Yaya wurde misshandelt und starb an einem Leberriss. Erstmals spricht ihre Pflegemutter über das Schicksal der Kleinen. Ein erschütternder Bericht über Kinderidyll und grausam missbrauchtes Vertrauen.
Hamburg. Langsam wird der kleine weiße Sarg neben einer Zypresse in die Tiefe herabgelassen. Inés M. hält die Hand ihres sechsjährigen Sohnes. Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie nimmt an diesem trüben Dezembertag auf dem Friedhof Öjendorf, drei Tage nach Weihnachten, Abschied von Yagmur. Mehr als zwei Jahre war das Mädchen ihr Pflegekind. „Dass sie jetzt tot in diesem weißen Sarg liegt, kann ich immer noch nicht begreifen“, sagt Inés M. Wieder füllen sich ihre Augen mit Tränen, ihr Körper zittert. „Yagmur war die Lebendigkeit in Person. Ihr Tod hat mir das Herz gebrochen.“
Am 18.Dezember 2013 ist Yagmur, genannt Yaya, gestorben. Totgeprügelt, mutmaßlich von ihrem Vater, der seitdem in Untersuchungshaft sitzt. Yaya ist drei Jahre alt geworden.
Inés M. hat lange darüber nachgedacht, ob sie sich in der Öffentlichkeit äußern soll. Und sich schließlich entschlossen, ihre Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte voller Liebe und Hoffnung. Und Vertrauen – das auf schreckliche Weise enttäuscht wurde.
Sie erinnert sich noch genau an den Tag im Oktober 2010, als ein Telefonanruf ihr Leben veränderte. Es war ein Anruf vom Jugendamt: Ob sie als Pflegemutter ein Baby bei sich aufnehmen wolle? Sie sagt sofort zu. Am 16.Oktober holt sie die damals sieben Tage alte Yaya aus dem Krankenhaus in Wandsbek ab. „Ich habe sie sofort in mein Herz geschlossen.“
Sie war noch nicht einmal ganz erwachsen, da wusste sie schon, dass sie sich später mal um ein Kind kümmern möchte, das niemanden hat. „Dieser Gedanke hat mich jahrelang begleitet.“ Als ihr eigener Sohn zwei Jahre alt ist, meldet sie sich bei der Pflegeelternschule von „Pfiff“, wo sie eine „Grundqualifizierung“ absolviert. Es dauert nur ein paar Monate, bis sie dann Yaya bei sich aufnimmt.
Die Diplom-Modedesignerin kümmert sich um das Nesthäkchen wie um eine eigene Tochter. Wiegt sie in den Schlaf. Gibt ihr das Fläschchen. Fährt sie spazieren. Singt und liest ihr vor. Nimmt pünktlich die Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt wahr. „Sie hat immer gut gegessen und geschlafen und war nie krank.“ Für ihren dreijährigen Sohn ist Yaya wie eine Schwester. „Die beiden waren gleich ein Team“, sagt die 43-Jährige. Auf einem großen Foto, das im Wohnzimmer hängt, schmiegt sich Yaya liebevoll an ihren Pflegebruder. Auch auf einem anderen Bild im Flur lacht die Kleine in die Kamera, die blauen wachen Augen strahlen.
Yaya wächst in einer großen, hellen Altbauwohnung in Rotherbaum auf. Sie habe ihrem Bruder alles abgeschaut und vor nichts Angst gehabt. „Mit einem Jahr konnte sie laufen, mit zwei Jahren ist sie die steilsten Rutschen hinunter gesaust“, erinnert sich die Pflegemutter. Ihr erstes Wort? „Mama“.
Fast täglich klickt sich Inés M. durch Fotos und Videos, die sie auf ihrem Laptop gespeichert hat: Yaya, die Enten in Planten un Blomen bestaunt. Yaya, die an ihrem ersten Tag in der Kita in Eppendorf mit anderen Kindern spielt. Yaya planschend in der Badewanne mit ihrem Pflegebruder. Yaya, die Kartoffelpuffer mit Apfelmus isst.
Betreut wird die kleine Pflegefamilie vom Jugendamt Eimsbüttel. „Die Mitarbeiterin war regelmäßig bei uns“, sagt Inés M. „Es war immer alles in Ordnung.“ Auch zu Yayas erstem Geburtstag ist sie eingeladen. „Yaya hat eine Häkel-Puppe bekommen, Fühlbücher und einen lila Rattan-Puppenwagen.“ In dem hat Yaya dann oft den Hund spazieren gefahren.
Die leiblichen Eltern, Melek und Hüseyin Y., spielen eine wichtige Rolle in Yayas Leben. Denn es ist von Anfang an geplant, dass sie über kurz oder lang zu ihren Eltern zurückkehrt. „Einmal die Woche hat Melek Yagmur für zwei, drei Stunden abgeholt, später war auch der Vater dabei“, sagt Inés M. Melek Y. wollte ihr Kind nur vorübergehend weggeben. Die Schwangerschaft hatte sie vor ihrer Familie verheimlicht.
Als schlechte Eltern, die ihr Kind ernsthaft verletzen könnten, habe sie Melek und Hüseyin Y. nie gesehen. „Sie waren sehr jung, wirkten unreif und unerfahren“, erinnert sich Inés M. „Aber ich mochte sie. Ich habe mich manchmal wie Meleks große Schwester gefühlt.“ Sie will immer noch nicht glauben, dass Yagmur bei ihren leiblichen Eltern zu Tode misshandelt worden sein soll. Weil der Gedanke zu sehr schmerzt. „Die beiden haben sich doch über zwei Jahre darum bemüht, Yaya zurückzubekommen.“
Die blauen Flecken, mit denen Yaya einige Male nach Besuchen bei den Eltern nach Hause kam, waren für Inés M. der Beweis für deren Unfähigkeit. „Aber Melek hatte immer eine Erklärung parat.“ Mal habe ihr ein Kind ein Spielzeugauto aus Versehen aufs Auge gehauen. Mal sei sie im Schwimmbad ausgerutscht und mit dem Kopf gegen die Fliesen geknallt. Dennoch ging Inés M. mit der Kleinen bei starken blauen Flecken zum Kinderarzt und meldete die Vorfälle jedes Mal dem Jugendamt. In Hilfeplangesprächen seien die Eltern verwarnt worden. „Ihnen wurde gesagt, dass sie besser auf Yagmur aufpassen müssten. Sonst sei die Rückführung gefährdet.“ Eine Freundin rät, die Vorfälle zu protokollieren und Fotos zu machen. „Aber ich dachte: Ich bin doch nicht von der Stasi.“ Heute bereut sie es.
Es hat auch andere Warnsignale gegeben. „Sie hat geschrien wie am Spieß und sich an mir festgehalten, wenn ihre Eltern sie abholen wollten.“ Auch in der Kita habe sich Yagmur mit Händen und Füßen gewehrt, wenn Melek und Hüseyin Y. sie mitnehmen wollten. So sei es auch im Herbst 2012 gewesen, als die erste Übernachtung bei den Eltern anstand. „Aber sie taten mir in dieser Situation auch leid“, sagt Inés M.
Besonders dramatisch war es kurz vor Weihnachten 2012. Da habe Yaya ihre Eltern das erste Mal für mehrere Tage besucht. Wie immer sei der Abschied mit großem Geschrei verbunden gewesen. „Doch als Yaya nach diesem Besuch nach Hause kam, habe ich sie kaum wiedererkannt“, erinnert sie sich. „Sie war apathisch und roch nach Erbrochenem.“ Am 28.Dezember fährt sie mit dem Kind ins Kinderkrankenhaus, doch die Ärzte können nichts feststellen. Am 6.Januar muss Yaya wieder ins Krankenhaus. Die Diagnose lautet Entzündung der Bauchspeicheldrüse. „Von Gewalt war nie die Rede“, sagt Inés M.
Das Jugendamt kommt zu dem Schluss, dass Yaya Kontinuität in ihrem Leben braucht und beschleunigt die Rückführung, denn die Pflegschaft soll im Januar 2013 beendet werden. „Sie haben mir gesagt, dass Kinder, wenn sie älter werden, ihre Wurzeln kennenlernen wollen“, sagt Inés M.
Schweren Herzens muss sie sich am 11.Januar im Krankenhaus für vier bis sechs Wochen von dem Mädchen verabschieden. Die Kleine soll sich erst an ihr neues Zuhause gewöhnen, bevor ihre Pflegemutter sie wieder besuchen darf. Inés M. ahnt nicht, dass es das letzte Zusammensein sein wird. Viel gesprochen habe die Dreijährige an diesem Tag nicht. „Vielleicht hat sie gefühlt, dass wir uns nicht mehr sehen werden.“
Yayas Spielsachen und Kleidung bringt Inés M. nach Mümmelmannsberg, wo Melek und Hüseyin wohnen. Die Tür wird ihr nicht aufgemacht. „Ich musste die Sachen vor der Haustür abstellen.“ Sie gibt den Eltern ein Fotobuch mit Bildern, die an Yayas ersten beiden Lebensjahre erinnern. „Ob Yaya das Buch je gesehen hat, weiß ich nicht.“
Am 28.Januar ruft das Jugendamt bei Inés M. an: Yaya sei wieder im Krankenhaus. „Mehr durften sie mir nicht sagen.“ Dass bei Yaya schwerste Schädelverletzungen festgestellt werden, erfährt sie erst von Melek Y. am Telefon. „Sie hat gesagt, dass bei ihnen nichts passiert sei und war entsetzt, dass man sie und ihren Mann wie Kriminelle behandele.“ Die Staatsanwaltschaft ermittelt, das Jugendamt entscheidet, Yaya in ein Kinderschutzhaus zu bringen.
Inés M. macht sich Vorwürfe, dass sie Schuld an Yayas Kopfverletzung haben könnte. „Ich habe einen Brief ans Jugendamt und an die Polizei geschrieben“, sagt sie. Inés M. macht eine Pause, vergräbt ihr Gesicht in den Händen. „Ich hatte so ein schlechtes Gewissen. Weil ich einige Monate vorher, als es mit der Rückführung begann, einmal die Nerven verloren hatte. Ich habe den Maxi Cosi, in dem Yaya saß, geschüttelt.“ Der Brief sei ein Plädoyer für die Eltern gewesen. „Vielleicht war dieser Brief das Todesurteil für Yaya.“
Dass die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss kommt, dass Inés M. gar nicht Schuld an der Schädelverletzung sein kann, weil ihre Schilderungen nicht zu den Verletzungen passen, habe ihr niemand gesagt. „Davon habe ich erst jetzt erfahren.“
Die Pflegemutter riet Yagmurs Eltern, sich einen Anwalt zu nehmen
Als Yaya am 6.Februar ins Kinderschutzhaus kommt, versucht Inés M. mit einer Anwältin ein Besuchsrecht zu erstreiten. Doch es wird ihr verweigert, weil nicht klar ist, wer dem Mädchen die Verletzungen zugefügt hat. Auch heute noch gibt sich Inés M. die Schuld, dass die Kleine ins Heim kam. „Ich war es, die den Eltern geraten hat, sich einen Anwalt zu nehmen, damit Yaya wieder bei ihnen leben darf“, sagt sie.
„Ich hätte alles getan, um Yagmur zu behalten“, sagt Inés M. Aber auf den Rat ihrer Anwältin, darum zu kämpfen, sei sie nicht eingegangen. „Ich hatte Angst, dass Yaya nach einem Monat dann doch wieder von mir weg muss. Ich wollte ihr doch nur das ewige Hin und Her ersparen.“ Und ihrem Sohn und sich selbst auch. „Ich dachte, ich tue das Richtige – dabei habe ich alles falsch gemacht.“
Inés M. klappert im Februar 2013 alle Kinderschutzhäuser ab, in der Hoffnung Yaya wenigstens kurz zu sehen. „Ostern wollte ich einen kleinen Korb mit Geschenken und Schokolade vorbeibringen.“ Aber auch das sei ihr verwehrt worden. Daraufhin packt sie den Osterkorb zusammen mit Dingen, die Yaya an ihre Pflegefamilie erinnern, in eine Tüte. Auf einen Zettel schreibt sie: „In Liebe und Sehnsucht“ – darunter steht der Name von Yayas Pflegebruder. Doch Melek Y. teilt ihr per SMS mit, dass ihr Mann das nicht will. „Ich fühlte mich als der Buh-Mann.“ Dennoch versucht Inés M. immer wieder per SMS Kontakt zu Yayas Mutter aufzunehmen. „Ende August 2013 hat Melek mir geschrieben, dass Yaya wieder bei ihnen sei und es ihnen gut gehe.“ Mehrfach regt Inés M. gemeinsame Treffen an – aber Melek Y. vertröstet sie immer wieder. „Aber sie hat mir häufig Handyfotos geschickt“, sagt sie und zeigt einige Bilder. „Eigentlich sieht sie auf den Fotos doch fröhlich aus. Blasser als früher, aber nicht unglücklich.“ Dass die Bilder vom dritten Geburtstag verfremdet sind und Yaya nicht so gut zu erkennen sei, habe sie gewundert. Ebenso die Nachricht von Melek Y., dass das Mädchen nicht mehr in die Kita gehe und die Betreuung durch das Jugendamt nun bald beendet sei. „Ich verstehe nicht, warum sie Yaya nach nur einem Monat vom Kindergarten abmelden konnten“, sagt Inés M.
Im November 2013 erhält Inés M. die letzte Nachricht von Melek Y. Ein Handy-Video: Yagmur, die vor dem Fernseher zu türkischer Musik tanzt, Melek Y. singt dazu. „Sie sieht nicht unglücklich aus“, sagt Inés M. „Aber vielleicht interpretiert man in solche Bilder auch das hinein, was man sehen will.“
Der 18. Dezember beginnt für Inés M. wie jeder andere Tag: Sie bringt ihren Sohn in die Kita, geht zur Arbeit. Kurz vor Feierabend liest sie Nachrichten im Internet. Als sie die Meldung von einer toten Dreijährigen in Mümmelmannsberg liest, denkt sie gleich an Yaya. „Ich bin durchgedreht, habe hysterisch beim Jugendamt angerufen.“ Die wussten von nichts. In ihrem Herzen aber habe sie gewusst, dass das tote Kind ihre Yaya ist. „Dass ich in den Wochen vorher nicht einfach hingefahren bin, um zu sehen wie es Yaya wirklich geht, werde ich mir ewig vorwerfen“, sagt Inés M. Politiker, Öffentlichkeit, Medien, alle fragen nach Verantwortlichen bei Behörden. Inés M. nicht. „Das macht Yaya nicht wieder lebendig.“