Monate vor Yagmurs Tod – schwerste Verletzungen festgestellt hatte, die aber durch Ermittlungen nicht eindeutig einem Täter oder einer Täterin zugeordnet werden konnten, kam das Mädchen später wieder zu ihren leiblichen Eltern zurück. Es war offensichtlich, dass das Kind gefährdet war – von welcher Seite auch immer. Spätere Kontrolluntersuchungen gab es dennoch nicht.
Kindesmisshandlung bedeutet extremen Stress für Kindergehirn
Ausdrücklich regelt die Vereinbarung auch noch einmal, dass die Rechtsmediziner Strafanzeige erstatten sollen, wenn sie bei einem Kind erhebliche Verletzungen oder Zeichen von Vernachlässigung sehen. Das hatte Püschel im Fall Yagmur zwar getan – es kommt aber nach seiner eigenen Aussage vor dem Untersuchungsausschuss äußerst selten vor: vielleicht ein oder zweimal im Jahr. Die Rechtsmediziner sollen die Jugendamtsmitarbeiter „unmittelbar nach der Untersuchung“ über das Ergebnis informieren und dann „zeitnah“ schriftlich übermitteln. Auch sollen die Mediziner den Sozialarbeitern Hinweise geben, welcher Hilfe- und Unterstützungsbedarf sich aus ihrer Diagnose ergibt.
Als das Kompetenzzentrum Ende 2005 gegründet wurde, war dies auch eine Folge des Hungertods der siebenjährigen Jessica in Jenfeld, die von ihren Eltern extrem vernachlässigt worden war. Bundesweit einmalig war damals die sehr enge Anbindung des Zentrums an die Rechtsmedizin. Die Ärzte, allen voran Seifert selbst, sind rund um die Uhr erreichbar, um Kinder und Jugendliche bei Verdacht auf Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch zu untersuchen. 2013 waren es 201 Betroffene. Das Zentrum wird von der Sozialbehörde gefördert, im Zuge der Kooperationsvereinbarung soll das Personal aufgestockt werden.
Eigentlich regelt eine Fachanweisung schon jetzt, dass die Sozialarbeiter das Kinderkompetenzzentrum im Verdachtsfall hinzuziehen soll. In der Praxis passiert das allerdings nur selten. Ausgerechnet die Jugendämter Eimsbüttel und Bergedorf, die für die kleine Yagmur zuständig waren, wandten sich nur selten an die Einrichtung des UKE. 2013 wurden in Eimsbüttel 828 Verdachtsfälle gemeldet, aber nur vier Kinder bei den Rechtsmedizinern vorgestellt. Bergedorf schickte nur drei Kinder zu den Spezialisten vom UKE, obwohl es 780 Verdachtsfälle gab, wie aus der Senatsantwort auf eine Anfrage der CDU-Fraktion hervorgeht.
Nun hat längst nicht jeder Verdachtsfall wirklich Substanz. Angesichts von sechs toten Kindern in zehn Jahren sind die Hamburger allerdings außerordentlich aufmerksam geworden, was eine mögliche Misshandlung oder Vernachlässigung angeht. „Doch es darf nicht dem Zufall und der individuellen Haltung des ASD-Mitarbeiters überlassen bleiben, ob die Experten am UKE eingeschaltet werden“, meint auch der Bürgerschaftsabgeordnete Christoph de Vries, Obmann der CDU im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der schon länger mehr Verbindlichkeit fordert.
Denn oft genug bleibt es nicht beim Verdacht. 141 Fälle von akuter Kindeswohlgefährdung wurden 2012 in Hamburg festgestellt. Auch wenn die Kinder dabei nicht zu Tode kamen, sind die Folgen schlimm. „Langzeitstudien zeigen, dass Kindesmisshandlung und Vernachlässigung extremen Stress für das noch in der Entwicklung befindliche Kindergehirn bedeutet“, sagt Dragana Seifert. „Die Betroffenen leiden darunter ihr ganzes Leben lang.“